T. Kuhn u.a. (Hgg.): Das "Fromme Basel"

Titel
Das "Fromme Basel". Religion in einer Stadt des 19. Jahrhunderts


Herausgeber
Kuhn, Thomas K.; Sallmann, Martin
Erschienen
Basel 2002: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
223 S.
Preis
€ 33,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Hiepel, Fachbereich 1 - Geschichte, Universität Essen

Der vorliegende Band präsentiert die Ergebnisse einer Tagung der interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft zur Basler Kirchengeschichte des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts. Er dokumentiert laufende Forschungsarbeiten, die sich mit städtischer Religiosität in Basel befassen, und stellt diese in einen allgemeineren Kontext. In 13 Beiträgen unterschiedlicher Disziplinen (Theologie, Geschichte, Politik) werden jeweils Stadt, Bildung, Diakonie und Kultur in ihrer Wechselwirkung mit Religion untersucht. Im Mittelpunkt steht das „Fromme Basel“, eine Bezeichnung, die sich im frühen 19. Jahrhundert durchgesetzt hatte. Sowohl ablehnend polemisch als auch bewundernd gemeint charakterisierte sie eine von pietistischer und erweckter Frömmigkeit geprägte Stadt, die als wichtigstes Zentrum der europäischen Erweckungsbewegung galt. Die personelle und zeitliche Reichweite des „Frommen Basel“, seine Verortung im politischen Leben der Stadt und nicht zuletzt seine Bedeutung in vergleichender Perspektive werden als Aufgaben interdisziplinärer Forschungen benannt, die – soviel sei vorweggenommen – auch der Tagungsband nur ansatzweise befriedigend lösen kann.

Einleitend gibt Antonius Liedhegener einen Forschungsüberblick zum Thema Konfession und Urbanisierung im 19. Jahrhundert. Der Urbanisierungsprozess wird als der umwälzendste Teilprozess der Modernisierung im 19. und 20. Jahrhundert begriffen, der die ländliche zugunsten der städtischen als bestimmende Daseinsform ablöste. Die Großstadt als einen Ort der Säkularisierung zu betrachten, ist jedoch eine in den 60er Jahren popularisierte Sichtweise, die auf der Grundlage aktuellerer Forschungsergebnisse zunehmend aufdifferenziert wird. So lässt sich zwar nachweisen, dass Kirchlichkeit gemessen an den Abendmahlsziffern nachließ. Doch lassen sich eklatante Unterschiede je nach Region und Großstadttyp feststellen. Und die Herausbildung konfessioneller Milieus sowie die Entstehung neuer religiöser Phänomene sprechen eher für neue Artikulationsformen von Religiosität. Liedhegener schlägt daher vor, statt von Säkularisierung eher von einer neuen Vielfalt zu sprechen.

Der Bereich Religion und Bildung ist mit zwei theologischen Beiträgen (Jochen Eber, Martin Sallmann) vertreten, die exemplarisch zwei Personen in den Blick nehmen: Christian Friedrich Spittler, „Schlüsselfigur“ des Frommen Basel, gründete 1840 eine Pilgermission. Margaretha Riggenbach-Stehlin hinterließ ihre schriftlichen Aufzeichnungen der Konfirmandenunterrichtsstunden. Sie werden als eine zentrale Quelle zu den Eigenarten der vermittelten Frömmigkeit interpretiert, die geprägt war von Herzensfrömmigkeit und einer besonderen Betonung der Dignität des Inneren.

Der Diakonie sind sechs Beiträge gewidmet, von denen der Aufsatz Josef Moosers besonders hervorzuheben ist. Er stellt den christlichen Unternehmer Karl Sarasin vor, der das Selbstbild eines christlichen Unternehmers entwickelte, welches durchaus traditionelle Kontexte überschritt. Sein Unternehmerbild unterschied sich fundamental von der üblichen konservativ-bürgerlichen protestantischen Kapitalismus-Kritik, indem es eine grundsätzliche Bejahung des modernen industriellen Produktivkapitalismus beinhaltete, der durch den Patron in Form individueller Caritas und Außenwirkung abgemildert werden sollte. Sarasins Versuch, protestantische Großunternehmer unter dem Leitbild des christlichen Unternehmers als Gruppe zu organisieren, scheiterte aber letztlich. Demgegenüber steht die Figur Christian Heinrich Zellers, die von Thomas Kuhn vorgestellt wird. Es handelte sich um eine theologisch prägende Persönlichkeit des Frommen Basel, die in ihrer Armenschullehranstalt die soziale Frage, ausgehend von einer biologistischen Sicht von ererbter Entsittlichung, zu lösen suchte. Zeller betrieb eine Art „primär sittlich-religiös ausgeprägte Prophylaxe“, die – obwohl sie mit chiliastischen Vorstellungen verbunden war – durchaus politisch-soziale Absichten implizierte (S. 101). Mit Sarasin und Zeller werden zwei Pole des Frommen Basel benannt, zwischen denen Welten gelegen haben dürften. Moosers Interpretation des Frommen Basel als eine eher modern-bürgerliche und damit historisch-sozial zu beschreibende Konfiguration denn als eine religiöse, kann am Beispiel Sarasins überzeugen. Religiöse Motive waren aus dieser Perspektive offensichtlich weniger handlungsleitend als soziale. Die Person Zellers wiederum fügt sich nicht in dieses Deutungsschema ein. Gleiches gilt für die in den übrigen Beiträgen dieses Abschnitt vorgestellten Personen(kreise): Für die Diakonissen in Basel (Michael Raith), die katholische Schwesternkommunität der Schwestern von der Vorsehung von Portieux (Patrick Braun) sowie den katholischen Pfarrer im protestantischen Basel (Paul Meier-Kern).

