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Titel
An Ordinary Marriage. The World of a Gentry Family in Provincial Russia


Autor(en)
Antonova, Katherine Pickering
Erschienen
Anzahl Seiten
IXX, 304 S.
Preis
£ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexa von Winning, Tübingen

Katherine Pickering Antonova erzählt in ihrem Buch von einem Ehepaar aus dem russischen Provinzadel des 19. Jahrhunderts, das seinen Familien- und Arbeitsalltag gänzlich unbeeindruckt von zeitgenössischen westeuropäischen Auffassungen über „natürlich“ weibliche und männliche Zuständigkeiten organisierte: Während der Ehemann und Vater sich um die Erziehung der Kinder kümmerte, fielen die Gutswirtschaft und die materielle Versorgung der Familie in den Zuständigkeitsbereich der Ehefrau. Im staatlichen Archiv der Region Iwanowo ist Antonova auf die umfangreichen Dokumente der Familie Tschichatschow gestoßen, die neben den üblichen Briefen und wirtschaftlichen Akten auch Tagebücher und intime Notizbücher von männlichen wie weiblichen Familienangehörigen aus der Zeit von 1830 bis in die 1860er-Jahre enthalten. Auf der Basis dieses Materials rekonstruiert Antonova den Familienalltag, die Tätigkeiten und das lokale Umfeld der Tschichatschows, die mit ihren ca. 300 Leibeigenen in der Provinz Wladimir lebten. Die zentrale Leitlinie ihrer Analysen ist dabei die Frage nach den Geschlechterrollen und der familiären Aufgabenteilung in dieser „gewöhnlichen Ehe“, wie Antonova es nennt.

Ausgehend vom westeuropäischen Bürgertum griff im 19. Jahrhundert die Ideologie der Häuslichkeit (domesticity) in der Publizistik um sich und wies den Geschlechtern zumindest in der Theorie klare Rollen zu: Während der Ehemann als Familienernährer die materielle Versorgung sicherte und sich außerhäuslich entfaltete, galt die innerhäusliche Sphäre mit ihren sorgenden und pflegenden Aufgaben als angemessener Ort für Frauen. Auch Russland blieb von dieser Ideologie nicht unberührt. Allerdings ist umstritten, in welchem Maße und mit welchen Modifikationen die Häuslichkeit den Alltag russischer Familien mit unterschiedlichem gesellschaftlichen Status prägte.1 Antonovas Monografie bringt diese Debatte ein wichtiges Stück voran, indem sie eine Mikrostudie einer Adelsfamilie vorlegt, die nicht den höchsten Kreisen der russischen Aristokratie entstammte.

Antonova zeigt, wie diese Adelsfamilie aus der Provinz die Inhalte der Häuslichkeit zur Kenntnis nahm und manches in das eigene Weltbild integrierte, beispielsweise wenn Andrej Tschichatschow zärtliche Szenen zwischen seiner Frau und den Kindern dem Ideal der liebenden Mutter zuordnete. Zugleich stand im Kern der Mutterschaft von Natalja Tschichatschowa aber weiterhin das Modell der „Chosjaika“, der Hausherrin, deren wichtigste Verantwortung das materielle Wohlbefinden der Familie war. Ihr Zuständigkeitsbereich war der Haushalt, allerdings in einer denkbar weiten Definition: Er umfasste den gesamten Komplex der Gutswirtschaft mit Landwirtschaft, Mühle, Weberei, den Dörfern der Leibeigenen und finanziellen Belangen ebenso wie die Küche, Vorratshaltung und Näharbeiten. Andrej Tschichatschows Aufgaben waren hingegen intellektueller Natur und beinhalteten in erster Linie die Erziehung der Kinder und, nach deren Auszug, die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen Russlands. Korrespondenzen und die Pflege von Netzwerken fielen ebenfalls dem Ehemann zu. Obwohl diese Tätigkeiten fast ausschließlich am heimischen Schreibtisch stattfanden, galten sie aufgrund ihrer intellektuellen Natur als außerhäusliche Aktivitäten. Den praktischen und vernünftigen weiblichen Aufgaben stand der männliche Bereich des Intellekts und der Worte gegenüber. Die Geschlechterbilder der Tschichatschows waren nicht biologisch begründet, während das Argument der Biologie oder Natur in westeuropäischen Konzeptionen eine große Rolle spielte. Allerdings waren sie durchaus hierarchisch: Die Gutsverwaltung war schlicht der weniger anspruchsvolle Part und schien daher angemessen für die Frau zu sein.

