H. Franz: Zwischen Markt und Profession

Titel
Zwischen Markt und Profession. Betriebswirte in Deutschland im Spannungsfeld von Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum (1900-1945)


Autor(en)
Franz, Heike
Reihe
Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 11
Erschienen
Göttingen 1998: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
341 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ewald Hiebl, Institut für Geschichte, Universität Salzburg

Eine immer stärkere Differenzierung und Spezialisierung zeigt die Geschichte der Bürgertumsforschung, die nach ersten grossen Überblicksdarstellungen Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre nun vermehrt Detailaspekte wie einzelne bürgerliche Subgruppen zum Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses macht. Ging es zunächst um die Abgrenzung der sozialen Kategorie Bürgertum gegenüber anderen, etwa gegenüber der Arbeiterschaft - vor allem den Angestellten - und dem Adel, so dominiert nun die Analyse der Binnendifferenzierung innerhalb des Bürgertums. Diesem Trend folgt Heike Franz in ihrer Untersuchung zu den Betriebswirten in Deutschland von 1900 bis 1945.

Theoretische Grundlage der Untersuchung ist erstens das von amerikanischen Soziologen entwickelte Professionalisierungskonzept, das - wie Heike Franz selbst in der Einleitung anführt - "in Zeiten der‚ kulturalistischen Wende' antiquiert" erscheint. Deshalb versucht die Autorin, es durch eine bürgertumsgeschichtliche und wissenschaftsgeschichtliche Perspektive zu ergänzen. Damit werden auch "subjektive Faktoren" miteinbezogen wie das Selbstverständnis der Berufsgruppe, Referenzgruppen oder aber die hinter der Ausdifferenzierung der Betriebswirtschaftslehre stehenden Wissenschaftsvorstellungen. Auf soziokultureller Ebene spielen die Fragen einer "kulturellen Vergesellschaftung" des Bürgertums eine grosse Rolle.

Der Aufbau des Buches folgt diesen theoretischen Grundlinien. Zunächst wird kurz - sozusagen als Einführung in die zentralen Fragestellungen - der Wandel der Unternehmerwirtschaft von den 1880er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg skizziert: die Ausformung eines "Organisierten Kapitalismus". Kennzeichnend dafür sind Veränderungen in den Verwaltungs- und Leitungsstrukturen innerhalb der Grossbetriebe, die ihrerseits neue Qualifikationen für die Beschäftigten voraussetzen. Statt der traditionellen Eigentümer-Unternehmen entstanden neue komplexe Unternehmensformen mit einer formalisierten Leitungsstruktur, in der Angestellte nun aufgrund gestiegener fachlicher Anforderungen eine immer grössere Rolle spielen, als kaufmännische und technische Leiter oder als Generaldirektoren.

Im zweiten Teil geht die Autorin der Etablierung der Handelshochschulen als neuem kaufmännischen "Fachhochschultyp" auf den Grund. Vor dieser Institutionalisierung wurde die kaufmännische Ausbildung durch praktische Lehre und Auslandsreisen getragen. Eine ab den 1870er Jahren einsetzende "Handelshochschulbewegung" wies jedoch auf die durch verstärkte internationale Handelsbeziehungen und neue technische Entwicklungen - vor allem im Bereich des Transport- und Kommunikationswesens - bedingte Notwendigkeit einer verbesserten, institutionalisierten Ausbildung der Wirtschafts-Führungskräfte in den Handelshochschulen hin. Dagegen wandten sich die Vertreter der Universitäten, denen diese Art der Ausbildung mehr als Technik bzw. Kunstlehre denn als Wissenschaft erschien. Die Darstellung der Gründung und Entwicklung der ersten Handelshochschulen in Leipzig, Köln, Frankfurt am Main und Berlin beenden diesen Abschnitt des Buches.

Das dritte Kapitel widmet sich der "Ausdifferenzierung der Betriebswirtschaftslehre als wirtschaftswissenschaftliche Disziplin" seit den 1920er Jahren. Hier steht die Konstituierung der "Betriebswirtschaftslehre" als akademische Disziplin ebenso wie methodologische Grundsatzdebatten im Mittelpunkt. Diese Debatten drehen sich vor allem um die Gegensatzpole "Profit" versus "Wirtschaftlichkeit" und "wertfreie" versus "ethisch-normative Wissenschaft". Von besonderem Interesse ist die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre während des Nationalsozialismus, als das Fach in den Dienst der wirtschaftspolitischen Ziele der gelenkten nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik gestellt und das Rechnungswesen in den Vordergrund gerückt wurde.

