A. Wiegeshoff: „Wir müssen alle etwas umlernen“

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Titel
„Wir müssen alle etwas umlernen“. Zur Internationalisierung des Auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik Deutschland (1945/51–1969)


Autor(en)
Wiegeshoff, Andrea
Erschienen
Göttingen 2013: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
477 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kordula Kühlem, Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin

Als Desiderat kann die Erforschung des Auswärtigen Amtes nicht mehr bezeichnet werden – spätestens seit der Veröffentlichung des Bandes „Das Amt und die Vergangenheit“1, der folgenden, lebhaften Forschungsdiskussion2 und schließlich den im Anschluss herausgebrachten Abhandlungen von Mitarbeitern der Historikerkommission. Zu diesen gehörte auch Andrea Wiegeshoff, die damit auf Arbeiten im Rahmen der Gesamtdarstellung zurückgreifen kann.

Für ihre Studie und die zugrundeliegende Dissertation ist es ihr jedoch gelungen, einen neuen Ansatz zu finden. Denn damit legt sie – endlich, ist man versucht zu sagen – eine Arbeit über das bundesdeutsche Außenministerium vor, die weniger die Vergangenheit im Blick hat als „vielmehr die Frage, wie es unter diesen Voraussetzungen und konkret mit Beteiligung der alten Diplomatenschaft gelingen konnte, ein neues Auswärtiges Amt aufzubauen“ (S. 11).3 Sie übersieht dabei keineswegs, welche Belastungen die jeweiligen Beamten und somit auch die Behörde aus der Vergangenheit mitgenommen hatten.

Konkret betrachtet Wiegeshoff den Umlernvorgang der Diplomaten zwischen der Kapitulation des Deutschen Reiches 1945 bzw. der offiziellen Einsetzung des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland 1951 und dem Ende der 1960er-Jahre anhand von 30 ausgewählten Amtsangehörigen. „Mit dieser Perspektive auf Diplomaten als handelnde Subjekte“ sei „die Studie von einer Neuen Kulturgeschichte inspiriert“ (S. 17). Als Beispieldiplomaten wurden die beiden Staatssekretäre aus dem Jahr 1969 und 28 der 100 Botschafter ausgewählt. Entscheidend war dabei nicht die Person, sondern der Einsatzort – im Sinne einer möglichst weltweiten Verteilung (S. 18f.).

Die Autorin ist sich der Schwierigkeiten dieser Vorgehensweise, die einer Beschränkung im Prinzip stets immanent sind, durchaus bewusst. Wie aus dem umfangreichen und detaillierten Quellen- und Literaturverzeichnis schnell ersichtlich wird, ist die Überlieferungslage zu den einzelnen Personen sehr unterschiedlich. Nur zu einem Drittel der Auswahlgruppe liegt ein zugänglicher Nachlass vor, gerade zu zwei Diplomaten (Herbert Blankenhorn und Georg Ferdinand Duckwitz) existieren biographische Arbeiten, und selbst die im Literaturverzeichnis so ausgewiesenen „Egodokumente“ gibt es nur für knapp die Hälfte der betrachteten Personen.

Prinzipiell ist es anerkennenswert, dass Wiegeshoff nicht in erster Linie nach „Quellenpraktikabilität“ (S. 35) vorgeht, sondern ihrer Leitfrage folgt. Aber offensichtlich ist es unvermeidlich, wie sie schon in der Einleitung konzediert, dass sich dadurch „Hauptprotagonisten“ (S. 35) herauskristallisieren – was auf der anderen Seite auch bedeutet, dass eine Reihe der ausgewählten Diplomaten blass bleibt. Nicht nur in dieser Hinsicht ist es deshalb sehr hilfreich, dass im Anhang zu allen untersuchten Diplomaten Angaben zu Biographie, Nachlass und Literatur aufgelistet sind; zusätzlich zum Personenregister, das dankenswerterweise die Text- und die Fußnotennennungen unterscheidet. Denn nicht nur der Haupt-, sondern auch der Anmerkungstext verdient die Aufmerksamkeit des Lesers.