Der Bereich der Kultur ist mit einem überzeugenden Beitrag von Stefan Koslowski vertreten, der sich mit der Ausbreitung des Theaters in einer von traditionell pietistischer Theaterfeindlichkeit geprägten Stadt beschäftigt. Zerstreuung, weltliche Sinnenlust, Zeit- und Geldverschwendung und grundsätzlicher das Fiktionsverbot des Pietismus, das die innere Wahrhaftigkeit des Individuums bewahren sollte, waren die Argumente der Frommen gegen das Theater, die aber auch in den christlichen Vereinen selbst immer weniger griffen. Auch dort setzte sich das Theaterspiel als Form der höheren Erbauung allmählich durch. Wohl oder übel musste das Fromme Basel Zugeständnisse an die Moderne machen, was aber um so leichter fiel als das Theater allmählich durch größere Übel verdrängt wurde. Kino und Schundliteratur boten den Sittenwächtern ein neues Betätigungsfeld.

Die Diskussion über die bildende Kunst wurde im Spannungsfeld von neuem „Bildvertrauen“ und alter „Worttheologie“ geführt. Nikolaus Meier untersucht die Konflikte des bildungsbürgerlichen mit dem Frommen Basel, das zumindest im säkularen Rahmen Kunst duldete.

Ein wachsendes Interesse an religiösen Fragestellungen trotz vermeintlicher Säkularisierung und Modernisierung erkennt Lucian Hölscher. Er plädiert abschließend für eine neue kulturgeschichtlich orientierte Religionsgeschichte, die die Defizite der traditionellen Kirchengeschichte wie der historischen Forschung gleichermaßen beseitigen soll, indem sie der religiösen Erfahrung vergangener Gesellschaften eine stärkere kulturelle Autonomie zubilligt. Ohne einer schwer zu fassenden historischen Individualität das Wort zu reden, soll Religion als seelische Grundausstattung des Menschen begriffen werden, die nicht ohne die zugleich erfahrungsprägenden Strukturen zu fassen ist. Der Ansatz vermag so weit zu überzeugen. Aber die Frage, warum um 1800 ein Paradigmenwechsel weg von religiöser Aufklärung hin zu voraufklärerischen Vorstellungen in Orthodoxie und Ultramontanismus stattgefunden hat, kann auch Hölscher nicht beantworten. Wie sich seine Überlegungen in das Basler Beispiel einordnen lassen, bleibt ebenso offen.

Damit wäre bereits ein grundlegender Mangel des Buches benannt. Die in Anspruch und Qualität sehr disparaten Einzelbeiträge stehen recht lose und ohne inneren Zusammenhalt nebeneinander. So bilden die allgemeineren Beiträge Liedhegeners und Hölschers den Rahmen für die einzelnen regionalen Ansätze. Aber es wäre zu fragen, wie Liedhegeners Ergebnisse zu großstädtischer Religion sich zum konkreten Beispiel Basel verhalten. Passt die Stadt in das entwickelte Schema, fällt sie hinaus? Wie ließe sich Hölschers Ansatz für eine Erforschung der spezifischen Basler Frömmigkeit fruchtbar machen? Etwas mehr Orientierung hätten die Herausgeber in der Einleitung geben können. Sie beschränken sich jedoch darauf, Desiderate zu formulieren: Eine Definition des Frommen Basel, was dessen zeitliche, soziale und programmatische Dimension anbelangt, weitere komparative Studien, aber auch vertiefte Quellenstudien zu Basler Einzelphänomenen. So versteht sich der Sammelband auch eher als eine Zwischenbilanz, die zu weiteren Arbeiten ermuntern soll. Eine Auflistung frommer Zeitschriften im Basel des 19. Jahrhundert und eine Bibliografie leisten dafür wertvolle Hilfe.

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