I. Worthington: Demosthenes of Athens

Cover
Titel
Demosthenes of Athens and the Fall of Classical Greece.


Autor(en)
Worthington, Ian
Erschienen
Anzahl Seiten
XXIV, 382 S.
Preis
£ 22,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Müller, Institut für Klassische Altertumskunde, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Ian Worthington, Frederick A. Middlebush Professor of History an der University of Missouri, Herausgeber von Brill’s New Jacoby und einer der renommiertesten Experten für griechische und makedonische Geschichte des 4. Jahrhunderts v.Chr. sowie für griechische Rhetorik, insbesondere für die attischen Redner1, legt nach zahlreichen Aufsätzen und einem einflussreichen Sammelband zu Demosthenes nun dessen Biographie vor.2 Seine Intention ist dabei, Demosthenes nicht aus philologischer Sicht als berühmten Rhetor zu behandeln, sondern aus althistorischer Perspektive neue Einblicke in die Motive seiner rund drei Jahrzehnte umfassenden Politik im Rahmen der umwälzenden Ereignisse des Aufstiegs Makedoniens und der Konfrontation mit Athen zu geben. Der Ansatz, „as well-rounded a portrait of Demosthenes as possible“ zu präsentieren (S. vii), beinhaltet zugleich die Abgrenzung von Tendenzen zur Heldenverklärung des Demosthenes in der älteren Forschung: „It would appear perverse to label Demosthenes as a hero, as W. Jaeger intimated in his study“ (S. 7).3

Demosthenes’ Lebensabschnitte, Reden und politische Aktionen werden chronologisch in fünfzehn Kapiteln behandelt. Der Band ist mit 15 Schwarzweißabbildungen, drei Landkarten, einer Zeitleiste mit den wichtigsten Stationen im Leben des Protagonisten (S. xv–xix), einer Liste seiner Reden und ihrer Zählung (S. xxi–xxii), einer Bibliographie (S. 347–367), einem kurzen Appendix zur attischen Drachme und zum attischen Kalenderjahr (S. 345) und einem Index (S. 369–382) ausgestattet.

Kapitel 1 (S. 1–8) führt mit einem kurzen Ausblick auf die Schlacht bei Chaironeia 338 v.Chr. und Demosthenes’ postumer Würdigung durch die Athener mit einer Bronzestatue auf der Agora ins Thema ein. Mit dem Sieger von Chaironeia wird zugleich die Person vorgestellt, mit der Demosthenes’ politische Laufbahn untrennbar verbunden ist: „The story of Demosthenes is also the story of Philip II“ (S. 4). Entsprechend nimmt die Geschichte von Demosthenes’ Gegnerschaft zu Philipp den Hauptteil des Buchs ein. In Kapitel 2 (S. 9–41) widmet sich Worthington Demosthenes’ familiärem und sozialem Hintergrund. Sein Ringen um sein Erbe und der schwierige Weg des stotternden, kränklichen Kindes zum Redner ist als „triumph over adversity“ (S. vii) geschildert. Kapitel 3 (S. 42–70) umreißt den historischen Hintergrund des Aufstiegs Makedoniens unter Philipp II. und zeigt die kulturellen, politischen und sozialen Unterschiede zwischen Makedonien und Griechenland auf. Worthington, dessen Verdienst es ist, Philipp II. in seiner Bedeutung für Makedonien aus dem Schatten Alexanders geholt zu haben4, betont noch einmal die Dimension von Philipps Leistungen.

Die Kapitel 4 bis 10 sind der makedonischen Expansion und der Genese von Philipps Balkanreich sowie Demosthenes’ Karriere in Athen in den jeweiligen Verflechtungen miteinander bis zum einschneidenden Ereignis des makedonischen Siegs bei Chaironeia gewidmet (S. 71–254). Bezüglich der Streitfrage, ob die Kriegserklärung durch Athen oder Philipp II. erfolgt sei, revidiert Worthington seine in der Biographie Philipps II. vertretene These5, der Herrscher habe dies in einem Brief getan, zugunsten der dominierenden Ansicht, wonach Athen den entscheidenden Schritt unternommen habe (S. 233, Anm. 103). Zugleich betont Worthington aber den Konfrontationskurs beider Seiten. Kapitel 11 (S. 255–274) behandelt die Zeit nach Chaironeia: die Beschlüsse in Korinth, Philipps dynastiepolitische Maßnahmen und seine Ermordung. Worthington hält die Überlieferung, wonach Demosthenes mit Freudenausbrüchen auf die Todesnachricht reagiert habe, für authentisch (S. 273).6 Die Kapitel 12–14 (S. 275–325) behandeln Demosthenes’ Verhältnis zur neuen makedonischen Regierung unter Alexander. Die Harpalos-Affäre bildet dabei naturgemäß einen Schwerpunkt. Worthingtons Anliegen ist es, die dominierende Ansicht, Demosthenes habe während Alexanders Herrschaft so gut wie nichts politisch geleistet, zu widerlegen (S. 285–287).7 Das letzte Kapitel (S. 326–344) behandelt Demosthenes’ Exil und seinen Tod im Kontext des Lamischen Kriegs, den Antipater, Graue Eminenz im Alexanderreich und letzter verbliebener Kopf der einflussreichen niedermakedonischen faction um Parmenion, niederschlug. Das Kapitel schließt mit einem kurzen Ausblick auf Demosthenes’ Nachleben.