Insgesamt geht es aber weniger um einzelne Mitglieder des Auswärtigen Dienstes als um die allgemeine Haltung im Amt. In dieser Hinsicht kommt Wiegeshoff zu eindeutigen Ergebnissen: Wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten, so bekannten sich die untersuchten Diplomaten im Prinzip alle klar zur Westbindung der Bundesrepublik Deutschland, zur (west)europäischen Integration und zur Partnerschaft mit den USA. Von dieser Regel gab es einzelne Ausnahmen – mit jeweils individuellen Unterschieden: Einige Akteure plädierten für eine stärkere Unabhängigkeit Europas (Alexander Böker, S. 268) oder Westdeutschlands (Helmut Allardt und Hans Berger, S. 104).

Die Wiedervereinigung in Freiheit betrachteten alle Diplomaten (diesmal ausnahmslos) als ein, wenn nicht das maßgebliche Ziel westdeutscher Außenpolitik. Wie der Weg zu diesem Ziel aussehen sollte, war dagegen vielfach umstritten, was sich auch in den Reaktionen auf die Neue Ostpolitik während der Großen Koalition und schließlich ab 1969 zeigte. Allerdings hatte sich die überwiegende Mehrheit der Untersuchungsgruppe, die sich in dieser Frage ausnahmsweise von der allgemeinen Einstellung im Amt unterschied, von alten Nationalstaatskonzepten gelöst.

Ein weiterer Antrieb für die dezidierte Westbindung der untersuchten Diplomaten war der Antikommunismus und dementsprechend die Skepsis gegenüber der Sowjetunion. Wiegeshoff betont hier, wie auch an anderen Stellen, die Kontinuitäten zu der Zeit vor 1945: „Die Amtsangehörigen konnten dabei auf die ältere Vorstellung einer gemeinsamen europäischen Abwehrfront gegen den Bolschewismus zurückgreifen.“ (S. 253) Zudem bezogen sie sich durchaus auf Vorstellungen von Europa, die aus der Zeit vor 1945 stammten. In einer eigentümlichen Transformation dieser älteren Ansichten akzeptierten die Diplomaten die Außenpolitik des neuen westdeutschen Staates und gestalteten sie mit. Die europäische Kooperation verbanden sie mit dem Ziel einer Gleichberechtigung der Bundesrepublik und der Hoffnung auf Überwindung der deutschen Teilung, was den „Prozess des Umlernens im Amt“ erleichterte (S. 298).

Während diese Erkenntnisse im Kontext der gut erforschten Geschichte der ersten beiden Jahrzehnte der Bundesrepublik nicht erstaunen, verwundert die genannte Überzeugung der Diplomaten angesichts ihrer Skepsis gegenüber der Parlamentarisierung der Außenpolitik und der stärkeren gesellschaftlichen Durchmischung der Beamtenschaft. Schon in der Zusammensetzung der Auswahlgruppe zeigt sich eine „sozialstrukturelle Demokratisierung“ (S. 338) – nicht nur durch die weitere, bereits seit der Weimarer Republik erfolgte Zurückdrängung des Adels, sondern auch durch die Rekrutierung aus immer vielfältigeren gesellschaftlichen Schichten. Dazu kam eine stärkere „Politisierung“ des Amtes und der Beamtenschaft (S. 354). Andererseits wirkte der Korpsgeist trotz allem weiter vereinheitlichend, und die Diplomaten sahen sich durch ein ausgeprägtes Elitebewusstsein auch als Vorbilder für die Gesellschaft. Die Entwicklung innerhalb des Amtes war damit ambivalent – ein Adjektiv, das Wiegeshoff des Öfteren heranzieht. Am Ende steht aber die schon zu Anfang geäußerte Einschätzung: „In keinem Bereich im Auswärtigen Amt manifestierte sich ein Bruch mit der Vergangenheit deutlicher als im Stil […].“ (S. 115) Damit ist nicht nur der gesellschaftliche Stil gemeint, sondern auch der (internationale) Arbeitsstil und die Haltung zur Politik.

