C. Marx: Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte

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Titel
Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte. Leitung eines deutschen Großunternehmens


Autor(en)
Marx, Christian
Reihe
Moderne Zeit 25
Erschienen
Göttingen 2013: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
708 S., 30 Abb.
Preis
€ 74,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim Schanetzky, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Der Manager und Industrielle Paul Reusch gehört ganz sicher nicht zu den „großen Unbekannten der Unternehmensgeschichte“1, denn der verbandspolitische Multifunktionär stand schon während der 1970er-Jahre immer wieder im Blickpunkt der Forschung. Kaum eine Gesamtdarstellung zur Geschichte der Weimarer Republik kommt ohne den Hinweis auf Reuschs demokratiepolitisch fatalen Einfluss aus. Der Vorstandsvorsitzende der Gutehoffnungshütte (GHH) arbeitete im Ruhreisenstreit maßgeblich auf den Bruch der Industrie mit der Republik von Weimar hin, und bis 1933 fand Reusch noch immer einen Grund, um mit der jeweils amtierenden Regierung zu brechen und diese dann offen zu bekämpfen. Mittel dazu waren neben Parteispenden vor allem die Pressebeteiligungen rund um die Münchner Neuesten Nachrichten, die Reusch über die GHH und seine Verbandsämter kontrollierte.2 Auch die GHH ist zuletzt verstärkt in den Blick der Unternehmensgeschichte gekommen. Neben der besonderen Struktur des Hanielschen Familienunternehmens ist mit der MAN zugleich eine ihrer wichtigsten Konzerngesellschaften untersucht worden.3

Trotz dieser kleinen Forschungskonjunktur schließt erst die Trierer Dissertation von Christian Marx die entscheidende Lücke, indem sie erstmals systematisch auf die Funktion von Paul Reusch in seinem Unternehmen blickt. Marx interessiert sich dafür, wie Reusch innerhalb des GHH-Konzerns agierte, welche Wachstumsstrategie er verfolgte, wie er seine Leitungsposition im unternehmerischen Alltag wahrnahm und wie er sie auf Dauer absicherte. Reusch war nämlich gleich in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall. Erstens stand der 1868 geborene Manager seit 1909 einem Unternehmen vor, das sich ganz überwiegend im Besitz der weitverzweigten Familie Haniel befand. Daraus folgten besondere Chancen für Reusch, sofern es ihm gelang, sich gegenüber der Mehrheit der Eigentümer als Sachwalter ihrer Interessen zu profilieren, aber eben auch besondere Restriktionen, wenn etwa die weniger vermögenden Teile der Familie die nötigen Mittel für eine Kapitalerhöhung nicht aufbringen konnten und damit eine Fortführung des Wachstumskurses behinderten. Zweitens agierte Reusch als Manager, dem es im Laufe der Jahre zwar durchaus gelang, für sich persönlich einige GHH-Aktien zu erwerben, dessen Einfluss im Unternehmen jedoch nicht auf eigenem Kapitalbesitz basierte. Seine Position hing vielmehr vom Vertrauen der Eigentümerfamilie ab. Drittens schließlich verfolgte Reusch eine eigenständige Wachstumsstrategie, mit der sich die GHH von anderen Stahlkonzern an der Ruhr unterschied. Reusch nutzte den Umbruch von 1918 und vor allem die wirtschaftlichen Bedingungen der Inflationszeit dazu, um die GHH endgültig zu einem Weiterverarbeitungskonzern zu machen: Den Anfang machte 1918 die Beteiligung an der Deutschen Werft in Hamburg, und neben einigen kleineren Verarbeitungs- und Maschinenbaubetrieben übernahm die GHH 1920 die Maschinenfabrik Eßlingen und 1921 dann die M.A.N. Dahinter stand die Idee, die GHH weniger konjunkturanfällig zu machen. Ein möglichst hoher Anteil der Stahlherstellung sollte innerhalb des Konzerns und zu Selbstkostenpreisen zu hochwertigen Investitionsgütern weiterverarbeitet werden. Bei der Umsetzung seines Expansionskurses agierte Reusch so zielstrebig wie machtbewusst. Er beharrte auf eindeutigen Abhängigkeitsverhältnissen – weil die GHH die führende Rolle im Konzern behalten sollte, kam für ihn keine Kooperation in Frage, sondern nur die kapitalmäßige Beherrschung der Tochtergesellschaften durch das Stammunternehmen.

