C. Heinrichs (Hrsg.): Eine – reine – keine Stadtgesellschaft

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Titel
Eine – keine – reine Stadtgesellschaft. Oberhausen im Nationalsozialismus 1933 bis 1945


Herausgeber
Heinrichs, Clemens; Gedenkhalle Oberhausen
Erschienen
Oberhausen 2012: Karl Maria Laufen
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heidi Behrens, Bildungswerk der Humanistischen Union NRW, Essen

Die Stadt Oberhausen, gegründet 1862, gilt einerseits als „verspätet“ (Heinz Reif), andererseits war sie Vorreiterin in Sachen Erinnerungskultur. Die dortige „Gedenkhalle“ gehört zu den frühen Orten der bundesdeutschen Beschäftigung mit den Jahren 1933 bis 1945.1 Denn schon 1962, den Anlass gab das Stadtjubiläum, wurde auf Betreiben der sozialdemokratischen Bürgermeisterin Luise Albertz in einem Flügel des Oberhausener Schlosses eine Stätte geschaffen, die die Opfer des Nationalsozialismus würdigte und – seinerzeit nicht anstößig – die Leidenserfahrungen durch Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung einbezog. Neubürger aus dem oberschlesischen Königshütte erhielten sogar einen eigenen Gedenkraum. Das Mahnmal „Die Trauernde“ im Außenbereich unterstrich die Homogenisierung unterschiedlicher Opfergruppen. Lange vor der Etablierung von NS-Gedenkstätten in anderen Großstädten Nordrhein-Westfalens (zum Beispiel Essen 1980; Köln 1981)2 entstand hier ein sozusagen ‚integriertes‘ und insofern einmaliges Gedenkensemble, das bis in die 1980er-Jahre hinein wenig Veränderung erfuhr.

Seit 1988 wurde dort eine überarbeitete, antikapitalistisch grundierte, die Widerständigkeit von Kommunisten und Sozialisten hervorhebende Ausstellung gezeigt („Widerstand und Verfolgung in Oberhausen 1933–1945“). Sie spiegelte ein seinerzeit alternatives, von Verbänden politisch Verfolgter, aber auch von einer jüngeren Historikergeneration bestimmtes Geschichtsbild wider. Darin hatten viele „vergessene“ Opfer des Nationalsozialismus noch keinen Platz, und die Shoa blieb ein abstraktes Thema. Den Raum „Königshütte“ gab es Ende der 1980er-Jahre in der Gedenkhalle nicht mehr, gleichwohl wurde an die bei Luftangriffen Umgekommenen weiter erinnert.

Die Zustimmung zu diesem Konzept bröckelte nach der Jahrtausendwende, und am Ende eines mehrjährigen, fachlich begleiteten Recherche- und Denkprozesses gestaltete das Architektenbüro HG Merz eine neue Dauerausstellung. Auf 200 Quadratmetern ist seit dem Jahr 2010 die Zeit von 1933 bis in die erste Nachkriegsphase „exemplarisch verdichtet“ (S. 371) dargestellt. Einen zweiten Schwerpunkt bildet das nirgendwo sonst in NRW so prominent präsentierte Thema Zwangsarbeit: An sechs Medienstationen kommen darin ehemalige Zwangsarbeiter/innen als Experten ihrer Lebensgeschichte und der damaligen Arbeitsbedingungen ausführlich zu Wort. Den dritten Teil der Ausstellung nimmt die Geschichte der Oberhausener Erinnerungskultur ein; unter anderem erwartet Besucher ein dekonstruierender Umgang mit der Skulptur „Die Trauernde“. – Die Thematik „Bombenkrieg“ hat ihren Ort seit mehr als zehn Jahren im „Bunkermuseum“, einem ehemaligen Hochbunker in Oberhausen-Ost.