Wiegeshoff fragt jedoch nicht allein nach der Haltung der Diplomaten; sie betrachtet zugleich die Grundlagen dafür. In dieser Hinsicht kommt sie zu dem interessanten Ergebnis, dass die Vergangenheit der Diplomaten inklusive ihrer Einstellung während der nationalsozialistischen Diktatur sowie die „sozialbiographischen Merkmale“ (S. 409) nicht unbedingt ausschlaggebend waren. Zu einer überzeugten Westbindung etwa trug stärker der Einsatz in einem westlichen Land bei, vor allem den USA. Außerdem darf „Opportunismus als Antriebskraft“ (S. 407) nicht außer Acht gelassen werden. Auf diesen zugegebenermaßen schwer zu erfassenden Aspekt kommt die Studie erst relativ spät. Schon in einer der frühesten Studien über das Auswärtige Amt während des „Dritten Reiches“ wurde Opportunismus als Attribut der Diplomaten identifiziert.4

Wiegeshoff analysiert die Einstellungen der ausgewählten Diplomaten unter verschiedenen Gesichtspunkten (Diplomatie, Nation, Internationales System, Gesellschaft) – vor dem Hintergrund der nationalen und internationalen Entwicklungen der Jahre zwischen 1945 und 1969, die mit einem beeindruckenden Wissen ausgebreitet werden. Bei dieser Fülle ist es nicht erstaunlich, dass einzelne Aspekte etwas zu kurz kommen. Das Kompetenzgerangel des Auswärtigen Amtes mit dem 1961 neu gegründeten Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit wird zum Beispiel deutlich intensiver beleuchtet (dazu S. 306) als die Auseinandersetzung um die „Nebenaußenpolitik“ (Reinhard Neebe) des Bundeswirtschaftsministeriums (dazu S. 108). Dabei ist die Autorin stets bemüht um ausgewogene Urteile sowie um die Unterscheidung zwischen berechtigter Sachkritik der Diplomaten und subjektiven Auffassungen.

Insgesamt ist ein anregendes und auch flüssig lesbares Buch über den Auswärtigen Dienst der 1950er- und 1960er-Jahre entstanden. Das Schlussfazit – „Es wurde ‚umgelernt‘ im Bonner Amt, allerdings nur ‚etwas‘“ (S. 418) – wirkt angesichts der Ergebnisse der einzelnen Kapitel fast schon zu verhalten. Es kann aber auch als Aufforderung an die Historiographie verstanden werden. Denn Andrea Wiegeshoff beantwortet nicht nur Forschungsfragen; sie wirft zugleich neue auf. Ihre Darstellung gibt einen Anreiz, dass man über einzelne der genannten Protagonisten mehr erfahren möchte. Sie unterstreicht auch die Möglichkeiten einer Kollektivbiographie, die sich bezogen auf den Auswärtigen Dienst für verschiedene Personengruppen lohnen würde, zum Beispiel – durchaus als Gegenpol zur vorliegenden Studie – im Hinblick auf die westdeutschen Diplomaten, die für die osteuropäischen Länder, besonders die Sowjetunion, zuständig bzw. dort eingesetzt waren. Insgesamt zeigt sich deutlich: Die Geschichte des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland bietet trotz aller bisherigen Forschung noch viele wissenschaftlich interessante Aspekte.

Anmerkungen:
1 Eckart Conze u.a., Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010 (rezensiert von Gisela Diewald-Kerkmann und Stefan Troebst, 15.02.2011: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-109> und <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-108> [10.08.2013]).
2 Siehe <http://www.zeitgeschichte-online.de/themen/die-debatte-um-das-amt-und-die-vergangenheit> (10.08.2013).
3 Im Gegensatz zu Thomas W. Maulucci Jr., Adenauer’s Foreign Office. West German Diplomacy in the Shadow of the Third Reich, DeKalb 2012.
4 Paul Seabury, Die Wilhelmstraße. Die Geschichte der deutschen Diplomatie 1930–1945, Frankfurt am Main 1956, S. 52. So auch in: Conze u.a., Das Amt und die Vergangenheit, S. 132.

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