Titel
Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944


Autor(en)
Gerlach, Christian
Erschienen
Anzahl Seiten
1232 S.
Preis
DM 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabel Heinemann, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Historisches Seminar Universität Freiburg

In seiner Studie über die deutsche Besatzungspolitik in Weißrußland fragt der Historiker Christian Gerlach nach dem Zusammenhang von Wirtschaft und Vernichtung. Weißrußland entwickelte sich unter deutscher Besatzung zu einem Zentrum der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Hier wurde nicht nur über eine halbe Million Juden ermordet, es starben auch hunderttausende sowjetischer Kriegsgefangene, und zahllose Zivilisten wurden als Partisanen getötet oder dem Hungertod preisgegeben. Zusätzlich wurden große Teile des Landes, der Städte, der Industrie und Infrastruktur zerstört. Warum war Weißrußland so besonders betroffen, ein agrarisches Land mit wenig Industrie und ohne Bodenschätze? Und warum eine solche Schreckensbilanz? Zur Erklärung sucht Gerlach nach der Struktur der Massenmorde und schildert Weißrußland als Testfall der nationalsozialistischen Besatzungspolitik, als Extrembeispiel für das Zusammenwirken von Vernichtung, Hunger, ruinöser und terroristischer Strukturpolitik.
Zunächst sind die beiden maßgeblichen Prämissen der Arbeit zu nennen: Erstens betrachtet Gerlach das gesamte Weißrußland in seinen Nachkriegsgrenzen, was für die Zeit der nationalsozialistischen Besatzung Teile weiterer Verwaltungsbezirke mit einschließt - nämlich nicht nur das zivil verwaltete Generalkommissariat Weißruthenien und das sogenannte Rückwärtige Heeresgebiet Mitte, welches sich unter Militärverwaltung befand und das Hinterland der Front im Osten darstellte. Hinzu kommen Teile des 1941 Ostpreußen zugeschlagenen Bezirks Bialystok (ehemals Ostpolen) im Westen, Teile der zum Reichskommissariat Ukraine gehörenden Generalkommissariate Wolhynien und Podolien sowie Shitomir im Süden, sowie ein kleines Gebiet des Generalkommissariats Litauen im Nordwesten. Dieser Entschluß überrascht - ist man doch gewöhnt, nach deutschen Verwaltungsgebieten zu unterscheiden - bringt aber Vorteile für die historische Darstellung. So gewinnt der Leser nicht nur eine breitere Perspektive, sondern der Vergleich der Entwicklung des Vernichtungsgeschehens in den verschiedenen Regionen unter unterschiedlicher Verwaltung wird möglich. Dies ist ein Vorzug, denn die bislang einzige neuere Studie zur Geschichte Weißrußlands, die eher alltagsgeschichtlich orientierte Arbeit von Bernhard Chiari 1, focussiert vor allem auf das Generalkommissariat Weißruthenien.
Zweitens geht es Gerlach um eine Analyse der Faktoren Wirtschaft und Vernichtung im Zusammenhang. Dies bedeutet, daß die Geschichte von Judenvernichtung, von Krieg und Terror gegenüber der Zivilbevölkerung und vom Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen in Weißrußland bezogen wird auf die Problematiken von Kriegswirtschaft, Agrarproduktion und Ernährungslage. Für Gerlach erklärt sich die verbrecherische Bevölkerungspolitik der Nationalsozialisten in Weißrußland - die Opferbilanz umfaßt bei Kriegsende 1,6 bis 1,7 Millionen Menschen von ehemals 9 Millionen, darunter über 500.000 Juden - zu einem wesentlichen Teil aus der Ernährungswirtschaft. Den Tätern aus SS, Polizei und Wehrmacht werden die Landwirtschaftsfunktionäre als Planer und Exekutoren der mörderischen Ausbeutung des Besatzungsgebietes und einer gezielten Hungerpolitik an die Seite gestellt.
