M. Konrad u.a. (Hrsg.): Römische Legionslager

Cover
Titel
Römische Legionslager in den Rhein- und Donauprovinzen. Nuclei spätantik-frühmittelalterlichen Lebens?


Herausgeber
Konrad, Michaela; Witschel, Christian
Reihe
Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse N.F. 138
Erschienen
München 2011: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
VI, 666 S.
Preis
€ 224,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marietta Horster, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Der Band vereint in vorbildlicher Weise zum einen eine Einleitung der Herausgeber zu spätantiken Legionslagern in den Rhein- und Donauprovinzen mit Handbuchcharakter, zum anderen eine Reihe althistorischer Beiträge, die vor allem Probleme der literarischen (und geringen epigraphischen) Überlieferung und deren Einordnung in die komplexen und methodisch schwierigen archäologischen Befunde thematisieren, sowie schließlich eine Vielzahl von Aufsätzen, die die bauliche Struktur, die Nutzung und die demographische Entwicklung in einzelnen Legionslagern oder größeren Regionen mit mehreren Lagern thematisieren. Der zeitliche Rahmen ist spannend: die Transformationsprozesse seit dem Ende des 3. Jahrhunderts, die Heeresreformen, die neue Provinzordnung und die Trennung ziviler und militärischer Kommanden, die mit Konstantin zunehmende Ausbreitung des Christentums, Bürgerkriege und Germaneneinfälle des 4. Jahrhunderts, die verlustreiche Niederlage der Römer gegen die Westgoten bei Adrianopel im Jahr 378, der Rheinübergang der Vandalen und anderer Gruppen 406/07, Odoakers Kampf um Italien und Rom in den 480er-Jahren, die Verträge Ostroms mit den Hunnen, die Auseinandersetzungen mit den Awaren, aber auch die tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen der Rahmenbedingungen von Gesellschaft und Politikgestaltung in der Spätantike – um nur einige der bekannten Ereignisse und Phänomene zu nennen.

Der Titel des Bandes gibt im Wesentlichen die behandelten Themen vor, auch wenn insgesamt die Zeit ab dem 7. Jahrhundert in den meisten Fällen eher am Rande bzw. lediglich kurz am Ende eines Beitrags erwähnt wird; eine Ausnahme bilden die Aufsätze mit mittelalterlichen Schwerpunkten von Wilhelm Störmer und Roman Igl. Dafür wird in vielen Beiträgen knapp die kaiserzeitliche Entwicklung des Lagers oder der daneben liegenden Stadt als Grundlage der spätantiken Strukturen aufgezeigt. Gegliedert ist der Band in die schon genannte gewichtige Einleitung durch Michaela Konrad und Christian Witschel, gefolgt von „Übergreifenden Studien“ und dem Hauptteil mit Beiträgen, die nach spätantiken Provinzen gruppiert sind: Germania II, Germania I und Maxima Sequanorum, Raetia II und Noricum Ripense sowie Pannonia I und Valeria. Wegen des Umfangs des Sammelbandes und des üppigen Ertrags im Detail werden im Folgenden nur wenige Erträge vorgestellt.

Einen guten Einstieg mittels eines Überblicksartikels zur Wissenschaftsgeschichte über die Frage nach dem Niedergang römischer Herrschaft in diesem Raum (und darüber hinaus) bietet Walter Pohl, wenn auch sicher nicht alle Kollegen seine Sichtweise teilen, dass beispielsweise im Frankenreich und anderswo die spätantike Infrastruktur inklusive der Bischöfe die Basis für neue Herrschaften bildete und nur die christlichen Gruppen zentrale Herrschaften durchsetzen konnten, während dies den Steppenvölkern der Hunnen, Awaren oder Bulgaren nicht gelang. Die folgenden beiden komplementären Beiträge von Karlheinz Dietz und Hans Ulrich Nuber bieten für die schriftlichen Zeugnisse zur militärischen Präsenz in der gesamten Region und zur militärischen Architektur am Rhein jeweils einen Einblick in die Forschung der letzten Jahrzehnte. Das Fazit der Einleitung fasst wesentliche Ergebnisse zusammen: Einige kaiserzeitliche Lager erleben im 3. oder 4. Jahrhundert einen Umbau – oft verkleinert und mit verstärkter Befestigung werden sie den geringeren Truppenstärken angepasst; ein Teil wird auch zur Siedlung von Zivilisten oder Anlage von Werkstätten genutzt. Ein Innenausbau mit Heizungen im frühen 4. Jahrhundert scheint den Lebensstandard zu erhöhen; gleichzeitige oder kurz danach beginnende Überbauung von Straßen und Wegen zeigt aber deutlich den Rückgang an Infrastruktur als wichtige Basis für Produktion und Konsum. Die umliegenden Lagersiedlungen (canabae) oder auch Städte werden zum Teil im Verlauf des 4. und 5. Jahrhunderts aufgegeben. Legionslagerentwicklung und Siedlungsentwicklung gehen trotz unmittelbarer Nähe nicht immer Hand in Hand, auch sind Verschiebungen der Siedlungsschwerpunkte, keineswegs immer in Richtung befestigtes Lager, häufiger nachweisbar.