Das nun vorliegende „Katalogbuch“ knüpft an das 150jährige Stadtjubiläum und das 50jährige Bestehen der Gedenkhalle an. Ausgewiesene, zumeist nordrhein-westfälische Autor/innen haben daran mitgearbeitet. Es vereine, so der Herausgeber Clemens Heinrichs, Leiter der Gedenkhalle und des Bunkermuseums, die Qualität eines Katalogs mit der eines historischen Sachbuchs, ergänze die räumlich beengte Ausstellung und erweitere ihre Themenperspektiven (S. 13). Achtzehn grundlegende Aufsätze und eine Vielzahl von Kurztexten zu biographischen Zeugnissen und schriftlichen Quellen sollen eine vertiefte Beschäftigung mit wichtigen Aspekten der Stadtgeschichte ermöglichen. Dabei wird vor allem dem wortspielerischen Titel folgend die heterogene Oberhausener Bevölkerung beleuchtet, das heißt die im März 1933 noch knapp mehrheitlich dem Zentrum verbundenen Wähler, die NS-Sympathisanten, die Ausgegrenzten, die resistenten und oppositionellen Milieus in den Arbeitervierteln. Nach Geleitworten von Stadtoberhaupt und Unterstützern des Buchprojekts befassen sich fünf Kapitel mit den recht weit ausgelegten Komplexen „Volksgemeinschaft“ und Ausgrenzung; Zwischen Anpassung und Widerstand; Militarisierung der Gesellschaft; Verfolgung und Völkermord; Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg. Fast durchweg wird das (Verhaltens-)Spektrum von Tätern, Funktionsträgern und involvierten Berufsgruppen entfaltet, dazu gehören Verwaltungsangestellte, Mediziner, Unternehmer. Diesen werden die eingeschränkten Handlungsspielräume politischer Gegner und aus ‚rassischen‘ oder anderen Gründen Verfolgten gegenübergestellt; die Schicksale der von „Rassenhygiene“ Betroffenen sind einbezogen. Dass es aktiven Widerstand gegeben hat, wenngleich ohne die Wirkung einer „breiten Volksopposition“ (S. 110), zeigt der Beitrag von Thomas Urban.

Die abgründige Praxis der Denunziation beschreibt Katrin Dönges; sie wertet sie als Machtinstrument einfacher „Volksgenossen“. Denunziert wurden auch Geistliche beider christlicher Kirchen. Inwiefern das eher politikferne Milieu der katholischen Priester ins Visier der Gestapo geriet, hat Stefan Kraus für Oberhausen erforscht. Daniel Schmidt zeichnet die schrittweise Militarisierung und spätere Brutalisierung von Schutzpolizisten nach, aus deren Reihen etliche den berüchtigten Reserve-Polizeibataillonen angehört haben. Umstände und Abläufe der Deportationen Oberhausener Jüdinnen und Juden in die Ghettos und Vernichtungslager – ihre wirtschaftliche Existenz war bereits mit Hilfe der Stadtverwaltung zerstört worden – hat Hildegard Jakobs umfassend recherchiert, während Karola Fings Forschungsergebnisse zur Verfolgung der Sinti und Roma vorlegt; sie beklagt die noch immer verkannte Dimension dieses Verbrechens. Hans-Christoph Seidel vergegenwärtigt den „Russeneinsatz“, unter anderem die lebensentscheidende Ernährungssituation von osteuropäischen Zivilarbeitskräften und sowjetischen Kriegsgefangenen im Ruhrbergbau. Am Beispiel der Gutehoffnungshütte (deren Manager der NSDAP nicht angehörten) führt Johannes Bähr die ‚Normalität‘ der erniedrigenden Behandlung von Zwangsarbeitern vor Augen, und Jens Adamski widmet sich dem verbotenen, jedoch von einigen Oberhausenern aus Mitgefühl, aus Sympathie oder bestimmter Vorteile wegen gesuchten Kontakt zu Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen.

