Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus

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Titel
Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus.


Herausgeber
KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Reihe
Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 14
Erschienen
Bremen 2012: Edition Temmen
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc von Lüpke-Schwarz, Hamburg

Als „vergessene Opfergruppe“ des Nationalsozialismus gelten Sinti und Roma schon lange nicht mehr. Die grundsätzliche Genese, der Verlauf und das oft mörderische Ende der Verfolgung der als „Zigeuner“ stigmatisierten entrechteten Menschen lassen sich heute in grundlegenden Studien nachlesen.1 „Weiße Flecken“ weist dagegen immer noch die lokale Ebene auf, die mit ihren individuellen Dynamiken eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Verfolgung der „Zigeuner“ spielte. Der besprochene Band will hier für den norddeutschen Raum Lücken schließen Dabei erweist sich das Themenspektrum als überaus heterogen.

Hans-Dieter Schmid übernimmt in seinem einleitenden Beitrag die Aufgabe, den allgemeinen Verlauf der nationalsozialistischen Verfolgung der „Zigeuner“ zu skizzieren – und sie mit komparatistischen Methoden in Hinsicht auf Ausganglage und Verlauf mit der Verfolgung der Juden zu vergleichen. Durch diesen Vergleich gelingt es ihm, das Spezifische der Verfolgung der „Zigeuner“ herauszuarbeiten. Schmid weist dabei auf eine bemerkenswerte Tatsache hin: die erste Deportation aus dem Raum Nordwestdeutschland im Mai 1940 betraf „Zigeuner“ und nicht Juden (S. 17).

Auch der Vergleich der Arbeit Schmids mit dem nachfolgenden Beitrag von Karola Fings ist beachtenswert. Schmid verortet die große Mehrheit der Sinti und Roma innerhalb der „Unterschicht“, die „an oder unter der Armutsgrenze“ existierte (S. 12). Karola Fings dagegen hält fest, dass die Sinti und Roma einen „Platz inmitten der deutschen Gesellschaft gefunden hatten“ (S. 30). Wie letztere allerdings ganz richtig einräumt, fehlt es an belastbaren Quellen zur sozialen Situation dieser Minderheit in Kaiserreich und Weimarer Republik. Beobachtungen zu dieser Lage lassen sich fast nur aus amtlichen Quellen schöpfen, die sich in Bezug auf „Zigeuner“ als wenig objektiv erweisen. Aus der Interpretation der Quellen verortet Hans-Dieter Schmid die Sinti und Roma im prekären Teil der Bevölkerungsbereich, während Karola Fings deutlich die Arrivierungstendenzen ausmacht, wie eine zunehmende Sesshaftwerdung. Im Kontrast dazu arbeitet sie die Entstehung des Antiziganismus sowie einer imaginierten „Zigeunerplage“ heraus, eine irrige Phantasie, die sich später im Nationalsozialismus für die zahlenmäßig kleine Gruppe der Sinti und Roma verhängnisvoll auswirken sollte.

Nach den beiden eher deskriptiv gehaltenen einleitenden Beiträgen geht Ulrich Prehn in seinem Aufsatz der Verfolgung vor Ort an einem konkreten Beispiel nach: Hamburg. Durch intensives Befragen der Quellen gelingt es dem Autor, die lokalen Motive und Dynamiken der Diskriminierung in der Hansestadt herauszuarbeiten. Das Wohlfahrtsamt, das Unterstützungszahlungen einsparen wollte, die Presse, die gegen die „unbequemen Nomaden“ (S. 37) hetzte, und die Polizei, die mit der Verhängung von „Vorbeugungshaft“ die Betroffenen drangsalierte: alle gaben der Verfolgung vor Ort ihre spezifische Dynamik. Das Rennen der Kommunen untereinander, ihre „Zigeuner“ jeweils möglichst schnell „loszuwerden“, erfuhr im Mai 1940 eine Beschleunigung. Bei den Deportationen ins Generalgouvernement sei es „wichtig, dass Hamburg mit als erste Stadt an den Abtransport geht“, hieß es bereits lange im Vorfeld, da „nicht zu übersehen ist, ob später noch Unterbringungsmöglichkeiten für Zigeuner in Polen bestehen werden“ (S. 42).

Prehn konstatiert einen enormen Entscheidungsspielraum der lokalen Ebene bei der Verfolgung und besonders den Deportationen ins Generalgouvernement (1940) und nach Auschwitz (1943). Im Wechselspiel zwischen „Rassegutachten“ der Rassenhygienischen Forschungsstelle und dem Reichskriminalpolizeiamt war am Ende das Urteil der Beamten vor Ort richtungsweisend.

