Cover
Titel
Nuclear Statecraft. History and Strategy in America’s Atomic Age


Autor(en)
Gavin, Francis J.
Reihe
Cornell Studies in Security Affairs
Erschienen
Anzahl Seiten
218 S.
Preis
$35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arvid Schors, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Bei der Atombombe handelt es sich um einen der wesentlichen Einflussfaktoren der Geschichte der internationalen Beziehungen nach 1945. Zwar kam es seit dieser Epochenzäsur bislang zu keinem weiteren Einsatz von Atomwaffen, so dass diese keine praktische militärische Relevanz mehr erlangten. Doch wird der Atombombe als „differentia specifica des Kalten Krieges“1 gemeinhin eine herausragende Bedeutung beigemessen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr hat dementsprechend eine breit gefächerte Spezialliteratur geschaffen. Bei ihren prägenden Autoren handelt es sich vor allem um Ökonomen, Theoretiker der Internationalen Beziehungen und Naturwissenschaftler.

Der Historiker Francis Gavin, Professor für International Affairs an der University of Texas at Austin, attestiert diesem Forschungsfeld in seiner neuen Monographie zur politischen Geschichte der Atomwaffe – völlig zu Recht – eine „sometimes ahistorical quality“ (S. 3). Insbesondere kranke der theorielastige Zugriff daran, dass „what is claimed should have happened is often taken for what did happen“ (S. 12). Hingegen sei es bisher unterlassen worden, der zentralen Frage, wie Atomwaffen eigentlich die internationale Politik nach 1945 beeinflusst haben, aus einer historischen Perspektive und auf breiter Quellenbasis nachzugehen.2 Gavin plädiert dafür, das vermeintliche Wissen über die politischen Wirkungen der Atombombe nachdrücklicher um eine historische Dimension zu erweitern. Sein Ziel besteht darin, an Hand des zentralen amerikanischen Falles Mythen über die nukleare Vergangenheit zu korrigieren, die sich nicht nur in der Literatur, sondern auch in der politischen Diskussion festgesetzt hätten. Gavin erkennt darin auch einen direkten Gegenwartsbezug. Denn die historische Beschäftigung mit der Atomwaffe halte wichtige Lehren für heutige nuklearpolitische Herausforderungen bereit.

Gavin versteht sein Buch als Sammlung von „integrated essays“ (S. 2). Es umfasst neben der Einleitung acht weitgehend chronologisch aneinander anschließende Kapitel, die den Bogen von den späten 1950er-Jahren bis in die Gegenwart spannen. Mehr als die Hälfte der Kapitel sind dabei seit dem Jahr 2001 bereits einzeln in Aufsatzform publiziert worden.

In Gavins erstem Fallbeispiel bildet die Abkehr der Kennedy-Regierung von der Doktrin der „massive retaliation“ hin zur „flexible response“ Anfang der 1960er-Jahre den argumentativen Ausgangspunkt. Im Gegensatz zu der in der Literatur verbreiteten Ansicht habe diese Abkehr keinesfalls einen militärpolitischen Paradigmenwechsel eingeleitet. Wichtiger als die militärstrategischen Konsequenzen, so Gavin, sei die Bedeutung der „rhetoric of flexible response“ (S. 31) gewesen. Sie habe es den amerikanischen Regierungen erlaubt, die latenten Spannungen innerhalb der NATO über die „deutsche Frage“ und die damit zusammenhängende „nukleare Frage“ abzumildern. Im darauf folgenden Kapitel geht Gavin auf die Berlin-Krisen zwischen 1958 und 1962 ein. An ihrem Beispiel gelingt ihm der Nachweis, dass die Atomwaffe vor allem in jenen Konflikten destabilisierend wirken kann, bei denen es nicht um die Abschreckung von groß angelegten Angriffen auf das eigene Staatsgebiet geht, sondern um den Versuch „to extend its deterrent over far-flung territories, or [to] manipulate risk in order to change the status quo“ (S. 71).

Damit ist bereits ein zentrales Verdienst des Buches markiert: Die Verfechter der Abschreckungstheorien zielen auf generalisierende Antworten ab, um die Wirkung von Atomwaffen in der internationalen Politik zu bestimmen. Demgegenüber weist Gavin überzeugend nach, dass ihre Wirkung kontextgebunden ist. Ihr zentrales Charakteristikum ist es gerade, dass sie sich einfachen, dichotomen Zuordnungen entziehen. So legt Gavins historischer Blickwinkel nahe, dass von Atomwaffen allein keine unmittelbare Gefahr ausgehen muss, sie aber auch mitnichten zwangsläufig zu Stabilität führen. Für die Entfaltung ihres Destabilisierungspotentials ist dabei das Wechselspiel zwischen nuklearen Kapazitäten einerseits sowie geopolitischen und ideologischen Interessen andererseits ausschlaggebend. Damit bringt Gavin die politischen Triebkräfte der Handelnden zurück ins Bild, die etwa aus der Perspektive der mechanistischen Idee eines „Sicherheitsdilemmas“, das die atomare Rüstungskonkurrenz des Kalten Krieges angetrieben habe, weitgehend marginalisiert werden.3

Die Regierungszeit von Präsident Johnson macht Gavin als Wendepunkt zu einer Politik der nuklearen Nonproliferation aus. Hierbei nimmt er Neigungen der heutigen Zeit, die die nukleare Aufrüstung von vermeintlich neuartigen „Schurkenstaaten“ als ungekannte Herausforderung dramatisieren, einen Teil ihres Alarmismus. Beispielsweise sei auch China unter Mao von den zeitgenössischen amerikanischen Entscheidungsträgern als „irrational and extremist“ (S. 78) wahrgenommen worden. Erst spät verwarfen die USA ihre Vorbereitungen für einen präventiven Militärschlag, der China an der (1964 tatsächlich erfolgten) Ausbildung atomarer Fähigkeiten hätte hindern sollen. In dem anschließenden Kapitel über die nukleare Philosophie von Präsident Nixon und dessen Sicherheitsberater Kissinger nimmt Gavin wiederum eine wichtige historiographische Korrektur vor. So arbeitet er eindrücklich heraus, wie wenig diese tatsächlich mit der Mehrheitsmeinung gemein hatte, die während der 1970er-Jahre in mit Rüstungskontrollpolitik befassten Kreisen vorherrschte. Später gelang es Nixon und Kissinger jedoch, sich – unberechtigterweise – in deren Tradition zu stellen.