Bemerkenswert erscheint, dass neben einzelnen Lebensläufen Kollektivbiographien wie die der Homosexuellen über die „Stunde Null“ hinaus fortgeschrieben werden (so im Beitrag von Rainer Hoffschildt). Der Band nimmt eine im öffentlichen Diskurs zunehmende Beachtung der Nachgeschichte des Nationalsozialismus auf und lässt an dieser und jener Stelle Spruchkammerverfahren, Prozesse sowie fortgesetzte Karrieren NS-Belasteter nicht aus. Im Kapitel „Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg“ findet sich, anders als in der Ausstellung, eine lediglich resümierende Nachkriegsperspektive auf die ins Ruhrgebiet verschleppten Männer und Frauen, das heißt auf ihre Befreiung und „Repatriierung“. Daher bleibt auch der Gesichtspunkt der lang verzögerten oder bis heute verweigerten Entschädigungszahlungen unterbelichtet.

Das sechste Kapitel erörtert in (sich etwas überschneidenden und in Details widersprüchlichen) Beiträgen von Alfons Kenkmann und Michael Sturm das wechselvolle Erinnern und Gedenken nicht allein in Oberhausen. In die Entstehung und Didaktik der neuen Dauerausstellung führt der Herausgeber ein, und der Band schließt mit der Eröffnungsrede des Leiters der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (und Moderators im Umgestaltungsprozess), Günter Morsch, unter anderem zur Wahl des Schwerpunktes Zwangsarbeit und zu gewandelten Funktionen von Gedenkstätten.

Die Historisierung der Erinnerungskultur dieser Ruhrgebietsstadt gehört zu den Stärken des Bandes. Erkennen lässt sich hier eine spezifische Geschichtspolitik „von oben“, aber darüber hinaus weitere, für die Stadt ebenso charakteristische Phänomene: rührige lokale Netzwerke (VHS-Geschichtswerkstatt, VVN, Initiativen, Parteienvertreter…), langlebige Deutungskonkurrenzen, das fraktionsübergreifende Engagement von Zeitgenossen und Überlebenden. Die Veröffentlichung belegt die seit den 1990er-Jahren ‚modernisierte‘ Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, der es um selbstständiges, fragendes Annähern geht; Jugendliche und Erwachsene sollen nicht mehr belehrt werden (vgl. S. 13; 377f.). Schließlich weckt das Katalogbuch durch seine benutzerfreundliche Gestaltung sowie die Qualität der zahlreich eingebundenen schwarz-weiß Fotos und Dokumente Interesse für die Entwicklung der Stadt seit dem Ende der Weimarer Republik, aber auch für den Ort, die ungewöhnliche Gedenkhalle im Oberhausener Schloss.

Anmerkungen:
1 Die 1950 eingerichtete NS-Gedenkstätte Ladelund in Schleswig-Holstein nimmt für sich in Anspruch, die älteste der Bundesrepublik zu sein. Berlin-Plötzensee, die frühere Haft- und Hinrichtungsstätte, besteht seit 1952 als Gedenkort, und des Widerstands vom 20. Juli 1944 wird seit 1953 im Innenhof des Bendlerblocks in Berlin-Tiergarten gedacht (heute gehören beide Orte zur Gedenkstätte Deutscher Widerstand). – „Gedenkstätten“ werden allerdings sehr unterschiedlich definiert. Die Bezeichnung ist weit davon entfernt, ein Terminus zu sein.
2 Zur nordrhein-westfälischen Erinnerungskultur siehe beispielsweise: Alfons Kenkmann, Fokussierung oder Vielfalt? Aktuelle Diskussionen um die Struktur der NS-Gedenkstätten – Berlin und Nordrhein-Westfalen im Vergleich, in: Katrin Hammerstein u.a. (Hrsg.), Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 59–69; LOTTA (Hrsg.), Wege des Gedenkens. Erinnerungsorte an den Nationalsozialismus in Nordrhein-Westfalen, Oberhausen 2011; Kirsten John-Stucke, Dezentralität und Vielfalt. Erinnerungskultur in Nordrhein-Westfalen, in: GedenkstättenRundbrief Nr. 166, 6 (2012), S. 9–15.

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