: Rudolf Goldscheid. Finanzsoziologie und ethische Sozialwissenschaft. Wien 2007 : LIT Verlag, ISBN 978-3-7000-0521-6 254 S. € 29,90

: Rudolf Goldscheid: Menschenökonom und Finanzsoziologe. . Frankfurt am Main 2009 : Peter Lang/Frankfurt am Main, ISBN 978-3-631-59436-0 € 30,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Neef, Universität Leipzig

Nachdem der österreichische Privatgelehrte Rudolf Goldscheid über sechzig Jahre lang nur sporadisch oder im Kontext von Themen, die seine Biographie berührten, Interesse erregte, widmete man sich ihm in den letzten Jahren wieder verstärkt.1 Die vorliegenden Arbeiten nähern sich Goldscheid aus drei Perspektiven: Der Finanzministeriale und Autor Wolfgang Fritz unternimmt den Versuch einer umfassenden Biografie, die Soziologin Gertraude Mikl-Horke setzt sich umfassend mit Goldscheids Entwurf einer wertgeleiteten Soziologie auseinander und der Ökonom Helge Peukert widmet sich dessen Spätwerk, der Finanzsoziologie. Die beiden Letztgenannten nähern sich dabei ihrem Gegenstand nicht rein historisch-rekonstruierend, sondern tragen an ihn Fragen nach der Aktualität, Applizierbarkeit und den disziplinären Effekten eines solchen Unterfangens heran, wobei auch die historische Rekonstruktion für sich Erkenntnisse bringt: „Sein Denken stellte keineswegs das eines obskuren Außenseiters dar, sondern war eine bedeutende geistige Strömung der Zeit auch in nicht-europäischen Ländern.“ (Mikl-Horke, S. 208).

Der Rezensentin fällt die Würdigung des von Wolfgang Fritz verfassten Buchteils „Rudolf Goldscheid, der Erfinder der Finanzsoziologie, sein Leben und seine Zeit“ schwer (S. 5-85). Zwar wertet Fritz zahlreiche neue Quellen aus und erweitert dadurch die Kenntnis um die Biografie des Privatiers Goldscheid erheblich und zeichnet er ein gut zu lesendes Lebensbild, das zeitgenössische Kontexte und Mentalitäten berücksichtigt und die Person Goldscheids von verschiedenen Seiten beleuchtet. Doch streng genommen handelt es sich um eine belletristische Arbeit, denn keines der umfangreichen Quellenzitate ist belegt. Dass Peukert in seiner Studie in den biografischen Teilen auf Fritz rekurriert, ist folglich auch zumindest fragwürdig.

Gertraude Mikl-Horke hat sich bereits früher mit Rudolf Goldscheid befasst und u.a. seinen Anteil bei der Entstehung der deutschsprachigen Soziologie im Kontrast zu Max Weber erforscht.2 Ihr Beitrag zum vorliegenden Band widmet sich diesem Thema noch einmal ausführlich: Es werden Verbindungen wie auch Unterschiede und Brüche zu zeitgenössischen Soziologen rekonstruiert. Dabei werden die großen Namen der kanonisierten Soziologen erwähnt, doch geht die Autorin auch auf die reiche und im deutschen Raum teilweise wenig rezipierte Tradition der österreichisch-ungarischen Soziologen ein. Goldscheid stand mit seinen Ideen nicht allein; er fand sich nicht einer Schar europäischer Klassiker gegenübergestellt, die Soziologie anders verstanden als er. Vielmehr war er Teil eines Diskurses über die Frage nach der Ethik (sozial-)wissenschaftlicher Praxis. Das zeigt auch die diachrone Rekonstruktion von Goldscheids Positionen (S. 117-176), wobei ethische Fragen ein Movens der Arbeit des Wiener Privatgelehrten waren, die sich in seinen späteren menschenökonomischen und finanzsoziologischen Schriften (und in den vielen politisch oder aktionistisch motivierten Texten ohnehin) durchgängig wiederfinden lassen.