In den zehn Kapiteln des Buches entwirft Antonova ein detailreiches Bild des Familienalltags und beschreibt das private Umfeld der Familie, ihre Lesegewohnheiten, soziale und wohltätige Aktivitäten, den Umgang mit Krankheit, Trauer und Tod oder ihre Hoffnungen für die Entwicklung der russischen Gesellschaft. Sie vermittelt das Bild einer Familie, die eng mit ihrem lokalen Umfeld verbunden war und deren Selbst- und Weltbilder vom provinziellen Russland vor der Bauernbefreiung geprägt waren. Das Landgut war das Zentrum ihrer Welt. Im Gegensatz zu hauptstädtischen Intellektuellen idealisierte Andrej Tschichatschow nicht die Bauern, wohl aber die Gesellschaftsordnung des wohlmeinenden Paternalismus, in der jedes Individuum durch seine Verpflichtungen gegenüber den anderen gebunden war und Machtexzesse verhindert würden. Bei aller konservativen Betonung von Moral und Ordnung war er keineswegs fortschrittsfeindlich, sondern hegte einen aufklärerischen Glauben an Fortschritt durch Erziehung und Bildung. Diese sollten allen, auch den leibeigenen Bauern, zugute kommen. Hier bestätigt und erweitert Antonova die bestehende Forschung zum russischen Provinzadel, die diese Verwurzelung in der Region bereits betont hat.2

In den einzelnen Kapiteln verliert Antonova sich allerdings zuweilen in der detaillierten Schilderung des Familienalltags und lässt sich eher vom Quellenmaterial statt von klaren Thesen leiten. Dies führt teils zu Sprüngen, teils zu Wiederholungen. Die zentrale Frage nach den prägenden Geschlechterrollen wird nichtsdestotrotz sehr überzeugend und gewinnbringend analysiert. Es ist ein zentrales Verdienst der Autorin, dass sie zeigt, wie sehr die Ausgestaltung von Geschlechterbeziehungen jenseits der ideologischen und diskursiven Ebenen von den konkreten Lebensumständen und der sozialen und rechtlichen Ordnung abhingen.3 Die Ideale der Häuslichkeit änderten die wirtschaftlichen Notwendigkeiten in der russischen Provinz nicht: Kleinere Landgüter warfen wenig Gewinn ab und mussten sorgfältig geführt werden, was aufgrund der längeren Abwesenheiten der Gutsherren häufig ihren Ehefrauen zufiel. Adlige und leibeigene Bauern waren durch die Ordnung der Leibeigenschaft aneinander gebunden, wenngleich natürlich mit massiven Machtunterschieden. Erst das Ende der Leibeigenschaft entzog diesem Komplex die Grundlage – und bewirkte auch fundamentale Änderungen im Familienleben des Provinzadels und seinen Geschlechterbeziehungen: „Die Abschaffung der Leibeigenschaft, mit der gleichzeitigen Destabilisierung der Dorf-Familie, die von der Mutter-Managerin und dem Vater-Erzieher geleitet worden war, änderte daher auch die Natur der adligen Kernfamilie und ihrer Geschlechterbeziehungen.“ (S. 234) Wie bei vielen jüngeren Studien zum russischen Adel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wünscht man sich auch im Falle der Geschlechterbeziehungen, dass die Arbeiten in den nächsten Jahren über die Schwelle von 1861 hinaus fortgeführt werden mögen.

Anmerkungen:
1 Barbara Alpern Engel, Breaking the ties that bound. The politics of marital strife in late imperial Russia, Ithaca 2011.
2 Mary W. Cavender, Nests of the gentry: family, estate, and local loyalties in provincial Russia, Newark 2007; Olga E. Glagoleva / I. Schierle (Hrsg), Dvorjanstvo, vlast' i obščestvo v provincial'noj Rossii XVIII veka, Moskva 2012.
3 Damit bestätigt Antonova das Urteil von Michelle Marrese, die in ihrer Pionierstudie zum Grundbesitz russischer Adelsfrauen schlussfolgert: „The experience of Russian noblewomen confirms the central role of law and property in shaping gender identity“. Michelle Lamarche Marrese, A woman's kingdom. Noblewomen and the control of property in Russia, 1700–1861, Ithaca 2002, S. 170.

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