D. Gerber: Analytische Metaphysik der Geschichte

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Titel
Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung


Autor(en)
Gerber, Doris
Reihe
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2038
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
€ 15,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
D. Timothy Goering, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Mit ihrer Habilitationsschrift hat Doris Gerber einen wichtigen und provokanten Beitrag zur analytischen Philosophie der Geschichte geliefert, die nicht nur für Geschichtsphilosophen, sondern auch für Historiker, die über Methode und Theorie ihres Faches reflektieren wollen, von großer Relevanz ist. Müsste ein Satz stellvertretend für das gesamte Buch ausgewählt werden, so würde er vermutlich lauten: „Geschichten implizieren Möglichkeiten und Möglichkeiten implizieren Intentionalität“ (S. 25). In diesem Satz sind nämlich drei Themenfelder (Geschichte, Möglichkeiten, Intentionen) angedeutet, die Hauptbestandteile von Gerbers Metaphysik der Geschichte bilden und die hier – in umgekehrter Reihenfolge – kurz besprochen werden.

(a) Damit etwas zu einer Handlung wird, argumentiert Gerber, bedarf es einer unentbehrlichen Zutat: Intention. Jeder Handlung gehen Intentionen voraus. Will ich etwas trinken oder den Fernseher anmachen oder den Thronfolger Franz Ferdinand erschießen, so eilt zwangsläufig eine Intention, die eine intendierte Handlung repräsentiert, dem Handeln voraus. „Intentionen sind distinkte intentionale Zustände“, definiert Gerber knapp, „die die intendierte Handlung begrifflich repräsentieren“ (S. 167). Der Unterschied zwischen einem Flummiball, der herumhüpft, und einem Menschen, der handelt, besteht darin, dass Menschen intentionale Zustände in sich tragen, die ihnen erlauben, in das Geschehen einzugreifen. Ein Flummiball kann das nicht. Das ist für den Historiker deshalb relevant, meint Gerber, weil „Intentionalität […] die Bedingung für Geschichten“ ist (S. 197). Ein Flummiball kann keine Geschichte haben, weil er keine machen kann; Menschen können das schon. Um vergangene Ereignisse zu beschreiben, ist daher ein Rückgriff auf Intentionen – zumindest implizit – vonnöten. Damit plädiert Gerber dafür, überzeugend wie ich finde, intentional handelnde Menschen in den Vordergrund historischer Erklärung zu rücken.

Intentionen sind allerdings nicht nur auf das isolierte Subjekt zu reduzieren. Gerber unterscheidet drei Typen von intentionalen Handlungen. Sie nennt individuelle, soziale und kollektive intentionale Handlungen. Der Träger von kollektiven Intentionen ist allerdings nicht das Kollektiv. „Kollektive Intentionen sind mentale Zustände von individuellen Personen; es gibt keine kollektive Entität, die als solche eine Intention haben könnte.“ (S. 287) Kollektive Handlungen sind also emergente Handlungen, die aus einer geteilten, aber jeweils individuell repräsentierten Intention bestehen.

Gerbers Thesen zu Intentionen stimmen nur, so ein beliebter Einwand, ginge man davon aus, dass Handlungen in einer Kausalbeziehung zu anderen Handlungen bestünden. Genau diese These hat jedoch bekanntlich vor über 250 Jahren David Hume mit Erfolg in Frage gestellt. Und wenn Hume recht hat, dass Kausalität nicht apriori einer Gesetzmäßigkeit unterliege und dass deshalb rein theoretisch „der Fall eines Steines die Sonne verlöschen“ könne1, dann hätte Gerber mit der These der intentionalen Handlung nichts für Historiker erwirkt.

(b) Damit kommen wir zum zweiten Themenfeld: Möglichkeiten. Diesen erhobenen Einwand weist Gerber nämlich mit David Lewis und der kontrafaktischen Auffassung von Kausalität zurück. Ein Mensch ist dann als Ursache eines intentional hervorgebrachten Ereignisses zu betrachten, wenn, vereinfacht dargestellt, das Ereignis ohne ihn auf keinen Fall stattgefunden hätte: so die kontrafaktische Kausalbeziehung. Wäre A nicht geschehen, dann wäre B keinesfalls geschehen. B ist geschehen, nachdem A geschah. Demnach ist A als die Ursache von B zu betrachten. Weniger abstrakt bedeutet das: Hätte Gavrilo Princip nicht geschossen, so wäre der Erzherzog Franz Ferdinand mit großer Wahrscheinlichkeit nicht am 28. Juni 1914 erschossen worden. Damit ist das Ereignis des Attentats als intentionale Handlung von Princip zu betrachten. Natürlich bedeutet dies nicht, dass Princips Schuss gleich als die Ursache für den Ersten Weltkrieg interpretiert werden müsste, denn man kann an der Richtigkeit des Satzes zweifeln: Hätte Princip nicht geschossen, wäre der Erste Weltkrieg keinesfalls ausgebrochen. Handlungen sind demnach immer in nahe und weite Kontexte eingebunden, die vom Historiker berücksichtigt werden müssen. Der entscheidende Punkt ist hier zunächst nur, dass Handlungen, die ihrerseits auf Intentionen fußen, sehr wohl als Ursachen für Ereignisse gelten können.

Der häufig erhobene Einwand, Handlungen seien kausal nicht erklärbar, weil sie keine kausale Notwendigkeit implizierten, wird also mit dem Argument hinfällig, dass kontrafaktische Kausalität die Existenz von Kausalgesetzen nicht voraussetzt. Nicht erst auf dem Boden kausaler Gesetzmäßigkeiten also, sondern vor dem Hintergrund ihrer vorhandenen Möglichkeiten gewinnt Geschichte ihre Konturen. So wie Intentionen gehören auch Möglichkeiten in der Form von kontrafaktischer Kausalität zum Proprium der Geschichte.

