B. Wassenberg: Histoire du Conseil de l'Europe (1949-2009)

Cover
Titel
Histoire du Conseil de l'Europe (1949–2009).


Autor(en)
Wassenberg, Birte
Erschienen
Anzahl Seiten
643 S.
Preis
€ 63,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Lappenküper, Otto-von-Bismarck-Stiftung

In dem in seiner Vielzahl bisweilen verwirrenden Gesamtgeflecht von Institutionen, die der europäischen Einigung verpflichtet sind, kommt dem Europarat zweifellos eine Position sui generis zu. In der öffentlichen Wahrnehmung und der geschichtswissenschaftlichen Forschung steht die Straßburger Organisation hingegen tief im Schatten der Europäischen Union bzw. deren Vorläufer, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der Europäischen Wirtschafts- und Atomgemeinschaft. Es ist daher höchst erfreulich, dass 60 Jahre nach seiner Gründung endlich eine erste Gesamtdarstellung der ältesten aller nach 1945 geschaffenen europäischen Organisationen vorliegt. Abgesehen vom Fundamentalziel, dem Europarat historiographisch den ihm gebührenden Platz einzuräumen, geht es der Verfasserin Birte Wassenberg vornehmlich darum, seine Leistungen und Fehlleistungen zu untersuchen sowie „une nouvelle clé d'analyse“ zur Entwicklung der EU zu liefern (S. 34). Auf der Basis umfangreicher Archivstudien analysiert die habilitierte maître de conférences an der Universität Straßburg die Geschichte des Europarats an der Zeitschiene entlang in drei mächtigen Kapiteln, deren Eckdaten die großen Zäsuren seines Wirkens markieren: die von „ambitions multiples“ (S. 35) erfüllte Phase zwischen der Haager Konferenz 1948 und dem Haager EWG-Gipfel 1969, die von einer „perte de vitesse“ (S. 215) gezeichnete Ära bis zum Berliner Mauerfall 1989 und die paneuropäische Periode nach der Beseitigung des Eisernen Vorhangs 1990/91.

Wenngleich Wassenberg keinen Zweifel daran lässt, dass der entscheidende Anstoß zur Schaffung des Europarates am 5. Mai 1949 von Churchills Züricher Rede 1946 ausging, sieht sie Architektur und Funktionsweise des Straßburger Palais de l'Europe als das „résultat d'un compromis“ (S. 25) zwischen der britischen Vorstellung eines intergouvernementalen europäischen Zusammenschlusses und der vornehmlich französischen und italienischen Vision von einem europäischen Bundesstaat.1 In einer gewissen Fortsetzung zu diesem zäh errungenen Kompromiss entwickelten sich die ersten Jahre nach der Gründung zu einem Wechselbad von „grands espoirs“ und „grandes déceptions“ (S. 126). Zerstob der Traum vom Bundesstaat an der organisatorischen Grundstruktur, kollidierte die „vocation paneuropéenne“ (S. 70) mit dem Ost-West-Konflikt. Da die Organisation an der Ill seit der Unterzeichnung der Europäischen Konvention 1950 den Respekt der Menschenrechte und die Anerkennung demokratischer Grundwerte als Preis für den Beitritt erhob, blieb sie „un club de démocraties occidentales“ (S. 76f.).

Mit der Gründung der Montanunion sah sich der Europarat einer zweiten Teilung Europas gegenüber: der zwischen dem Kleineuropa der Sechsergemeinschaft und dem Großeuropa der Fünfzehn. Da ihm die nunmehr angestrebte „fonction charnière“ versagt blieb (S. 84), hatte er sich mit der Funktion einer „tribune de discussion générale de la politique européenne“ zu begnügen (S. 127). Um seiner Tätigkeit neue Legitimität zu verleihen, suchte er sich nach der Bildung der Europäischen Wirtschafts- und Atomgemeinschaft 1957 neue Themenbereiche und schuf mit einer Reihe bedeutsamer Konventionen im rechtlichen, sozialen und ökonomischen Bereich „un premier pas vers la mise en place d'un cadre juridique européen multilatéral“ (S. 127).

