E. Schöck-Quinteros u.a. (Hrsg.): Entnazifizierung Frauen in Bremen

Titel
"Was verstehen wir Frauen auch von Politik?". Entnazifizierung ganz normaler Frauen in Bremen (1945–1952)


Herausgeber
Schöck-Quinteros, Eva; Ahrens, Jan-Hauke
Reihe
Aus den Akten auf die Bühne 4
Erschienen
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicole Kramer, Historisches Seminar, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Spruchkammerakten können mindestens in zwei Richtungen ausgewertet werden: Zum einen geben sie Auskunft über den Entnazifizierungsprozess selbst, zum anderen finden sich darin Dokumente und Aussagen, die uns etwas über die Gesellschaftsgeschichte des Dritten Reiches erzählen. In beiden Forschungsfeldern richtet sich die Aufmerksamkeit erneut auf das Verhalten und die Wahrnehmungen der Bevölkerung, vor allem auf die Frage, in welcher Weise sie an der Verwirklichung der NS-Politik mitwirkten und wie sie damit nach 1945 umgingen. Insbesondere die in den letzten Jahren rege geführte Debatte über die „Volksgemeinschaft“ hat dazu beigetragen, den Blick auf Einzelne – Männer wie Frauen – und ihr Verhältnis zum Regime zu schärfen. Die Akten der Spruchkammern und anderer Justizbehörden bieten einen guten Zugang für eine solche am Individuum interessierte Perspektive.1

Eva Schöck-Quinteros hat gemeinsam mit Studierenden der Universität Bremen einen Sammelband herausgegeben, der sich mit Entnazifizierungsfallakten von Bremer Frauen beschäftigt. Er ist das Produkt eines innovativen Projektes: Studierende bereiten Archivquellen auf, die die Grundlage für szenische Lesungen bieten. In der Reihe „Aus den Akten auf die Bühne“ erscheinen die dazugehörigen Begleitbände. Der Leser erhält hierin direkten Zugang zu den Quellen. So sind Berichte, Briefe, Urteilssprüche, Vernehmungsprotokolle, verschriftlichte Aussagen, Gesuche et cetera. in Auszügen oder ganz in die Beiträge integriert. Julia Obermeier und Katrin Weber haben zudem Zeitungsartikel über das Internierungslager Riespott, in dem viele der im Band vorgestellten Frauen inhaftiert waren, zusammengestellt.

Mit Wiederabdrucken von Texten Sybille Steinbachers und Michael Wildts werden die Einzeluntersuchungen außerdem in der Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus einerseits und der Täterforschung andererseits verortet. Der Sammelband ist nicht nur als eine Untersuchung der Entnazifizierung – Arbeitsweise und Urteilspraxis der Spruchkammern – zu sehen, sondern rückt Fragen nach dem Engagement, den Handlungsspielräumen und Zwangslagen von Frauen im Dritten Reich sowie den nationalsozialistische Herrschaftsstrukturen in den Mittelpunkt.

Drei Beiträge widmen sich den Bedingungen der Entnazifizierung und stellen Akteure des Spruchkammerbetriebs in Bremen vor. Christian Franke fasst Entwicklung und Merkmale der Entnazifizierung in Bremen zusammen, die durch eine hohe Zahl (71 Prozent) an als „vom Gesetz nicht betroffen“ Eingestuften auffiel. Alexander Lifschütz, ab November 1947 als Senator für politische Befreiung in Bremen tätig, interpretierte dies als Beleg für die geringe Nazifizierung der Bremer Gesellschaft, was jedoch mit Blick auf die Urteilspraxis kritisch hinterfragt wird. Johannes Beermann und Daniel Kück betonen, dass die Entnazifizierung von Anfang an ein amerikanisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt darstellte. In der Militärverwaltung stand wenigen amerikanischen Offizieren eine große Zahl deutscher Zivilangestellter gegenüber. Und später, als die Durchführung der Verfahren in deutscher Hand lag, konnte die Militärregierung intervenieren. Schließlich widmen sich Jan-Hauke Ahrens und Anna Mamzer dem Anwalt Wilhelm Bellmer, der sich als Verteidiger in Bremer Spruchkammerverfahren einen Namen machte, und beleuchten damit eine bisher wenig beachtete Akteursgruppe.

Den Kern des Sammelbandes bilden elf Fallgeschichten. Cathrin Anna Becker porträtiert die promovierte Biologin Karin Magnussen, die am Kaiser-Wilhelm-Institut in Dahlem über die Verschiedenfarbigkeit von Augen forschte, wobei zu ihren Studienobjekten Kinder einer deportierten Sinti-Familie gehörten. Als Wissenschaftlerin galt sie der Spruchkammer als unverdächtig. Sie konnte 1950 in den Schuldienst gehen, wobei sie weiterhin – das belegt ein Brief an ihren akademischen Lehrer – rassistische Ansichten vertrat.

Auch in anderen Beiträgen zeigen die Spruchkammerverfahren, welche Betätigungschancen der Nationalsozialismus Frauen eröffnete. Eine Hausfrau und Mutter von zwei Kindern sah sich als geborene Führerin und engagierte sich als Kreisfrauenschaftleiterin. Cihanay Sahin kann zeigen, dass auch Frauen mit ungewöhnlichem Lebensweg einen Platz im NS-Regime fanden. Ruth-Marie von der Heyde führte die Dienstverpflichtung 1942 in die Wehrmacht, wo ihre guten Englischkenntnisse bei der Postzensur gefragt waren, die sie unter anderem einer Liaison mit einem amerikanischen Tabakmillionär zu verdanken hatte, mit dem sie Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre die Welt bereist hatte. Später setzte von der Heyde ihr „kosmopolitisches“ Leben fort, diesmal als Frau eines Gestapobeamten, dem sie ins Ausland folgte und hierfür als Sekretärin beim Arbeitgeber ihres Ehemannes anfing.