Auch für den Aufbau der Studie sind die beiden zu untersuchenden Faktoren Wirtschaft und Vernichtung bestimmend: Die deutsche Wirtschaftspolitik in Weißrußland von 1941 bis 1944 wird abgehandelt unter den Aspekten Landwirtschaft und Ernährung, Entindustrialisierung und Arbeitskräftepolitik. Wichtigste Leitlinie für die Agrarpolitik war der Gedanke der Versorgung der Truppen 'aus dem Land'. Wichtigste Voraussetzung für eine solche 'Selbstversorgung' und gleichzeitige Entlastung der deutschen Ernährungsbilanz war der möglichst unumschränkte Zugriff auf die landwirtschaftlichen Produkte, die lückenlose 'Erfassung'. Die Folge war die planmäßige Unterversorgung der Zivilbevölkerung, das gezielte Hungernlassen zunächst vor allem der Stadtbevölkerung. Der Druck auf die weißrussischen Städte wurde noch verstärkt durch das Konzept der 'Industrierückbildung', der geplanten Entindustrialisierung und Entstädterung. Bereits im Sommer 1941 waren fast alle größeren weißrussischen Städte zu mehr als der Hälfte zerstört und die ohnehin erst schwach entwickelte weißrussische Industrie lag völlig darnieder. Die deutschen Besatzer hatten kein Interesse an einem Wiederaufbau, sondern legten weitere Betriebe und Branchen still - Nahrungsmittel- und Rohstofferzeugung hatte absoluten Vorrang. Gerlach bilanziert einen dramatischen Rückgang der Einwohnerzahl der größeren Städte (um 64% bis 1943, in der Ukraine dagegen um 55%; S. 422) - explizite Vernichtungsaktionen und vor allem der Mord an den weißrussischen Juden reichen als Erklärung hierfür allein nicht aus. Mangel, Hunger und gezielte Umsiedlungen taten ein übriges. Entscheidend ist, daß es sich hier ebenso wie in Fragen der Ernährung um eine bewußte Bevölkerungspolitik handelte, man plante niedrige Einwohnerzahlen zur Erwirtschaftung von Nahrungsüberschüssen, und man realisierte sie auch. Die Arbeitskräftepolitik folgte einem Spannungsbogen von anfänglichem Desinteresse gerade am städtischen Arbeitskräftepotential und hoher Arbeitslosigkeit über die gezielte Arbeitskräftebeschaffung unter der Stadtbevölkerung bis hin zur Auskämmung der ländlichen Regionen und den Versuchen, auch während des Rückzuges unter den Evakuierten noch die letzte Arbeitskraft zu mobilisieren - immer mit dem Ziel, das meistmögliche an Produktion und Ressourcen aus dem Besatzungsgebiet herauszuholen. Ab 1942 gewann daneben die Verschleppung von Zivilarbeitern zum Arbeitseinsatz im Reich an Bedeutung, und zwar aus den gesamten besetzten Gebieten der Sowjetunion. Aus Weißrußland wurden nach Gerlachs Berechnungen etwa 386.000 Menschen nach Deutschland gebracht (S. 462).
Die deutsche Vernichtungspolitik hingegen wird beschrieben anhand der Ermordung der weißrussischen Juden, aber auch der sowjetischen Kriegsgefangenen in Weißrußland und anhand der immer brutaleren 'Partisanenbekämpfung'. Aufbauend auf seiner These vom Primat der deutschen Ernährungsinteressen betont Gerlach die Planmäßigkeit des Hungertodes von annähernd 700.000 Kriegsgefangenen in den Gefangenenlagern und setzt ihn gleichzeitig in Bezug zur Herausbildung des konkreten Massenmordprogramms an den sowjetischen Juden in den Monaten von September bis November 1941. Die Fortführung des Krieges und die Ernährung der Truppe sollten gesichert werden - und alle 'unnützen Esser' (und rassischen Gegner) mußten sterben. Auch das Vorgehen der Besatzer gegen vermeintliche Partisanen, d.h. gegen die Zivilbevölkerung ganzer Regionen, zeigt in Gerlachs Darstellung die Verbindung von Wirtschaftsinteressen, Jagd auf Arbeitskräfte und Terror: Im verschiedenen Wellen entwickelte sich so etwas wie eine 'Strukturpolitik durch Terror', die sich vor allem gegen Dörfer und Gebiete richtete, welche ihr Ablieferungssoll nicht erfüllt hatten. Zugleich ging es darum, möglichst viele Menschen für den Arbeitseinsatz zu erfassen. Schließlich wurden ganze Regionen, und zwar gerade die strategisch bedeutsamen, zu völlig entvölkerten 'toten Zonen' gemacht.