Obwohl der Kreis der Mitglieder stetig wuchs, gestaltete sich seine Lage nach der Schaffung der EFTA und insbesondere wegen der genuin politischen Ambitionen der EWG in den 1960er-Jahren zunehmend schwieriger. Wenn es ihm weder gelang, als „chef d'orchestre de la construction européenne“ (S. 168) aufzutreten, noch als „point de rencontre“ zwischen EWG und EFTA (S. 212) zu fungieren, hing dies freilich auch mit der Unfähigkeit der Beratenden Versammlung zur Eintracht zusammen und dem Unwillen des Ministerkomitees, den Empfehlungen der Versammlung zu folgen.

Die „relance européenne“ der EWG nach dem Haager Gipfel vom Dezember 1969 sollte das „âge d'or“ des Europarats (S. 213) unwiderruflich beenden. Zwar erzielte er auch dank gestraffer Projektplanung in der nun beginnenden Phase der „transition“ (S. 303) einige bemerkenswerte Erfolge im Bereich von Bildung und Erziehung, Naturschutz und Stadtplanung, beim Schutz der Menschenrechte und der Abwehr von Kriminalität und Terrorismus. Die Hoffnung auf eine Überwindung der „crise d'identité“ (S. 386) erfüllte sich jedoch ebenso wenig wie die auf eine maßgebliche Rolle in der Entspannungspolitik. Nicht der Europarat, sondern die EWG bestimmte von westeuropäischer Seite den KSZE-Prozess der 1970er-Jahre.

Erst die Erhebung zur „maison commune européenne“ (S. 304) durch Michail Gorbatschow 1989 eröffnete dem Europarat die Chance, jene paneuropäische Rolle auszufüllen, die er seit seiner Gründung anvisiert hatte. Doch nach einer spektakulären Erweiterungsrunde auf nunmehr 47 Mitglieder sah sich die Straßburger Institution erneut innerer Krisen und einer sich verschärfenden Konkurrenz zur Europäischen Union ausgesetzt. Kaum überraschend, weist Wassenbergs Bilanz des ersten Jahrzehnts nach der Jahrtausendwende sowohl Licht als auch Schatten auf. Nicht schwarz oder weiß, sondern in einer Melange von Grautönen fällt auch ihr Gesamtfazit aus, was sie mit guten Gründen auf zwei Grundschwächen und ebensoviele Trümpfe zurückführt, die der Europarat seit seiner Gründung besitzt: zum einen die Beschränkung seiner politischen Macht und eine „marginalisation progressive“ durch EGKS, EWG und EU (S. 588); zum anderen eine „capacité à incarner et à défendre les valeurs fondamentales“ sowie die Verkörperung der „grande Europe“ (S. 590). Auch für die Zukunft testiert Wassenberg dem Europarat erhebliche Wirkmöglichkeiten, sei es durch seine Mitwirkung an der „sécurité démocratique“ auf dem Kontinent, sei es als Bindeglied im Dreieck USA-Europa-Russland oder als „porte-parole d'un modèle européen d'interprétation et d'application des droits de l'homme“ (S. 592). Ob das allerdings ausreicht, sich im Wettbewerb der europäischen Institutionen zu behaupten, muss sich erst noch zeigen. Welchen Platz der Europarat in der europäischen Architektur des 21. Jahrhunderts einnehmen wird, bleibt abzuwarten.

Anmerkung:
1 An anderer Stelle bezeichnet Wassenberg das Statut des Europarats hingegen als Kompromiss zwischen „la vision britannique d'une Europe intergouvernementale et celle, plus fédéraliste et majoritairement franco-belge, soutenue par le Mouvement européen“ (S. 52).

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