Zu Demosthenes’ politischer Haltung existieren in der Debatte zwei diametrale Hauptstandpunkte: Auf der einen Seite gilt der Redner als Vorkämpfer für die „Freiheit Griechenlands“, als den ihn zuletzt Lehmann dargestellt hat.8 Die alternative Position, maßgeblich vertreten durch Wirth, sieht Demosthenes wesentlich kritischer als einen Politiker mit durchaus opportunistischen Zügen, der unter Alexander die vielbeschworene autonomia der Athener selbst fragwürdig gemacht habe.9 Worthington vertritt gleichsam eine Mittelposition: Er macht zwar klar, dass Demosthenes’ persönlicher politischer Profit untrennbar mit seinem Auftreten unter der Freiheitsparole verbunden war und dieses Auftreten teilweise mit sehr polemischen Mitteln erfolgt sei. Zugleich werden jedoch Vorstellungen von idealistischen Ansätzen, wie sie der Protagonist sicher befürwortet hätte, nicht völlig ausgeschlossen. Ein Heldenbild des Redners wird dennoch nicht gezeichnet.

Die Studie ist erwartungsgemäß ebenso fundiert wie stimulierend, steckt voller Detailkenntnisse und offenbart die umfassende Übersicht über Quellen und Forschungsdebatten einer jahrzehntelangen Expertise. Zugleich wird mit dem lebhaften Bild von Demosthenes’ politischer Karriere auch ein breiteres Publikum angesprochen. Herauszuheben ist die Differenziertheit der Bewertungen: zum einen der Rolle der Perser gegenüber Hellas im historischen Überblick (S. 85), zum anderen der Frage von Formen der Sexualität im klassischen Griechenland unter Verweis auf den Anachronismus des Begriffs der Homosexualität (S. 29–31) und schließlich der kulturellen Unterschiede zwischen Makedonen und Griechen (S. 51–53). Darüber hinaus hätte der griechische Topos des vermeintlich unmäßigen makedonischen Symposions mit dem angeblich stetigen Genuss ungemischten Weins und der konsequenten Stilisierung makedonischer Herrscher zu Trunkenbolden (S. 51f.) etwas kritischer beleuchtet werden können.10

Dissens scheint mir weniger in der Sache möglich, eher bei einigen wenigen Punkten in Wertung und Gewichtung. So könnte man bei den mühsamen Anfängen von Demosthenes’ Karriere Tendenzen der literarischen Stilisierung gemäß dem kulturell und zeitlich übergreifenden beliebten Modell des schwierigen Aufstiegs aus dem Nichts zu großer Macht vermuten – modern ausgedrückt geht es um das Image des ‚Selfmademan‘: Demosthenes’ Leidensweg, wie ihn gerade Plutarch darbietet, erweckt diesen Eindruck. Schon Demosthenes selbst mag ein Interesse daran gehabt haben, seine Karriere entsprechend zu stilisieren.

Bezüglich der Hintergründe der Ermordung Philipps, die eine nahezu unüberschaubare Forschungsdebatte ausgelöst hat, mag man Worthingtons Argumentation zugunsten einer Beteiligung von Olympias und Alexander folgen oder anderer Meinung sein. Ein Gegenargument wäre Alexanders schwache Position zum Zeitpunkt von Philipps Tod: Er verdankte den Thron der Fürsprache Antipaters und Parmenions mit ihren factions und musste als Konsequenz in seinen Regierungsanfängen ihre Kontrolle dulden.11 Ein weiteres quellenkritisches Argument hat Elizabeth Carney mit der Dekonstruktion der topischen Negativstilisierung der Olympias als einer eifersüchtigen, machthungrigen Verschwörerin geliefert.12 Auch von anderer Seite wurde darauf verwiesen, dass dieses Zerrbild wohl nicht zuletzt durch Kassanders negative Sprachregelung im Kontext seines Kampfs gegen Olympias und ihre Anhänger beeinflusst worden sei.13 Eine Alternative zu Alexander und Olympias als mutmaßlichen Drahtziehern des Mordes hat Bosworth aufgezeigt: Demnach hätten sich die obermakedonischen Fürsten, insbesondere der Lynkestis, gegen die Dominanz der niedermakedonischen „Junta“ des Parmenion und Attalos, Philipps Kommandeuren seiner Vorhut in Kleinasien, in deren Familie er in siebter und letzter Ehe eingeheiratet hatte, zur Wehr gesetzt.14