Die chronologisch in fünf Abschnitte gegliederte Untersuchung ist methodisch innovativ, weil sie sich intensiv mit den Schwachstellen soziologischer Netzwerkansätze auseinandersetzt. Diese gehen davon aus, dass gut vernetzte Unternehmer besser informiert sind als ihre weniger gut vernetzten Konkurrenten – und dass sie den Informationsvorsprung innerhalb ihres Unternehmens auch tatsächlich umsetzen können. Entsprechende Arbeiten rekonstruierten bisher vor allem Vernetzungen zwischen verschiedenen Unternehmen – meist stand die Besetzung von Aufsichtsräten im Mittelpunkt. Marx zieht zwar ebenfalls Methoden der Netzwerkforschung heran, blickt dabei aber systematisch auf die unternehmensinterne Kommunikation. Dazu hat er die von Reusch im Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv überlieferte dienstliche Korrespondenz in Stichjahren ausgewertet und in Grafiken und Statistiken übersetzt. So beeindruckend diese Passagen hinsichtlich des dahinter stehenden Arbeitsaufwandes sind, so wenig überraschend sind allerdings die damit gewonnenen Erkenntnisse: In seinem „internen Unternehmensnetzwerk“ wickelte Reusch das Gros der Korrespondenz mit seinen engsten Vertrauten in den Vorständen der Konzerngesellschaften sowie mit dem amtierenden Aufsichtsratsvorsitzenden der GHH-Spitzenholding ab. Privates spielte dabei keine Rolle, vielmehr entfiel ein Gutteil der Korrespondenz auf das regelmäßige Berichtswesen und daneben auf Finanz-, Zuständigkeits- oder Terminfragen. Entscheidend war das enge Vertrauensverhältnis zum Aufsichtsratsvorsitzenden, weil dieser die Interessen der Familie Haniel vertrat.

So wenig spektakulär diese Befunde zunächst klingen mögen, ermöglichen sie doch erstmals ein vollständiges Bild vom unternehmerischen und politischen Handeln Paul Reuschs. Reusch war ein Unternehmer, der sich sein verbandspolitisches Engagement ab Mitte der 1920er-Jahre leisten konnte, weil Routineentscheidungen bei den Konzerngesellschaften längst in der Hand seiner Vertrauten lagen. Alle Fäden liefen bei ihm zusammen, und gegenüber der Eigentümerfamilie setzte er seinen daraus resultierenden Informationsvorsprung systematisch zur Sicherung der eigenen Position ein. Nur auf dieser Basis konnte er eine eigenständige unternehmerische Strategie verfolgen. Besonders deutlich wurde dies im Konflikt um eine mögliche Kooperation mit den Vereinigten Stahlwerken, die von einem Teil der Eigentümerfamilie befürwortet, von der Mehrheit jedoch abgelehnt wurde. Zur Abwehr eines entsprechenden Übernahmeangebots, das auch Reuschs eigene Führungsposition in Frage gestellt hätte, setzte er die stillen Reserven des Konzerns ein.

Dass sich Reuschs politische Positionen hingegen unmittelbar aus der unternehmerischen Erfahrung der GHH ableiten ließen, wird man nach der Lektüre der Arbeit nicht behaupten können. Eher drängt sich der Eindruck auf, dass langfristige mentale Prägungen für die politischen Meinungsäußerungen eines tief im Kaiserreich verwurzelten Unternehmers viel wichtiger waren. Hinzu kommt ein eigentümlicher Kontrast, denn so zielstrebig und geschickt Reusch in seinem eigentlichen Metier agierte, so irrlichternd wirkt sein Engagement außerhalb des Unternehmens: Der barsche Kommandoton, mit dem Reusch „seine“ Zeitungsredakteure führen zu können glaubte, die politische Naivität, mit der er sich Anfang 1932 auf eine Art Waffenstillstandsabkommen mit der NS-Presse einließ, an das sich nur Tage später lediglich Reusch gebunden fühlte, schließlich die geradezu groteske Selbstüberschätzung, mit der er im Frühjahr 1932 auf Hitlers politischen Kurs einzuwirken versuchte – dies alles könnte amateurhaft und unfreiwillig komisch wirken, wenn es nicht wesentlich zur Destabilisierung der Republik beigetragen hätte.