Mit dem Blick auf Gestapo und SS widmet sich ein Teil der Beiträge also typischen Täterinnengruppen. Ioannis Antonopoulos und Daniel Kück beschäftigen sich jeweils mit Schreibkräften der Gestapo, wobei klar wird, dass die Funktionsbezeichnungen wenig über die tatsächlichen Handlungen aussagen. Während die eine als junge Frau in Bremer, Berliner und Minsker Gestapostellen Büroarbeiten verrichtete, übte die andere, 1943 im Alter von 44 Jahren als Stenotypistin dienstverpflichtet, zunehmend die Funktion einer Mitarbeiterin aus, die Vernehmungen durchführte.

Am Verfolgungsapparat beteiligt war auch Sophie Gode, die sich ganz gezielt als SS-Aufseherin beworben hatte und fünf Jahre Dienst im Konzentrationslager Ravensbrück tat. Für die alleinerziehende Mutter waren, wie Hannah Synycia nachzeichnet, die Aussicht auf eine sichere Stellung mit Gehaltszulagen und die Möglichkeit, ihre Kinder neben dem Beruf betreuen zu können, attraktiv gewesen.

Weniger um Betätigungsfelder als um Partizipationsmomente handelt es sich bei den zwei Denunziantinnen, die Marie Czielinski und Johannes Beermann vorstellen. In beiden Fällen hatte die Denunziation gravierende Folgen für die Angezeigten. Besonders das Beispiel von Johanne Eilers zeigt, dass die Entnazifizierungsakten Einblicke in die Funktionsmechanismen der Verfolgungsbehörden geben. Die Bremerin denunzierte häufig und fand meist wenig Beachtung. Erst als es eine bereits vorbelastete Person betraf, wurde der Sanktionsapparat in Gang gesetzt und mit tödlicher Folge für den Denunzierten.

Der Blick auf die individuellen Fälle mit Akten voller sich widersprechender Aussagen macht eines deutlich: Klare Fälle gibt es kaum, sondern viele Ungereimtheiten und Ambivalenzen. Mehr noch gilt dies für Grenzfälle, wie die Geschichten zweier im Band porträtierter, unter Druck zu Spitzeln gemachter Frauen und einen weiblichen Kapo zeigen. Tim Gräber befasst sich mit Paula Brand, die der KPD angehört hatte und nach 1933 verfolgten Kommunisten half. 1938 verhaftet, drängte sie die Gestapo, als Spitzel zu arbeiten. Von der Spruchkammer wurde sie als Belastete eingestuft, denn ihre Tätigkeit hatte zu Verurteilungen geführt. Brand hatte mit Ina von Voss zusammengearbeitet, die ebenfalls von der Gestapo unter Druck gesetzt worden war, Agentendienste zu leisten. Obwohl ihr dieselben Vergehen nachgewiesen werden konnten, brachen die Entnazifizierungsbehörden die Ermittlungen ab. Wie viel auch ohne ein Spruchkammerverfahren über von Voss herausgefunden werden kann, zeigt Christian Franke in einer darstellerisch wie analytisch besonders gelungenen Spurensuche.

Schließlich macht Frederike Buda den Leser mit Margarete Ries bekannt, die als „Asoziale“ verfolgt zunächst in Ravensbrück, ab Oktober 1942 in Auschwitz eingesperrt war. Als weiblicher Kapo habe sie, so sagten ehemalige Häftlinge aus, Frauen misshandelt und sogar getötet. Die Mitglieder der Spruchkammer fällten dennoch kein hartes Urteil, sondern stuften sie im Gegenteil als „vom Gesetz nicht betroffen“ ein, wobei sie die vermeintlich mangelnde Intelligenz und sozialen Defizite Margarete Ries’ als strafmildernd werteten.

Die Beiträge sind fundiert recherchiert, machen Grenzen der Aussagekraft von Quellen klar (etwa Aussageprotokolle von Angeklagten, die sich freilich nicht selbst kompromittieren wollten) und diskutieren überzeugend mögliche Varianten historischer Abläufe. Bisweilen hätten sich manche Autorinnen und Autoren mehr von der Entstehungslogik ihrer Quellen lösen können, konkret von den juristischen Fragen und Kategorien, die für eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung häufig wenig erkenntnisfördernd sind. Wünschenswert wäre es zudem gewesen, die Einzelbeobachtungen in einer Zusammenfassung zu bündeln. Die große Stärke des Sammelbandes ist jedoch, dass er einen Einblick in die Werkstatt kritischer Quellenarbeit liefert, gerade deswegen empfiehlt er sich als Lektüre nicht nur für die interessierte Öffentlichkeit, sondern auch für die Fachwissenschaft.

Anmerkung:
1 Ein wichtiges Mittel hierfür ist die vom Institut für Zeitgeschichte erstellte Datenbank „Verfolgung von NS-Verbrechen durch deutsche Justizbehörden nach 1945“, die mehr als 50.000 Verfahren von Gerichten in Ost- und Westdeutschland dokumentiert. Zur aktuellen Forschung: Hanne Lessau führt an der Universität Bochum ein Dissertationsprojekt zum Thema „Entnazifizierungsgeschichten. Der individuelle Umgang mit der NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit“ durch.

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