Eine weitere Streitfrage ist die Identität des Toten im sogenannten Philippsgrab in Vergina, verknüpft mit der Debatte um die unterschiedlichen Ergebnisse verschiedener medizinischer Untersuchungen des Skeletts, um die Tragfähigkeit der umstrittenen Wachsrekonstruktionen des Totenschädels (Abb. 2) sowie um die Zuweisung einer ihrer Vorlagen, eines Elfenbeinköpfchens aus dem Grab, an Philipp (Abb. 7). In seiner Biographie Philipps II. hat Worthington diesen Themenkomplex problemorientiert behandelt und sich gegen eine Identifizierung des Skeletts mit dem Herrscher Makedoniens ausgesprochen.15

Insgesamt handelt es sich um das kompetente, fundierte Werk eines erwiesenen Kenners, das sicherlich den Rang eines Standardwerks erlangen wird. Entsprechend sei die Lektüre jedem anempfohlen, der sich für Demosthenes, Philipp II. und die Beziehungen zwischen Athen und Makedonien im 4. Jahrhundert v.Chr. interessiert.

Anmerkungen:
1 Zur griechischen Rhetorik vgl. Ian Worthington, A Historical Commentary on Dinarchus. Rhetoric and Conspiracy in Later Fourth-Century Athens, Ann Arbor 1992; Greek Orators 2, Dinarchus 1 and Hyperides 5 & 6, Warminster 1999. Als Herausgeber: Persuasion. Greek Rhetorik in Action, London 1994; Blackwell Companion to Greek Rhetoric, Malden 2007. Zur makedonischen und griechischen Geschichte vgl. Ian Worthington, Alexander the Great, Man and God, London 2004; Philip II of Macedonia, New Haven 2008. Als Herausgeber: Ventures into Greek History. Essays in Honour of N. G. L. Hammond, Oxford 1994. Als Mitherausgeber: Blackwell Companion to Ancient Macedonia, Oxford 2010.
2 Vgl. Ian Worthington, Plutarch Dem. 25 and Demosthenes’ Cup, in: Classical Philology 80 (1985), S. 229–233; Pausanias II 33,4–5 and Demosthenes, in: Hermes 113 (1985), S. 123–125; The Authenticity of Demosthenes’ Fourth Philippic, in: Mnemosyne 44 (1991), S. 425–428; The Authorship of the Demosthenic Epitaphios, in: Museum Helveticum 60 (2003), S. 152–157; Demosthenes: Speeches 60 and 61, Prologues, Letters, Austin 2006. Als Herausgeber: Demosthenes. Statesman and Orator, London 2000.
3 Vgl. Werner Jaeger, Demosthenes, Berlin 1939.
4 Vgl. Ian Worthington, ‚Worldwide Empire‘ versus ‚Glorious Enterprise‘: Diodorus and Justin on Philip II and Alexander the Great, in: Elizabeth Carney / Daniel Ogden (Hrsg.), Philip II and Alexander the Great. Lives and Afterlives, Oxford 2010, S. 165–174. Siehe auch Worthington, Philip II, S. 204–208.
5 Vgl. Worthington, Philip II, S. 129.
6 Plut. Demosth. 22,1–3.
7 Vgl. Ian Worthington, Demosthenes’ (In)activity during the Reign of Alexander the Great, in: ders. (Hrsg.), Demosthenes. Statesman and Orator, London 2000, S. 90–113.
8 Vgl. Gustav Adolf Lehmann, Demosthenes von Athen. Ein Leben für die Freiheit, München 2004, bes. S. 38 u. 129.
9 Vgl. Gerhard Wirth, Hypereides, Lykurg und die autonomia der Athener, Wien 1999, S. 81–165. Dieser Titel fehlt leider in der Bibliographie.
10 Zur Dekonstruktion der Topik vgl. Frances Pownall, The Symposia of Philip II and Alexander III of Macedon: The View from Greece, in: Elizabeth Carney / Daniel Ogden (Hrsg.), Philip II and Alexander the Great. Lives and Afterlives, Oxford 2010, S. 55–65; dies., The Decadence of the Thessalians: A Topos in the Greek Intellectual Tradition from Critias to the Time of Alexander, in: Pat Wheatley / Robert Hannah (Hrsg.), Alexander & His Succcessors, Claremont 2009, S. 237–260, hier S. 244–247; Sabine Müller, „Mehr hast du getrunken als König Alexander“. Alkoholsucht im antiken griechischen Diskurs, in: Christian Hoffstadt / Remo Bernasconi (Hrsg.), An den Grenzen der Sucht, Bochum 2009, S. 205–222; Konrad Vössing, Mensa regia. Das Bankett beim hellenistischen König und beim römischen Kaiser, München 2004, S. 66. Athen. 3,124 C berichtet auch vom Genuss ungemischten Weins bei Alexanders Symposion.