Der vierte Abschnitt des Buches stellt die "Reform des kaufmännischen Studiengangs an den Handelshochschulen" in den Mittelpunkt und widmet sich der Berufspolitik der Berufsorganistaion der Handelshochschulabsolventen ("Verband Deutscher Diplom-Kaufleute", VDDK) im Kontext bürgertums- und professionalisierungsgeschichtlicher Fragestellungen. Angestrebt wurde die Gleichstellung der Handelshochschulen mit den Universitäten, damit verbunden die Anerkennung des kaufmännischen Studiengangs als vollakademische Ausbildung und das Promotionsrecht. Schon in den 1930er Jahren konnten diese Forderungen erfüllt werden, auch gegen den Widerstand in den eigenen Reihen durch die "Praktiker", die den Verlust des Praxisbezuges fürchteten.

Der fünfte und letzte Teil des Buches beschäftigt sich mit der Arbeitsmarktpolitik des VDDK, jener Frage, die - vor allem für den Bereich der Arbeitsmarktsituation - aufgrund der Quellenlage am schwierigsten zu beantworten ist. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen drei Haupt-Arbeitsmärkte für die Betriebswirte auf: die private Wirtschaft (v.a. Industrie, Grosshandel und Banken), den öffentlichen Dienst (als "Wirtschaftsbeamte") und das freiberufliche Wirtschaftstreuhand- und -beratungswesen. Gerade im Bereich der privaten Wirtschaft konkurrierten die Betriebswirte lange Zeit mit den "Praktikern" und den Ingenieuren, oder sie fanden Beschäftigung in den Buchhaltungs- und Rechnungsabteilungen der Unternehmen, die wenig Aufstiegsmöglichkeiten boten. Auch die Bemühungen, den Betriebswirten im Bereich des freiberuflichen Wirtschaftstreuhandwesens ein Monopol und damit einen ähnlichen sozialen Status wie Rechtsanwälte oder Ärzte zu sichern, scheiterte am Widerstand anderer Berufsgruppen und einer theoriefeindlich eingestellten Industrie.

Heike Franz zeigt, daß die Gründung der Handelshochschulen und die Akademisierung der betriebswirtschaftlichen Ausbildung nicht allein einem funktionalen Nutzdenken entsprangen. Mehr als die Anpassung an veränderte ökomonische Rahmenbedingungen, die eine höhere Qualifikation der wirtschaftlichen Führungskräfte verlangten, ging es um Fragen von Sozialstatus und Prestige. Durch die Akademisierung der Ausbildung versuchte das Wirtschaftsbürgertum in der "sozialen Prestigeskala" zum Bildungsbürgertum aufzuschliessen. Für Angehörige des "kleinen" und "mittleren" Bürgertums bot etwa die Ausbildung zum Handelsschullehrer die Möglichkeit sozialen Aufstiegs.

Wie sehr die Etablierung einer akademischen betriebswirtschaftlichen Ausbildung auch im wissenschaftstheoretischen Bereich mit sozialen Fragen verbunden war, verdeutlicht die Auseinandersetzung um die inhaltliche Positionierung des neuen Fachs. Von Seite der traditionellen Bildungselite kam der Vorwurf, die neue "Privatwirtschaftslehre" sei nur eine "öde Profitlehre". Die Antwort auf diesen Vorwurf war der Rückgriff auf traditionelle neuhumanistische Wissenschaftsvorstellungen. Nicht die Anwendungsorientierung stand im Mittelpunkt, sondern die Zweckfreiheit der neuen beiebswirtschaftlichen Forschung. Das stärkte zwar den Stellenwert der Betriebswirtschaft innerhalb eines noch immer traditionell orientierten Bürgertums, hemmte jedoch die Entwicklung des Faches. Anwendungsorientierte Bereiche wie Werbung oder Marketing entwickelten sich in den USA viel rascher als in Deutschland.

Die Bemühungen um eine Akademisierung der betriebswirtschaftlichen Ausbildungen wurden vor allem vom Verband Deutscher Diplom-Kaufleute forciert, den Heike Franz detailliert untersucht. Dieser Verband war ein Zusammenschluss der Absolventen der Handelhochschulen und wurde kurz nach der Jahrhundertwende gegründet. Immerhin konnte der Verein am Beginn seiner Tätigkeit fast die Hälfte aller Abgänger von Handelshochschulen gewinnen, später betrug die Mitgliederquote etwa ein Viertel aller Absolventen. Die Bemühungen um eine Verbesserung der Stellung der Handelshochschulen im Bildungswesen waren schliesslich erfolgreich. Bis 1930 wurde den Handelhochschulen sukzessive das Promotionsrecht verliehen.