In den 1970er-Jahren bildete sich eine nukleare Parität zwischen den Supermächten heraus. Zu den stärksten Kapiteln gehört Gavins Auseinandersetzung mit der amerikanischen Reaktion auf diese Entwicklung. Differenziert arbeitet er die unterschiedlichen Denkschulen heraus, die zeitgenössisch den strategischen Diskurs und die Politik prägten, und seziert ihre inhärenten Widersprüche. Gleichzeitig legt er eine bislang kaum beachtete Perspektive auf diese gewöhnlich „esoteric and even bizarre“ anmutenden Debatten frei, indem er sich nicht von deren aseptischen Jargon und technischen Vokabular täuschen lässt. Vielmehr macht er darauf aufmerksam, dass die spezifische Sprache und der vermeintlich technische Fokus dieser Diskussionen, die die klügsten Köpfe des Kalten Krieges jahrelang führten, „often masked divergent views of international relations and the place of the United States in global politics“ (S. 120).

Darüber hinaus unterstreicht Gavin eine indirekte zeitgenössische Reaktion auf die nuklearstrategische Pattsituation, die er als neuartige „sensibility“ (S. 128) beschreibt. Darunter subsumiert er ein breites Spektrum an Entwicklungen. Diese reichen von der Herausbildung einer transnationalen Friedensbewegung, die für die atomare Abrüstung protestierte, über die Etablierung eines „nuklearen Tabus“4 bis hin zu einer nicht unmittelbar mit der Atombombe zusammenhängenden Abkehr von der Idee eines Weltkrieges. Auch die einsetzende Globalisierung wertet er als Faktor bei diesen subtilen Wahrnehmungsverschiebungen. Insgesamt, so Gavin, seien diese Tendenzen in den 1970er-Jahren möglicherweise viel einflussreicher für die Wandlung der internationalen Beziehungen gewesen als die überkommenen nuklearstrategischen Diskussionen.

An diesem Punkt manifestiert sich allerdings zugleich eine zentrale Schwäche des Buches. Denn Gavin hebt diese verschiedenartigen Phänomene zwar überzeugend hervor, doch deutet er im Kern nur vage an, was sie miteinander sowie mit den nuklearstrategischen Verschiebungen verbindet – und welcher Stellenwert dabei der Atombombe zukommt. Gavin erweist sich insgesamt als Meister des instruktiven Denkanstoßes. Eine kohärente Gesamtinterpretation der politischen Bedeutung der Atomwaffe bietet er jedoch allenfalls in ersten Umrissen. So wird beispielsweise die Rolle von Rüstungskontrollverhandlungen für das Atomzeitalter, die während des Kalten Krieges enorme Ressourcen banden und immense öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zogen, fast beiläufig marginalisiert. Dies hat auch mit der gewählten Publikationsform zu tun. Auf 169 Seiten sind seine tiefschürfenden Fragen kaum abschließend zu beantworten, zumal der Entschluss, die zuvor bereits veröffentlichten Aufsätze unter geringfügigen Änderungen in einem Buch zusammenzufassen, unnötige Redundanzen zulässt.

Dies darf insgesamt jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gavin einen wegweisenden Impuls für die politische Geschichte der Atomwaffe vorgelegt hat. Das Buch löst seine Prämissen ein und leistet stellenweise Pionierarbeit. Daraus resultieren stichhaltige Interpretationsangebote, die der historischen Forschung zum Atomzeitalter zukünftig als Ausgangspunkt dienen sollten.

Anmerkungen:
1 Bernd Greiner, Zwischenbilanzen zum Kalten Krieg, in: Mittelweg 36, 3 (2007), S. 51–58, hier S. 52.
2 Historische Arbeiten zur Atomwaffe sind vergleichsweise rar. Gavin knüpft vor allem an die Beiträge seines akademischen Lehrers Marc Trachtenberg an. Vgl. insbesondere Marc Trachtenberg, History and Strategy, Princeton 1991; Marc Trachtenberg, A Constructed Peace. The Making of the European Settlement, 1945–1963, Princeton 1999.
3 Zentraler Exponent des „Sicherheitsdilemmas“ ist Robert Jervis. Vgl. Robert Jervis, Cooperation under the Security Dilemma, in: World Politics 30 (1978), S. 167–214. Mittlerweile scheint Jervis allerdings von der These abzurücken, der Kalte Krieg ließe sich hierauf zurückführen. Vgl. Robert Jervis, Was the Cold War a Security Dilemma?, in: Journal of Cold War Studies 3 (2001), S. 36–60.
4 Der Nicht-Einsatz von Atomwaffen nach 1945 wird hierbei mit der Herausbildung eines Tabus erklärt. Vgl. Nina Tannenwald, The Nuclear Taboo. The United States and the Non-Use of Nuclear Weapons since 1945, Cambridge 2007.

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