11 Vgl. Elizabeth Carney, Olympias. Mother of Alexander the Great, New York 2006, S. 39–41; dies., The Politics of Polygamy: Olympias, Alexander, and the Death of Philip II, in: Historia 41 (1992), S. 169–189; Waldemar Heckel, Who’s Who in the Empire of Alexander the Great, Oxford 2009, S. 190; Gerhard Wirth, Der Brand von Persepolis, Amsterdam 1993, S. 35f.; ders., Vermutungen zum frühen Alexander (I), in: Gerhard Wirth, Studien zur Alexandergeschichte, Darmstadt 1985, S. 168–182, hier S. 172 u. 177; ders., Philipp II. (= Geschichte Makedoniens 1), Stuttgart 1985, S. 165. So ist auch die Historizität der Anekdote (S. 266), wonach Attalos bei Philipps Hochzeitsfeier mit Kleopatra Alexanders Legitimität ins Zweifel gezogen und damit einen Streit entfacht habe, bei dem ein sturzbetrunkener Philipp am Ende den eigenen Sohn mit dem Schwert bedroht habe (Plut. Alex. 9,4; Just. 9,7,3–5; Athen. 13,557 D), sicherlich zu Recht angezweifelt worden. Vgl. Carney, Olympias, S. 31–36. Dies gilt auch für die angebliche Vergiftung des Arrhidaios durch Olympias (S. 269f.), die zu seiner mentalen Indisposition geführt habe (Plut. Alex. 77,5). Vgl. Elizabeth Carney, The Trouble with Philip Arrhidaeus, in: Ancient History Bulletin 15 (2001), S. 63–89. Zur Dekonstruktion des Topos, es habe sich bei Philipps siebter Ehe um eine Liebesheirat gehandelt (S. 265), wie Satyros (Athen. 13,557 E) behauptet, vgl. Sabine Müller, Das hellenistische Königspaar in der medialen Repräsentation, Berlin 2009, S. 36–38. Auch die Frage Alexanders (S. 270) im Orakelheiligtum des Ammon in der Oase Siwa nach den Mördern seines Vaters Philipp (Diod. 17,51,1–2; Curt. 4,7,25; Plut. Alex. 27,3–4) gilt als spätere Erfindung (vgl. dazu Arr. an. 3,4,5). So bereits aufgezeigt von: Ulrich Wilcken, Alexanders Zug in die Oase Siwa, Berlin 1928, S. 271. Ermessenssache ist zudem, inwieweit man angesichts der prekären, lückenhaften Evidenz die These befürwortet, dass Demosthenes tatsächlich Alexanders Vergöttlichung beantragt habe (S. 314). Der kultische Charakter der beantragten Statue ist durchaus umstritten. Siehe auch Wirth, Hypereides, S. 146–165.
12 Vgl. Elizabeth Carney, Olympias and the Image of the Royal Virago, in: Phoenix 47 (1993), S. 29–56; dies., Olympias, in: Ancient Society 18 (1987), S. 35–62.
13 Vgl. Gerhard Wirth, Alexander, Kassander und andere Zeitgenossen. Erwägungen zum Problem ihrer Selbstdarstellung, in: Tyche 4 (1989), S. 193–220.
14 Vgl. Brian Bosworth, Philip II and Upper Macedonia, in: Classical Quarterly 21 (1971), S. 93–105, hier S. 102; ders., Conquest and Empire, Cambridge 1988, S. 25. Akzeptiert von Sabine Müller, Philip II., in: Joseph Roisman / Ian Worthington (Hrsg.), Blackwell Companion to Ancient Macedonia, Oxford 2010, S. 166–185, hier S. 183.
15 Vgl. Worthington, Philip II, S. 237–241. Siehe auch Antonis Bartsiokas, The Eye Injury of King Philip II and the Sceletal Evidence from the Royal Tomb II at Vergina, in: Science 21, 288, no. 5465 (2000), S. 511–514.

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