W. Kaiser u.a.: „Nicht durch formale Schranken gehemmt“

Cover
Titel
„Nicht durch formale Schranken gehemmt“. Die deutsche Polizei im Nationalsozialismus


Autor(en)
Kaiser, Wolf; Köhler, Thomas; Gryglewski, Elke
Reihe
Materialien für Unterricht und außerschulische politische Bildung
Anzahl Seiten
280 S., 1 DVD
Preis
€ 7,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Herbert Reinke, Bergische Universität Wuppertal / Humboldt-Universität zu Berlin

Die Polizeigeschichte scheint reif für zusammenfassende Darstellungen zu sein. Nachdem in den letzten Jahrzehnten die Geschichte der Polizei in Deutschland intensiv erforscht worden ist und Forschungslücken kleiner geworden sind, sind jetzt Überblickdarstellungen erschienen bzw. angekündigt. Eine derartige Darstellung liegt nun auch mit der von der Bundeszentrale für Politische Bildung herausgegebenen Publikation zur Geschichte der deutschen Polizei während des nationalsozialistischen Regimes vor, die auf dem Deckblatt nicht nur als Teil der Reihe „Materialien für Unterricht und außerschulische Bildung“ der Bundeszentrale firmiert, sondern auch das Logo der Deutschen Hochschule der Polizei trägt. Das verweist darauf, dass die Publikation zu den Ergebnissen eines von der Deutschen Hochschule der Polizei und anderen Institutionen durchgeführten Projektes zur Entgrenzung staatlicher Gewalt unter den Nationalsozialisten gehört. Kernstück dieses Vorhabens war eine sehr positiv aufgenommene temporäre Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin, die dort unter dem Titel „Ordnung und Vernichtung – Die Polizei im NS-Staat“ vom 1. April 2011 bis zum 31. Juli 2011 gezeigt worden ist. Zu dieser Ausstellung ist auch ein umfangreicher Ausstellungskatalog erschienen.1

Nicht nur die Benennung des Buches als Band in der Materialienreihe der Bundeszentrale, sondern auch das Logo der Deutschen Hochschule der Polizei auf dem Deckblatt soll markieren, dass die Publikation nicht vorrangig für ein wissenschaftliches Lesepublikum gedacht, sondern vor allem für Unterrichtszwecke konzipiert ist – sowohl für den schulischen Unterricht wie auch für die Ausbildung von Polizisten. Entsprechend ist das Buch aufgebaut: Auf jedes inhaltliche Kapitel folgen Materialien und didaktische Handreichungen, die zur Vermittlung der jeweiligen Inhalte im Unterricht Verwendung finden sollen. Dem Buch beigefügt ist eine DVD mit entsprechenden Materialien. Die Hauptautorin und -autoren des Bandes, Elke Gryglewski und Wolf Kaiser von der Bildungsabteilung im Haus der Wannseekonferenz in Berlin und Thomas Köhler vom Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster, stehen – zusammen mit den Institutionen, in denen Sie arbeiten – für innovative und erfolgreiche historisch-politische Bildungs- und Vermittlungsarbeit, sodass die Inhalte, zusammen mit den weiterführenden pädagogischen Handreichungen, sicherlich die Zielgruppen erreichen werden, für die die Publikation geschrieben worden ist.

Die Autorin und die Autoren des Bandes benennen in durchaus prägnanter und anschaulicher Weise die zentrale und aktive Rolle der Polizei bei der Durchführung der verbrecherischen und völkermörderischen Politik des nationalsozialistischen Regimes. Beginnend mit allgemeinen Überlegungen zur deutschen Polizei im 20. Jahrhundert wird anschließend nach der Rolle der Polizei bei der Verfolgung innenpolitischer Gegner des Nationalsozialismus gefragt. Dem folgt eine Darstellung der unter der Ermächtigung „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ vorgenommenen Ausweitung des Gegnerbegriffs durch die Polizei. Ausführlich wird die Rolle der Polizei beim Völkermord an den Sinti und Roma behandelt und die Beteiligung der Polizei an der Ermordung der europäischen Juden dargestellt. Verdienstvoll ist auch, dass die bisweilen von der Forschung unterthematisierte Beteiligung der Polizei an Verbrechen an der nichtjüdischen Zivilbevölkerung in den besetzten Ländern Europas aufgegriffen wird. Abgeschlossen wird das Buch durch ein Kapitel über die Handlungsspielräume von Polizisten im Nationalsozialismus, die durch die Biographien zweier Polizisten erschlossen werden – und durch Erörterungen über den Umgang der deutschen Polizei mit ihrer Vergangenheit. Neueren Thematisierungen der Polizeigeschichtsschreibung entsprechend ist die Darstellung der Rolle der Ordnungspolizei ausgeprägter akzentuiert, während die Darstellungen der Gestapo und Kripo eher zurückgenommen sind. Bei der Kripo ist das sicherlich dem immer noch – trotz vorliegender hervorragender Studien – zu verbessernden Forschungsstand geschuldet. Der Forschungs- und Kenntnisstand zur Gestapo hat sich in den letzten Jahren deutlich positiv verändert, mit ihren Schwerpunktsetzungen folgen die Autorin und die Autoren aber offensichtlich Trends der Forschung, die die über lange Jahre zu beobachtende Fokussierung der Forschung auf die Gestapo zugunsten von Untersuchungen der anderen Polizeien des Regimes verschoben hat.

Den inhaltlichen Ausführungen zur Rolle der Polizeien während des nationalsozialistischen Regimes ist ein kurzer Text des Polizeiwissenschaftlers Rafael Behr über Polizistenkultur und Polizeikultur vorangestellt, der eine Verbindung zwischen aktuellen Problemlagen in der Polizei und positiven Effekten historisch-politischen Lernens dort herstellen soll. Rafael Behr hat in der deutschen Polizeiwissenschaft das Konzept der ‚Cop Culture‘ popularisiert. Er stellt der ‚Cop Culture‘, das heißt dem spezifisch männlichen, gewaltaffinen Habitus von Polizisten, eine Polizeikultur gegenüber, die er als eine spezifische, Gewaltaffinität einhegende Organisationskultur der Institution ‚Polizei‘ begreift. Allerdings wird in der Darstellung nicht so richtig erkennbar, wie dieses Konzept weiterführend in das politisch-historische Lernen am Beispiel der Polizei unter dem Nationalsozialismus eingebracht werden könnte. Buchstabiert man die von Rafael Behr genannten Kriterien für diese unterschiedlichen Organisationskulturen am Beispiel der Polizei unter den Nationalsozialisten durch, so wird schnell deutlich, in welchem Maße Polizistenkultur und Polizeikultur sich unter den Nationalsozialisten überschnitten haben, und dass diese Entdifferenzierung die Gewaltentgrenzung polizeilichen Handelns im Nationalsozialismus stimulierte. Diesen Zusammenhang thematisiert Rafael Behr nicht. Vielleicht wären deshalb weitere, Behrs Zugang ergänzende Texte hilfreich gewesen, darunter auch solche, die auf den umfassenden polizeilichen Anspruch abgestellt hätten, die Ordnung der Volksgemeinschaft auf gewaltförmige Weise zu sichern und die vermeintlichen Feinde der Volksgemeinschaft zu eliminieren. Diese Monita kommen aber Petitessen nahe, die den überaus positiven Gesamteindruck der Publikation nicht wesentlich einzuschränken vermögen.

Anmerkung:
1 Deutsche Hochschule der Polizei, Münster, Florian Dierl u.a. (Hrsg.), Ordnung und Vernichtung. Die Polizei im NS-Staat, Dresden 2011.

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