Zu den Leistungen des Buches gehört es, den Judenmord in Weißrußland im Kontext der gesamten Vernichtungspolitik zu analysieren und darzustellen - was eine entscheidende Erweiterung des Blickwinkel bedeutet. Gleichzeitig ist das Kapitel über die Ermordung der weißrussischen Juden das umfangreichste und beste des Buches. In Weißrußland fand die Ermordung der Juden in den bekannten Schritten statt: Hier wurden die 'verbrecherischen Befehle' von SS und Wehrmacht umgesetzt, hier wüteten Einsatzkommandos und Polizei gemeinsam bei den Massenerschießungen im Sommer 1941, hier vollzog sich der Übergang zur planmäßigen Vernichtung im Herbst 1941, und schließlich wurde hier ebenso die totale Auslöschung der Ghettos und Lager realisiert (ab 1942 bis zur Liquidierung des Ghettos von Minsk im September 1943). Gerlach verweist ferner auf die Rolle Weißrußlands als 'Testgebiet' für neue Vernichtungstechniken, und als Ziel für Deportationszüge westeuropäischer Juden (S. 646). In Minsk und Mogilew fanden 1941 Gaskammerversuche statt und zugleich existierten Pläne für den Ausbau Mogilews zu einem 'europäischen Vernichtungszentrum', die allerdings nur ansatzweise realisiert wurden. Am Beispiel des Generalkommissariates Weißruthenien weist Gerlach nach, wie Zivilverwaltung und Sicherheitspolizei äußerst erfolgreich als Initiatoren einer großen Mordkampagne gegenüber den restlichen weißruthenischen Juden im Sommer 1942 zusammenarbeiteten (Zwischen Mai und August 1942 forderten die Aktionen allein über 50.000 Opfer. S. 705). Die Kooperation von Zivilverwaltung, Militärverwaltung und SS zieht sich (trotz gelegentlicher Interessenkonflikte) wie ein roter Faden durch das gesamte Vernichtungsgeschehen und trägt ein Gutteil zu dessen Erklärung bei: Vernichtungspolitik in Weißrußland - das bedeutet nicht nur die Verfolgung einer ernährungspolitischen Zielsetzung und das Vorhandensein eines rassistischen Grundkonsenses, sondern vor allem auch arbeitsteiliges Vorgehen - dies herausgearbeitet zu haben ist ein weiterer Vorzug der Studie. Bleibt zu hoffen, daß in Zukunft nicht nur Entscheidungsträger der Zivil- und Militärverwaltung verstärkt ins Blickfeld der Historiker rücken, sondern auch Entscheidungsprozesse und koordiniertes Vernichtungshandeln der verschiedenen Stellen.
Die Hauptthese des Buches, die Annahme eines ursächlichen Zusammenhanges von deutschen Wirtschaftsinteressen und Vernichtungspolitik wird an zahlreichen Beispielen verdeutlicht und plausibel belegt. Vernichtung erschöpfte sich nicht in Umsiedlung, Deportation und Mord, sondern hatte die Vorstufen von geplantem Hunger und bewußter Vernachlässigung. Gleichzeitig wurde gemordet, um Ernährungsreserven zu sichern und in den Dienst der deutschen Kriegsführung zu stellen. Gerlach gelingt es, ein weiteres wichtiges Strukturelement des Verbrechens herauszuarbeiten und gleichzeitig einen bislang noch wenig beachteten mittelbaren, aber gleichwohl wichtigen Täterkreis zu präsentieren: denjenigen der Ernährungsplaner und Landwirtschaftsexperten aus dem Kreise des Reichsernährungsministeriums und anderer Dienststellen. Hierbei geht er in der Beschreibung ihrer Verantwortung für die 'gezielte Hungerpolitik' in Weißrußland und den besetzten Gebieten der Sowjetunion weit über die Anregungen hinaus, die Susanne Heim und Götz Aly bereits 1993 gaben. 2
Es ist Gerlachs Verdienst, die Thesen von der Vernachlässigung des wirtschaftlich nutzlosen Weißrußlands durch die deutsche Besatzung und von einer ökonomisch völlig kontraproduktiven, also rein ideologischen und willkürlichen Vernichtungspolitik konsequent widerlegt zu haben. Deutsche Wirtschafts- und Ernährungsinteressen in Weißrußland erklären wesentliche Elemente der Besatzungs- und Vernichtungspolitik - meines Erachtens aber eben doch nicht alle. Zwar ist plausibel, daß die Besatzer eine besonders brutale Politik verfolgten, um aus dem Zuschußgebiet Weißrußland überhaupt etwas an Agrarprodukten herauszuholen. Die Ermordung der nicht arbeitsfähigen Kriegsgefangenen und eines Teils der Zivilbevölkerung, zusammen etwa eine Million Menschen, erscheint so als menschenverachtende, aber 'wirtschaftlich rationale' Maßnahme zur Entlastung der Ernährungsbilanz. Doch es bleibt weiterhin Erklärungsbedarf: Warum, wenn nicht aus Gründen der Vollendung einer rassistischen Idee, mußten ausnahmslos alle Juden sterben, beispielsweise auch die wirtschaftlich dringend benötigten jüdischer Handwerker in den Städten? Gerlach konzediert im Schlußwort selbst eine enge Verbindung zwischen wirtschaftlichen und ideologischen Zielsetzungen im besetzten Weißrußland und fordert, Ideologie und Ökonomie nicht länger als Gegensätze zu begreifen (S. 1145) - allein findet diese Überlegung so gut wie keinen Eingang in die vorangegangene Darstellung. Doch hier, am Zusammenhang von ideologischen-rassistischen und wirtschaftlichen Interessen in der Besatzungsverwaltung sollten weitere Forschungen zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ansetzten. Auch könnte ein Studie über die Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in der viel produktiveren Ukraine, gleichsam die Nagelprobe auf die Wirtschaftsthese liefern und die Frage nach dem Zusammenhang zur Ermordung der Juden dort neu stellen.
Ein anderes Kernargument der Studie ist, daß es den Deutschen in Weißrußland überhaupt nicht um Siedlungsinteressen, sondern ausschließlich um wirtschaftliche Ausbeutung als eine Art Kolonialland ging. Doch angesichts der noch unzureichenden Forschung zur deutschen Siedlungspolitik in Europa ist hier Vorsicht angebracht. Richtig ist, daß die deutschen Siedlungsansätze in Weißrußland während des Krieges fragmentarisch blieben. Gegeben hat es sie aber schon, allerdings vor allem im Verantwortungsbereich der SS. Richtig ist auch, die visionäre Siedlungsplanung mit der konkreten Siedlungspolitik zu vergleichen. Aber Gerlach greift zu kurz, wenn er die nicht oder noch nicht realisierten Pläne völlig außen vor läßt - auch der utopische 'Hungerplan' wurde ja (glücklicherweise!) nicht vollständig verwirklicht. Nach der Variante des Generalplan Ost, die 1941 im RSHA erarbeitet wurde, hatte Weißrußland sehr wohl auch seine Nachkriegsaufgabe als deutsches Siedlungsland. Zu diesem Zweck sollten 75% seiner Bevölkerung ausgesiedelt werden ('nach Sibirien') und 25% sollten (bei rassischer Eignung) eingedeutscht werden. Vollendet wurde das nicht, aber Weißrußland verlor während des Krieges rund 20% seiner Bevölkerung und 64% seiner Stadtbewohner - siedlungspolitisch ja beileibe kein Widerspruch. Gleichzeitig nahmen die Rasseexperten der SS bei den HSSPF Rußland Mitte und Rußland Süd ihre Tätigkeit auf und begannen mit rassischen Selektionen. Vieles spricht auch in Weißrußland für einen zusätzlichen Zusammenhang zwischen geplanter Ansiedlung, Umsiedlung und Vernichtung von Zivilbevölkerung.
Wer die Mühe auf sich nimmt, die gut 1200 Seiten der dichten, quellengesättigten Darstellung zu rezipieren, wird dafür reich belohnt. Allerdings wäre zu wünschen, daß sich der Autor in absehbarer Zeit zu einer gestrafften Taschenbuchversion entschließt, damit das hier ausgebreitete (und für unser Verständnis der Besatzungspolitik in der Sowjetunion dringend benötigte Wissen) auch wirklich einem breiten Kreis von Lesern zugänglich wird.
Anmerkungen:
1 Bernhard Chiari: Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941 - 1944. Düsseldorf 1998.
2 Götz Aly / Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Frankfurt a.M. 1993.

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