Vor dem Hintergrund der facettenreichen Debatte über den Gegenstandbereich und das Vorgehen der Soziologie wird im letzten Teil eine Würdigung Goldscheids entlang folgender Fragen versucht: Welchen Platz nimmt die von ihm geforderte ethische, „menschenökonomische“ Sozialwissenschaft in den zeitgenössischen Debatten um Methoden, Werturteilsfreiheit und die Akademisierung der deutschsprachigen Soziologie ein? Wie steht es um die Gegenwartsrelevanz Goldscheid‘scher Soziologie? Die Verfasserin eröffnet hier einen Jahrhundertbogen, der das Erscheinen einer soziologischen „scientia militans“ (S. 223) um 1900 und ihr Verschwinden im 20. Jahrhundert deutet und auf die gesellschaftlichen Kontexte der aktuellen Goldscheid-Urständ verweist. Nicht nur das Unbehagen an der politisch-gesellschaftlichen legitimierenden Kraft der wertneutralen akademischen Soziologie und an den Entwicklungen des Neoliberalismus, auch die multiplen Krisennarrative der Gegenwart ließen „wieder Erinnerungen wach [werden] an Ideen, wie sie in der Umbruchszeit zur Hochindustrialisierung aufgekommen und auf Probleme des raschen Wandels“ (S. 214) bezogen gewesen seien, und wie sie auch nur in solchen Phasen maßgeblich an Plausibilität gewinnen können. Die Frage der Wertabstinenz der Soziologie und damit die faktische Anerkennung des gesellschaftlichen Status Quo sind bekanntlich virulent und durch Aufrufe zum bürgerschaftlichen Engagement immer wieder diskutiert.

Die Finanzsoziologie Goldscheids ist zwar weniger stark vergessen worden, u.a. wurden seine Arbeiten von Rudolf Hickel und der US-amerikanischen Finanzsoziologie rezipiert. Doch strahlt die Spezialdisziplin wenig aus, noch weniger in die Disziplingeschichte. Jedenfalls führte der bescheidene Rezeptionsfaden zu einer Wiederentdeckung. Peukert gelingt es, in seiner Arbeit neben der biografischen Rahmung und der Theorieanalyse auch Gegenwartsbezüge herzustellen und damit Goldscheids Überlegungen zu aktualisieren oder zumindest Anschlussstellen für rezente sozialwissenschaftliche Modelle aufzuzeigen (S. 39f.). Das geschieht in Verweis auf die Debatten der Neuen Politischen Ökonomie und des Public Choice-Ansatzes. Der Zusammenhang zwischen der Wiederentdeckung der Goldscheidschen Finanzsoziologie und den von Mikl-Horke betonten gesellschaftlichen sowie wissenschaftlichen Entwicklungen bis in die Gegenwart liegt auf der Hand, so dass der Verfasser sogar den Versuch unternimmt, die jüngste Finanzkrise mit den Goldscheidschen Termini zu interpretieren, und ganz in dessen Sinne mit Kritik an den beteiligten Akteuren nicht spart. Bemerkenswert bei dieser anregenden Aktualisierung ist der Nexus von Krise und Krieg, der in der US-amerikanischen Situation bedeutsam ist – übrigens entgegen allen bisherigen Einschätzungen, die Goldscheids Fokussierung auf den Krieg als Handlungsauslöser als zeitgebunden und überwunden abgelehnt hatten (der Staat als „Wehr- und Finanzgemeinschaft“, S. 105). Zwar greift – wie Peukert an den entsprechenden Stellen einräumt – die Goldscheidsche Theorie als Interpretationsfolie rezenter Geschehnisse mitunter zu kurz (oder zu weit), doch ermöglicht sie kritische makrosoziologische Einsichten in die Finanzkrise sowie staatliches Agieren und Reagieren. Ob sich die Goldscheidschen Theoreme dafür besonders eignen oder im Kontext von ausgesprochen „statisch-konservative[n] Wissenschaften ohne unmittelbare Gestaltungsabsicht“ (S. 114) zunächst einmal ein kritisch Interpretationsvokabular darstellen, mag dahingestellt bleiben.

Anmerkungen:
1 Zu nennen wären hier besonders Mitchell G. Ash / Christian Stifter (Hrsg.), Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Von der Wiener Moderne bis zur Gegenwart, Wien 2002; Georg Witrisal, Der 'Soziallamarckismus' Rudolf Goldscheids. Ein milieutheoretischer Denker zwischen humanitärem Engagement und Sozialdarwinismus, Diplomarbeit, Univ. Graz 2004 (online unter www.witrisal.at/goldscheid/rudolf_goldscheids_soziallamarckismus.pdf). Hinzukommt eine Reihe von Artikeln, die bestimmte Aspekte von Goldscheids vielfältigem Wirken genauer betrachten.
2 Gertraude Mikl-Horke, Max Weber und Rudolf Goldscheid. Kontrahenten in der Wendezeit der Soziologie, in: Sociologia Internationalis 42 (2004), S. 265-286.

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