Allerdings wird es ab dem 5. Jahrhundert schwieriger, Siedlungsdichte und Verlagerung von Siedlungen nachzuweisen, da die Bebauung zunehmend auf Pfostenbauten statt Steinbauten basiert (zum Beispiel „schwarze Erde“ im Umland von Köln). Selbst ehemals gut befestigte Lager werden in einigen Fällen erst nach einer Siedlungspause wieder genutzt (so etwa in Regensburg). Der Kontinuitätsbruch ist in einigen Regionen (dramatisch in Ungarn) im späten 5. und 6. Jahrhundert deutlicher als in anderen wie beispielsweise Süddeutschland, und nicht alle römischen Legionslager sind in der Folge weiterbesiedelt (so Carnuntum) oder erst nach einer mehr oder weniger langen Lücke neu besiedelt worden (zum Beispiel Mautern oder Lorch); teilweise verlagert sich das Siedlungszentrum (so von Castrum Rauracense nach Basel oder innerhalb von Xanten, Bonn und Mainz). Dem gegenüber stehen mehr oder weniger kontinuierliche Siedlungen im Bereich von Lagern wie Bonn oder Aquincum. Die Ruralisierung von Lagern und Siedlungen sowie die Weiterbesiedlung des ländlichen Raums im Umfeld der Lager werden darüber hinaus in einigen wenigen Beiträgen thematisiert (so von Bernd Päffgen und Peter-Andrew Schwarz).

Aber nicht nur wegen der unterschiedlichen regionalen Entwicklungen im Detail bietet der Band kein einheitliches Bild. Es sind vor allem auch die Standards im Umgang mit der Interpretation von Texten und Befunden, die recht unterschiedlich ausfallen. Fulminant ist die Invektive gegen eine ‚zirkuläre‘ Verknüpfung von althistorischen Interpretationen und archäologischen Befunden (Michael Kulikowski); arbeiten die einen mit neuen Methoden und Vokabular, sind andere sehr konservativ in Ansatz und Ausdruck (so etwa Karlheinz Dietz und Walter Pohl). Beispiele für unterschiedliche Arten des Zugriffs sind besonders deutlich im Bereich der Methodik der ‚ethnischen‘ Zuordnung von Fibeln, Waffen und Keramik. Sie zu problematisieren ist für Michael Kulikowski und Volker Bierbrauer (von der sogenannten Alatheus-Safrax-Gruppe bleibt nichts übrig) zentral, andere dagegen nutzen weiterhin selbstverständlich die ethnischen Kategorien zur Beschreibung und Einordnung des Materials (zum Beispiel Tivadar Vida über Gräber ‚römischer Amtsträger‘). Aber auch die ‚romanische‘ Bevölkerung ist methodisch nicht einheitlich identifiziert: so für Teile Pannoniens durch ‚mediterrane‘ Ernährung (Orsolya Heinrich-Tamáska), häufiger aber durch die Grabpraxis (etwa bei Marcus Trier für Köln und Ulrike Müssemeier für Bonn).

Methodisch schwierig ist auch die Quantifizierung und damit verbundene Aussagen – etwa über die Identifizierung des Personenstatus als zivil bzw. militärisch (Gertrud Kuhnle), über den Grad der Christianisierung (Rajko Bratož, Ulrike Müssemeier und Peter-Andrew Schwarz) oder über den Wert und die Aussagekraft der Notitia Dignitatum und der Ziegelstempel über die Anwesenheit von Truppen und die Zusammengehörigkeit von Militärzonen (Karlheinz Dietz, Hans Ulrich Nuber, Peter-Andrew Schwarz, Martin Mosser) – sowie die Auswertung von Münzbefunden, wie etwa ein Säulendiagramm für insgesamt 14 Münzen (László Bohry); überzeugender dagegen fällt die problematisierte Argumentation mit Fundmünzen und die Datierung aufgrund von Schlussmünzen bei Christian Gugl aus. Einige der Autoren argumentieren beim Ende einer Siedlungsnutzung mit der Anlage von Gräbern in der Siedlung, während andere bei einem solchen Befund in der Interpretation zurückhaltender sind. Diese Vielfalt hat ihren Platz gefunden und wird auch benötigt, um dem Phänomen der unterschiedlichen Entwicklungen in den ehemaligen römischen Nordwest- und Donauprovinzen immer mehr auf die Spur zu kommen.

Das Warten hat sich also gelohnt: nach einem Kolloquium im März 2007 wurde der Band erst Ende 2011 vorgelegt; vielleicht hätte der oder die ein(e) oder andere inzwischen weniges revidiert oder ergänzt, aber bei dieser methodisch schwierigen Materie ist die Grundproblematik nicht durch die Addition von Einzelbeispielen zu klären. Zahlreiche Zeichnungen, Kartierungen, Überblicks- und Detailkarten, viele hervorragende Fotos und Abbildungen in Farbe und schwarz-weiß machen diesen Band in mehr als einer Hinsicht zu einem gewichtigen Werk.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension