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Titel
Our Fritz. Emperor Frederick III and the Political Culture of Imperial Germany


Autor(en)
Müller, Frank Lorenz
Erschienen
Cambridge, Ma. 2011: Harvard University Press
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
$45.00 / € 40,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norman Domeier, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Eine kritische Biographie des 99-Tage-Kaisers Friedrich III. jenseits der Mythen vorzulegen, hat sich Frank Lorenz Müller vorgenommen. Den ehrgeizigen Anspruch hat er durchaus verwirklicht. Zwar kann seine Studie nur im englischen Sprachraum als „the first comprehensive life of Frederick III ever written“ gelten. Aber es gelingt Müller gerade durch die – partielle – Außensicht des deutsch-britischen Historikers sich von den zahlreichen deutschen Hagiographien und benevolenten Quellensammlungen abzugrenzen und eine abgerundet-kritische Arbeit vorzulegen, die vor wenigen Wochen auch in einer deutschen Übersetzung erschienen ist.1

Wie es sich für eine postmoderne Biographie gehört, ist Müllers Buch nicht stur chronologisch von der Wiege bis zur Bahre, sondern kreativ aufgebaut, um die Verbindung zwischen Individuum und politischer Kultur herzustellen: Im ersten Kapitel werden die Beziehungen zu den drei zentralen Figuren im Leben Friedrichs III. analysiert, zu seinem Vater Kaiser Wilhelm I., seiner Frau Victoria und zu Otto von Bismarck. Im zweiten Kapitel wird Friedrichs Weltanschauung, vor allem sein Verhältnis zum Nationalstaat und zum Liberalismus, in den Blick genommen. Das öffentliche Bild des Kronprinzen wird im dritten Kapitel untersucht. Im vierten Kapitel werden die höfischen Intrigen und parteipolitischen Bewegungen im Vorfeld seines Thronantritts dargestellt. Die kurze Herrschaft Kaiser Friedrichs III. im Schatten seiner tödlichen Krebserkrankung wird im fünften Kapitel rekonstruiert. Im sechsten und letzten Kapitel werden schließlich die postumen Deutungskämpfe um den Mythos Friederich III. beleuchtet.

Ein solch konzeptioneller Zugriff ist schon deshalb sinnvoll, da große Teile des Lebens Friedrichs III. durch Untätigkeit gekennzeichnet waren, wie Müller anführt. Quellentechnisch gelingt es ihm auf vorbildliche Weise, klassische Zeugnisse wie Briefe, die den ersten Teil der Biographie dominieren, mit Belegen aus der zeitgenössischen Öffentlichkeit, vor allem aus der deutschen und britischen Presse, zu verbinden.

Besonders gut werden die Widersprüche und Ambivalenzen herausgearbeitet, die der Hohenzoller in sich verkörperte, beziehungsweise die ihm in öffentlichen Diskursen zugewiesen wurden. Er selbst folgte in seinem Leben nur wenigen roten Fäden, blieb oft vage und unentschieden. Eine konstante Überzeugung, die ihm nicht abgesprochen werden könne, so Müller, sei die Vertretung nationalstaatlich-zentralistischer Positionen gewesen, auch zu Lasten Preußens. In Süddeutschland, aus machtpolitischer Sicht vielleicht sein größtes Verdienst abseits aller vorgeblich von ihm persönlich herbeigeführten militärischen Erfolge, gelang es dem preußischen Kronprinzen, Vorbehalte gegen „Preußen-Deutschland“ abzubauen. Ein Kapital, das sein Nachfolger in kürzester Zeit wieder verspielte. Gleichzeitig verband sich das Eintreten Friedrichs III. für den Nationalstaat jedoch mit neoabsolutistischen Phantasien, die – insgesamt überwiegen die Kontinuitäten – Wilhelm II. schließlich in die Tat umzusetzen versuchte.

Die Revision am historischen Bild Kaiser Friedrichs III., wenn auch nicht ganz neu, ist deshalb so wichtig, da sie die akteurszentrierte Variante der Sonderwegsthese ins Wanken bringt: Danach hätte Deutschland den „Weg nach Westen“ sehr viel früher eingeschlagen, wenn Friedrich III. länger hätte regieren und ein deutsches „Ministerium Gladstone“ berufen können; auch ein Weltkrieg sei mit ihm schwerer denkbar gewesen.

Mit dem bekanntesten, in diese Richtung weisenden Mythos räumt Müller auf: Friedrich III. war nie der von den Liberalen erhoffte, von den Konservativen gefürchtete (zukünftige) Bürgerkaiser. Zeitweise und rudimentär bestand zwar eine Kronprinzenpartei, diese blieb aber weit entfernt von ihrem Ziel, den zukünftigen Monarchen mit einer liberalen Mehrheitspartei für den Reichstag auszustatten. Überdies kamen diese zögerlichen Bestrebungen den Ultra-Konservativen gerade recht, um sie als Popanz im Kampf gegen jedwede progressive Idee zu nutzen. Hier wurde das Private auch politisch bedeutsam. Müller kann gut nachvollziehbar argumentieren, dass Friedrich außer seiner Frau Victoria keine echten Freunde, Weggefährten und kampfbereiten politischen Unterstützer besaß. Eine Erklärung dafür, warum es ihm nie gelang, seine vielgepriesene Leutseligkeit, immerhin eine der wichtigsten Tugenden erfolgreicher Politiker, in anhaltende Loyalitäten umzumünzen, liefert allerdings auch die Studie nicht.

Der Nutzen einer Verbindung des biographischen Ansatzes mit der weiteren politischen Kultur des frühen Kaiserreiches, wie ihn Müller anstrebt, wird an einem Punkt besonders deutlich. Nur durch die Eigendynamiken der zumeist noch auf sozialmoralische Milieus gestützten Öffentlichkeiten des Kaiserreiches ist erklärbar, wie ein hoffnungsloser politischer Romantiker wie der Hohenzollernsproß wenigstens temporär und in Teilen von Massenpolitik und Massenpresse als „unser Fritz“ reüssieren konnte. Seine immer wieder in allen möglichen Situationen geäußerten Vorstellungen von einer erneuerten mittelalterlichen Kaiserwürde, verbunden mit konkreten politischen Machtphantasien, erschienen selbst überzeugten Monarchisten wie Friedrich von Holstein und Gustav Freytag in einer gerade geeinten, vorwärts strebenden Industrienation als Anachronismus. Pikanterweise stammt das vielleicht klarste politische Urteil über Friedrich III. von Philipp zu Eulenburg, der unter Wilhelm II. als letzter royaler Favorit in die deutsche Geschichte eingehen sollte. Gegenüber Herbert Bismarck zeigte sich selbst der hochkonservative Strippenzieher erschreckt über die „eiteln autokratischen Gelüste im Gewande sentimentaler Liberalität“, die den charakterlichen Hauptzug Friedrichs bildeten.2 Das Urteil eines Mannes, der wenige Jahre später selbst zu den wichtigsten Protagonisten eines „persönlichen Regiments im guten Sinne“ unter Wilhelm II. zählte, erfuhr seine Bestätigung in der maliziösen Dauerkritik der Sozialdemokraten. Für sie blieb Friedrich stets ein aus der Zeit gefallener Dynast, der bloß aus Ennui und väterlich verordneter Untätigkeit mit Liberalismus und Volkstümlichkeit kokettierte, tatsächlich aber einen Neo-Absolutismus herbeisehnte.

Trotz aller reaktionären Attitüden kann Friedrich III. wie seine Schwiegermutter Queen Victoria und sein Sohn Wilhelm II. als Medienmonarch gefasst werden. Müller bringt zahlreiche interessante Belege für die aktive persönliche Pressearbeit des Kronprinzen, der anders als die meisten seiner Standesgenossen intime Gespräche mit wichtigen Journalisten und Auslandskorrespondenten bewusst als Mittel einsetzte, um sein Bild in der europäischen Öffentlichkeit zu verbessern. Seinen Ruhm als erfolgreicher Feldherr verdankte er zum guten Teil der wohlwollenden Berichterstattung von Times und Daily News, deren Kriegskorrespondenten er im deutsch-französischen Krieg in seine Entourage „einbettete“.

Aus dem Privatleben des 99-Tage-Kaisers bleibt die lebenslange, bereits in Kindertagen strategisch geplante Beziehung zur britischen Prinzessin Victoria, der ältesten Tochter Queen Victorias, am eindrücklichsten. Gekennzeichnet war sie nicht nur durch „self-informed mutual respect“ (S. 35), sondern durch das offenherzige Eingeständnis, seiner Frau intellektuell unterlegen zu sein und eine entsprechend austarierte Rollenverteilung, wie Müller zeigt. Was heute in Zeiten angestrebter gender equality nach einer perfekten Beziehung klingt, erwies sich für den preußisch-deutschen Thronfolger im jahrzehntelangen Wartestand als schwere politische Bürde. Sowohl in Hof- und Regierungskreisen als auch in der Presseöffentlichkeit galt er vielfach als Marionette in den Händen seiner Frau und Großbritanniens.

Das lange Sterben Kaiser Friedrichs III. präsentiert Müller wie einen historischen Thriller, der in der Verbindung von öffentlicher Dramatik und politischen Dynamik auch medienhistorisch aufschlussreich ist. In den bereits vor dem Tod einsetzenden Deutungs- und Aneignungsversuchen Friedrichs III., die populär-publizistisch wie geschichtswissenschaftlich bis weit ins 20. Jahrhundert reichen, wird gleichsam an einem Extremfall das Drama des modernen Menschen deutlich: Private Person und öffentliche Persona klaffen in ihren vielfältigen, mitunter paradoxen Rollen auseinander. Nur aufgrund seiner schillernden Rollen und mangels politischer Eindeutigkeit konnte Friedrich III. während seines Lebens zu „unserem Fritz“ popularisiert werden und nach seinem Tod als positives Gegenbild zu seinem irrlichternden Sohn dienen.

Anmerkungen:
1 Frank Lorenz Müller, Der 99-Tage-Kaiser. Friedrich III. von Preußen – Prinz, Monarch, Mythos, München 2013.
2 John Röhl (Hrsg.), Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, 3 Bd., Boppard 1976–1983, hier: Teil I, S. 141.