(c) Das dritte Themenfeld, das die zwei oben genannten einschließt, ist das Argument für historischen Realismus. Nachdem Gerber Intentionen, Handlungen und kontrafaktische Kausalität als die wesentlichen Bestandteile des Begriffs der Geschichte definiert, bekennt sie sich zum historischen Realismus. Sie argumentiert, „dass das historische Geschehen eine reale Struktur hat, die den spezifisch historischen Zusammenhang der Ereignisse konstituiert. Diese reale Struktur ist eine zeitliche und kausale Struktur von Handlungsereignissen.“ (S. 198) Demnach haben Ereignisse an sich Bedeutung und sind reale Einheiten der Geschichte, die untersucht werden können, unabhängig von späteren Narrativen und Konstruktionen.

Gerbers historischer Realismus richtet sich damit zum einen gegen narrativistische Konstruktionsthesen, die sich seit den 1980er-Jahren großer Beliebtheit erfreuen. Diese gehen davon aus, plakativ formuliert, dass die Geschichte an sich überhaupt nicht existiert, sondern dass man erst in der Rekonstruktion Geschichte konstruiert. Aber „wenn man annimmt, dass die Geschichte als reale Vergangenheit keine Geschichte ist und wenn sie als Geschichte im eigentlichen Sinne nicht real ist, sondern eine Konstruktion,“ wendet Gerber ein, „dann hat man sich in eine Art von Antinomie verrannt, deren widersprüchliche Thesen in der Behauptung gipfeln, dass es eine Geschichte gibt und zugleich nicht gibt“ (S. 227).

Gerbers Realismus richtet sich zum anderen gegen „strukturelle Erklärungen“, das heißt gegen Erklärungsmodelle, die insistieren, dass soziale, kulturelle oder ökonomische Strukturen Sagbares und Machbares überhaupt erst ermöglichen und daher Ereignissen und Handlungen vorzuziehen seien. „Es sind nicht abstrakte Strukturen, die auf geheimnisvolle Weise Personen beeinflussen“, plädiert Gerber, „sondern es sind intentional handelnde Personen, die sich beeinflussen lassen.“ (S. 291) Hinter den Strukturen stehen also handelnde Menschen, die Intentionen haben. Im Gegensatz zu den Konstruktivisten sieht Gerber zwar eine gewisse Affinität zu den Strukturalisten. Doch die genannten strukturellen Bedingungen menschlichen Handelns stehen nicht wie ein transzendentales Gerüst über dem Menschen und steuern sein Handeln, sondern strukturelle Bedingungen werden aus menschlichen Handlungen selbst geboren.

Da Gerbers Text voller spannender, aber kontroverser Argumente und Thesen ist, wird es wohl kaum einen Leser geben, der allen Argumenten seine volle Zustimmung geben wird. Für mich enttäuschend waren die zu kurz geratenen Passagen über Gründe. Denn hier würde sich eine weitere Quelle an Argumenten finden, die zum Beispiel einer Geschichtspraxis zugutekäme, die sich mit Ideen als gesellschaftlicher Gestaltungskraft beschäftigt. Gerber will scharf trennen zwischen normativen und motivierenden Gründen (S. 53 und S. 171f.) und lässt für den Historiker nur motivierende Gründe übrig, die von Intentionen eigentlich nicht zu unterscheiden sind. Eine überzeugende Begründung für diese scharfe Trennung liefert Gerber nicht. Geht man eher davon aus, dass sich normative Gründe von motivierenden nicht ontologisch, sondern nur in ihrer Begründungsfunktion unterscheiden2, und geht man weiter davon aus, dass ein intentionaler Zustand implizit immer ein normativer Status ist3, dann sollte es auch zum Geschäft des Historikers gehören, die Entstehung normativer Begründungsstrukturen zu untersuchen und in der historischen Erklärung zu berücksichtigen. Soweit Handeln auf Intentionen gründen und ihr Geltungsanspruch sich auf rechtfertigende Gründe stützt, fallen Handeln und Kommunikation in den intersubjektiven „logischen Raum der Gründe“ (W. Sellars) hinein, in dem die Teilnehmer sich miteinander über ihr Handeln rechtfertigend verständigen müssen. Erst wenn Gründe durchleuchtet werden, die in diesen sozial-diskursiven Aushandlungspraktiken stabilisiert werden und Handlungen voraus gehen, sind Handlungsereignisse in ihrer historischen Fülle ganz erschöpft.

Der Versuch, Gerbers Text kritisch weiter zu denken und für ideengeschichtliche Ansätze fruchtbar zu machen, zeugt von der Reichhaltigkeit der Thesen. Am meisten zu begrüßen ist meiner Ansicht nach, dass Gerber gute Argumente heranträgt, die das handelnde Subjekt zum Subjekt der Geschichte macht. „Wo niemand handelt, gibt es keine Geschichte“ (S. 294): So lautet Gerbers Kernthese, die sie überzeugend begründet. Alle diejenigen, die meinen, handelnde Subjekte seien nicht Mittelpunkt der Geschichte, weil Geschichte nicht beabsichtigt werden kann oder weil sie von Strukturen determiniert ist, stehen zumindest im Zugzwang, Gegenargumente zu liefern.

Anmerkungen:
1 David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Stuttgart 1982, S. 186.
2 Siehe María Alvarez, Kinds of Reasons. An Essay in the Philosophy of Action, Oxford 2010, vor allem S. 32-52.
3 Siehe: Robert Brandom, Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt am Main 2000, S. 52-56. Ähnlich argumentieren auch Julian Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft, Stuttgart 2001 und Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, Cambridge 1998.

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