Die Bedeutung der „Entscheider“ vor Ort stellt auch der Beitrag von Patricia Pientka heraus, die das „Zigeunerlager“ Berlin-Marzahn untersucht. In dem 1936 eingerichteten Zwangslager oblag dem Leiter der „Dienststelle für Zigeunerfragen“ die Entscheidung, welche Personen 1943 nach Auschwitz deportiert wurden. Hier machte man es sich einfach – nur für die „Zigeuner“, die bleiben durften, war ein Formular auszufüllen, der Rest ging „ab“ (S. 62). Weiterhin konstatiert auch Pientka eine radikalisierende Dynamik, die sich von der lokalen Ebene gegen die „Zigeuner“ richtete: 1939 plante das Hauptwohlfahrtsamt der Hauptstadt, das Zwangslager in ein KZ zu verwandeln.

Für das Jugend-Konzentrationslager Moringen schildert Dietmar Sedlaczek, wie jugendliche Sinti und Roma dort inhaftiert und später nach Auschwitz deportiert wurden. Vor allem die Rolle Robert Ritters in Moringen, der hier neben seiner Tätigkeit bei der Rassenhygienischen Forschungsstelle auch als „Leitender Kriminalbiologe“ fungierte und seine kriminalbiologischen Vorstellungen an lebenden Menschen „erproben“ konnte, wird in dem Beitrag skizziert. Barbara Danckwortt beschäftigt sich mit dem KZ Ravensbrück und dem Schicksal der hier inhaftierten Sinti und Roma. Aus der Auswertung der Erinnerungen von Überlebenden kommt hier zum Ausdruck, dass nur gegenseitige Hilfe und Unterstützung das Weiterleben möglich gemacht hatte.

Einen ersten Schritt hin zur Erforschung der Geschichte der etwa 1.500 Roma und Sinti unter den Häftlingen des KZ Mittelbau-Dora geht Jens-Christian Wagner. Dabei stieß er auf das überraschende Ergebnis, dass die Todesrate unter den „Zigeunern“ prozentual vergleichsweise niedrig war. Wagner sieht dies in dem verhältnismäßig jungen Alter, der im Vergleich mit anderen Häftlingsgruppen relativ kurzen Inhaftierungszeit und nicht zuletzt in einem ausgeprägten Behauptungs- und Überlebenswillen der „Zigeuner“ begründet. Die Mehrheit von ihnen war aus dem „liquidierten“ „Zigeunerfamilienlager“ Auschwitz hierher deportiert worden. Angesichts dieses Ergebnisses plädiert Wagner ganz zu Recht dafür, die Häftlinge nicht nur als der Willkür der SS ausgelieferte Objekte, sondern auch als „handelnde Akteure“ (S. 106) zu erforschen.

Für das KZ Bergen-Belsen berichtet Thomas Rahe, dass zahlreiche „Zigeuner“ aus Mittelbau-Dora hierher verlegt worden waren. Nachdem britische Truppen das Lager befreit hatten, kam es zu spontanen Lynchaktionen, denen auch „Zigeunerkapos“ (S. 116) zum Opfer gefallen seien. Nach der Befreiung macht Rahe die Bedeutung des Zusammenhalts als psychologische Stütze für die Überlebenden deutlich – anders als bei überlebenden Juden verfügten die „Zigeuner“ über keine zukunftsgerichtete Vision wie den Zionismus.

Den schockierenden Kontinuitäten in der Behandlung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit geht Frank Reuter nach. Diese Beständigkeit kriminalbiologischer Präjudizierungen von „Zigeunern“ lag demnach keineswegs allein in dem formell fortwirkenden Geist der verfolgenden Institutionen begründet, sondern war vor allem auch biographisch fixiert: Fast überall begegneten Sinti und Roma nach Kriegsende den gleichen Kriminalbeamten, die sie im Nationalsozialismus verfolgt hatten. Einer Verfolgung entgingen die Beamten durch Leugnung ihrer aktiven und oft entscheidenden Rolle, wie es die Beiträge von Ulrich Prehn und Patricia Pientka deutlich gemacht haben.

Die Erinnerung an den Sinto Johann Trollmann, der als Boxer einige Berühmtheit genossen hatte und wahrscheinlich 1944 in einem Außenlager des KZ Neuengamme starb, untersuchen Kathrin Herold und Yvonne Robel. Sie weisen darauf hin, dass die Darstellung der Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus am Beispiel Trollmanns, wie es oft geschehen ist, problematisch ist – aufgrund der Verschiedenheit der Verfolgungsschicksale und auch der lückenhaften Quellenlage zu Johann Trollmann.

Insgesamt betrachtet, erschwert die Heterogenität der einzelnen Themenbeiträge eine vergleichende Lektüre des gesamten Bandes. Dessen ungeachtet leisten die informativen Einzelbeiträge einen wertvollen Beitrag zur Erforschung der lokalen Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma. Insbesondere Prehn und Pientka gelingt dabei der Nachweis, dass der lokalen Ebene in diesem Prozess eine entscheidende Rolle zukam. Zugleich verweist der Band auf ein Forschungsfeld, das bisher die größten Lücken aufwies: Die Geschichte der in die KZ gesperrten Sinti und Roma.

Anmerkung:
1 Bis heute gilt als Standardwerk: Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996.

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