Besonders interessant sind die Auswirkungen der Etablierung des Faches als akademischer Zweig auf sozialgeschichtlicher Ebene. Zunächst ging es - wie bereits erwähnt - um gesellschaftlichen Aufstieg, um die Eingliederung der Betriebswirte in das Bildungsbürgertum. Aber "nachdem der formale Aufstieg ins Bildungsbürgertum mit der Akademisierung des kaufmännischen Studiengangs erreicht war, rückten die Betriebswirte in inhaltlicher Hinsicht immer stärker von den neuhumanistischen Bildungsvorstellungen ab". Es kam zu einem tiefgreifenden Wandel im Selbstverständnis der Betriebswirte. Seit den 1930er Jahren verstanden sie sich immer stärker als wirtschaftswissenschaftliche Experten und nicht mehr nur vorrangig als Angehörige der "gebildeten Stände". Eine eigene "professionalistische" Identität ersetzte die "bildungsbürgerliche". Die zunächst angestrebte Integration ins Bildungsbürgertum wurde nun ins Gegenteil gekehrt.

Das Buch von Heike Franz zeigt, wie wichtig Detailstudien für die Bürgertumsforschung auch heute noch sind. Es zeigt sich eben, daß die Geschichte dieser sehr heterogenen sozialen Formation noch lange nicht als abgeschlossen und ausreichend behandelt ad acta gelegt werden kann. Viel zu oft sind in der modernen Forschung einfach die Ergebnisse eines zeitgenössischen Interesses am Bürgertum zur Jahrhundertwende und später rezipiert worden, ohne sie in Detailstudien wie der vorliegenden zu prüfen und zum Teil wesentlich zu revidieren. Die Wahl des Untersuchungszeitraumes erwies sich als sehr geschickt und durch den Zugang über die Professionalisierungstheorie gestärkt. Nicht die "grossen" Zäsuren wie Erster Weltkrieg oder der Übergang Monarchie-Republik wird als zeitliche Begrenzung der Forschungsarbeit gesehen, sondern Grenzen, die der inneren Logik des Untersuchungsgegenstandes entsprechen. Das sollte zwar eine Selbstverständlichkeit sein und somit kaum einer Erwähnung wert, wird aber in der Praxis der historischen Forschung doch allzu oft übersehen.

Eine weitere Stärke des Buches liegt in der gelungenen Verknüpfung qualitativer und quantitativer Methoden. In einer modernen Geschichtswissenschaft, die nach dem Subjektiven, nach Werten, Einstellungen, Verarbeitungsmechanismen und derlei sucht, werden die in Zahlen und Kategorien verborgenen strukturellen Grundvoraussetzungen häufig bewusst beiseite gelassen. Durch die Einbeziehung auch dieser "objektiven" Ebene gewinnt eine wissenschaftliche Untersuchung jedoch an Aussagekraft, auch und vor allem indem durch standardisierte Werte eine Vergleichsmöglichkeit mit anderen Forschungen gegeben ist.

Heike Franz integriert ihre Untersuchung in die deutsche Bürgertumsforschung, wobei vor allem die grundlegenden Arbeiten von Jürgen Kocka immer wieder als Ausgangs- und Anknüpfungspunkte dienen. Ergänzt werden die grossen Namen und Standardwerke der Bürgertumsforschung durch interessante Detailstudien auch aus dem anglo-amerikanischen Raum, welche die Untersuchung in einen internationalen Diskurs einbinden. Völlig ignoriert wird hingegen die nicht unentwickelte mittel- und osteuropäische Bürgertumsforschung, deren Ergebnisse mehrere Sammelbände zur Geschichte des Bürgertums in der Habsburgermonarchie gefüllt hat. Es wäre wünschenswert, wenn der Wissenstransfer diesbezüglich nicht nur von der bundesdeutschen Forschung ausginge, sondern auch wieder in diese zurückwirken würde. Jürgen Kocka hat etwa in seinem dreibändigen Sammelwerk zum "Bürgertum im 19. Jahrhundert" diesen Weg bereits beschritten und Autoren aus Mittel- und Osteuropa miteingebunden. Vielleicht könnte das auch in den Monographien und Einzelstudien verstärkt berücksichtigt werden. Diese kleine allgemeine Kritik sollte jedoch das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung nicht schmälern. Die Bürgertumsforschung wird durch Studien wie diese ungemein bereichert.

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