Schon bald nach Hitlers Machtantritt zeigte sich dann, dass Reusch kaum noch über brauchbare politische Kontakte verfügte – auch das war vorwiegend eine Frage des Alters und der generationellen Prägung. Auf diese Weise wurde Reusch wenn schon nicht zum dezidierten Gegner, so doch zum distanzierten Beobachter des Dritten Reiches. Die Gutehoffnungshütte profitierte wie viele andere Unternehmen von den Bedingungen des Rüstungsaufschwungs. Sie war dabei weit weniger expansiv als die Konkurrenz, partizipierte beispielsweise kaum an der „Arisierung“ und profitierte nur wenig von der Expansion ins europäische Ausland. Bei der Beschäftigung von Zwangsarbeitern unterschied sie sich nicht von anderen Unternehmen ihrer Branche. Aber wann immer sachliche Interessenunterschiede zu Reibungen mit dem Regime führten, verzichtete Reusch auf symbolische Kooperationsangebote. Sich nicht am seit 1936 von der Deutschen Arbeitsfront ausgetragenen „Leistungskampf der deutschen Betriebe“ zu beteiligen und jedes Gespräch darüber zu verweigern, war taktisch ungeschickt und führte am Ende dazu, dass Reusch eine Niederlage einstecken musste. Wie wenig der Herr-im-Hause-Standpunkt noch in die Zeit passte, zeigte sich kurz darauf, als Reusch das Vertrauen in den Vorstand der Kabel- und Metallwerke Neumayer AG verlor. Es gelang ihm nicht, diese Personalie in seinem Sinne zu regeln, weil der Vorstand Partei- und Regierungsstellen gegen Reusch mobilisierte. Am Ende war es Reusch, der sich aus allen Ämtern zurückzuziehen hatte. Auch sein Sohn Hermann, den er systematisch zum Nachfolger aufgebaut hatte, musste zurücktreten.

Es ist das Verdienst der umfassenden und akribisch aus den Quellen gearbeiteten Studie von Christian Marx, erstmals ein vollständiges Bild des Unternehmers Paul Reusch zu zeichnen. Besonders sein stark auf Fragen von Lenkung, Organisation und Kommunikation fokussierter Blick ist dabei anregend und weiterführend, auch wenn die mit dem Instrumentarium der Netzwerktheorie gewonnenen Ergebnisse nicht in jedem Fall überraschend klingen mögen. Während die ebenfalls kürzlich veröffentlichte Studie von Peter Langer mitunter den Eindruck erweckt, der Manager aus Oberhausen habe den Untergang der Weimarer Republik praktisch im Alleingang herbeigeführt, stellt Marx nüchtern das politische neben das unternehmerische Agieren von Paul Reusch. Dieses vollständige Bild dient nicht nur der Entdämonisierung, sondern ist recht eigentlich eine Entzauberung des politischen Unternehmers. Dieser stellte sich tatsächlich gegen Hitler – freilich nicht aufgrund einer höheren moralischen Einsicht, sondern mit denselben hochfahrend-elitären und aus der Erfahrungswelt seines Unternehmens nur bedingt erklärbaren Affekten, die ihn bereits zum Feind der Weimarer Republik hatten werden lassen.

Anmerkungen:
1 Benjamin Obermüller: Rezension zu: Langer, Peter: Macht und Verantwortung. Der Ruhrbaron Paul Reusch. Essen 2012, in: H-Soz-u-Kult, 25.07.2013, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-3-060> (16.09.2013). Vgl. auch das laufende Promotionsvorhaben von Benjamin Obermüller: Hermann Reusch und die Gutehoffnungshütte Oberhausen 1945–1966. Ein Beitrag zur „Corporate Governance“, in: Akkumulation 25/2007, S. 1–8.
2 Zu dieser Dimension Reuschs nun erschöpfend Peter Langer, Macht und Verantwortung. Der Ruhrbaron Paul Reusch, Essen 2012.
3 Johannes Bähr / Ralf Banken / Thomas Flemming, Die MAN. Eine deutsche Industriegeschichte, München 2010; sowie einige weitere Hinweise bei Harold James, Familienunternehmen in Europa. Haniel, Wendel und Falck, München 2005.

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