H. Berwinkel u.a. (Red.): Außenpolitik der deutschen Länder

Titel
Die Außenpolitik der deutschen Länder im Kaiserreich:. Geschichte, Akteure und archivische Überlieferung (1871–1918)


Herausgeber
Berwinkel, Holger; Kröger, Martin, Mitarbeit: Preuß, Janne
Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
180 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Rose, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn

Nach der Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles ging die völkerrechtliche Vertretung nach außen vom Präsidium des Bundes mit der Bezeichnung „Deutscher Kaiser“ aus. Die besondere föderale Struktur des Reiches drückte sich aber darin aus, dass die einzelnen deutschen Staaten weiterhin Gesandtschaften im Ausland unterhielten. Diesem bisher vernachlässigten Aspekt widmet sich nun ein schmaler Band des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts, der auf die Beiträge eines wissenschaftlichen Kolloquiums zum 90. Gründungstag des Archivs im Jahre 2010 zurückgeht.

Eingeleitet wird der Sammelband von Gregor Schöllgen mit einer knappen Skizze zur deutschen Außenpolitik zwischen Reichsgründung und Revolution von 1918. Schöllgen bewegt sich dabei recht eigenwillig abseits der neueren Forschung. Statt die zuletzt immer wieder betonten Grenzen der deutschen Wahlchancen hervorzuheben, hält er, ähnlich wie schon Sebastian Haffner, die Grundprobleme und das Schicksal der Reiches mit der Reichsgründung offenbar für besiegelt. Der Leser erfährt nichts von geostrategischen Problemen, von zunehmenden Komplexitäten durch neue außenpolitische Akteure wie die öffentliche Meinung oder Wirtschaftsinteressen. Es wird der Eindruck vermittelt, als bestünde nach wie vor kein Zweifel, dass das vermeintlich so enorme hegemoniale Potential des Reiches die anderen Mächte, namentlich Großbritannien, unweigerlich zu einer „offenkundigen Reaktion“ und zur Annäherung an die traditionellen Rivalen Frankreich und Russland gezwungen habe (S. 21). Wer derart selbstbewusst eine inzwischen vielfach angezweifelte und in Teilen sogar widerlegte Interpretation aus deutscher Aktion und unvermeidlicher britischer Reaktion wiederbelebt, sollte allerdings andere Meinungen zumindest erwähnen. Statt sich etwa mit den Studien von Konrad Canis, Günther Kronenbitter, Niall Ferguson, Sönke Neitzel oder anderer auseinanderzusetzen, begnügt sich Schöllgen mit der Erwähnung einzelner älterer Studien aus den 1970er und 1980er Jahren.

Jedoch wirkt das orthodoxe Interpretationsmuster, nachdem die Ententepolitik primär eine Reaktion auf deutsches Säbelgerassel gewesen sei, nicht überzeugender, nur weil man es öfter wiederholt. Ohne neue Befunde, ist diese Deutung inzwischen vor dem Hintergrund der Forschungsergebnisse der letzten Jahre nicht mehr zu halten. Zu intensiv sind inzwischen sowohl die globalen Konvergenzen der Weltmächte als auch deren eigene innenpolitische Gemengelagen erforscht, als dass nicht längst auch andere plausible Erklärungen für die gegenseitige Annäherung gefunden worden sind. Hinzu kommt, darauf haben sowohl Zeitgenossen wie Thomas Sanderson als auch zahllose Historiker in den letzten Jahren hingewiesen, dass sich die deutsche Diplomatie selbst in ihrer Plumpheit und ihrer Aggressivität keinen Deut von russischen Aktionen im Mittleren Osten, französischem Gebaren in Nordafrika oder englischem in Afrika und Asien unterschied.1 Was das Argument der Flottenrüstung angeht (S. 19), so haben marinehistorische Arbeiten in den letzten 20 Jahren belegt, dass der englische Kurs vielfach eigenen Mechanismen gehorchte. Der Dreadnoughtbau etwa wurde bereits lange vor einer deutschen Bedrohung und sogar noch vor der russischen Niederlage von Tsushima geplant, und auch die Rückverlegung der Verbände gehorchte eher fiskalischen Zwängen als einer vermeintlichen Bedrohung durch die Hochseeflotte.2 Richtig ist: Deutschland war der Hauptleidtragende der Konstellationsveränderungen und diejenige Macht, von der sowohl die übrigen Mächte als auch unzählige Historiker bis heute eine besonders altruistische Selbstbeschränkung erwarteten. Es genügt jedoch nicht mehr, bloß die Berliner Motive oder das vermeintliche deutsche Versagen zu schildern. Viel schwerer ist es, die Konsequenz des Krieges daraus abzuleiten oder nachzuweisen, dass ein grundsätzlich anderes deutsches Verhalten diesen verhindert hätte. Keine Frage, eine systematische Einkreisung durch die Ententemächte existierte nicht. Ebenso wahr ist aber auch, dass diese ein wesentliches Interesse an wiederholten Kooperationen zu Lasten Berlins hatten. Am Ende dieses etwas enttäuschenden Auftaktes aus der Feder eines der großen Kenner der deutschen Diplomatiegeschichte verfestigt sich der Eindruck als sei der Autor damit geradewegs in die "Stringenzfalle" getappt, vor die sein Schüler, Friedrich Kießling, vor Jahren so klug und stimulierend gewarnt hatte.3 Nicht alles, so müsste man die jüngere Forschung zusammenfassen, ist auf die Handlungen der Wilhelmstrasse zurückzuführen. Denn das Reich war eben nur eine halbe und keine ganze Hegemonialmacht.

Die folgenden Einzelbeiträge behandeln nun weitgehend Unbekanntes, wenn sie sich der eigenständigen Außenpolitik Bayerns, Sachsens und der Hansestädte sowie der Haltung der Bundesglieder am Beispiel ausgewählter Krisen zuwenden. Gemeinsam ist den Beiträgen die deutliche Betonung der begrenzten Möglichkeiten einzelstaatlicher Außenpolitik. Lediglich Gerhard Hetzer gelingt es in seinem Beitrag zur Außenpolitik Bayerns, am Beispiel der Daily-Telegraph Affäre die Distanz zur Berliner Außenpolitik und die Forderungen einer Parlamentarisierung der Reichspolitik hervorzuheben. Bis 1918 bewahrte sich München das Recht eigene auswärtige Beziehungen zu unterhalten und diente dem Reich nicht zuletzt mit zusätzlichen etablierten diplomatischen Informationskanälen, schließlich unterhielten auch die anderen Großmächte bis 1914 Vertretungen an der Isar. Aufgrund der günstigen archivalischen Überlieferungen bieten sich hier tatsächlich weiterführende Studien, etwa zum angedeuteten engen bayerischen Draht zum Vatikan, zu Entspannungsinitiativen, alternativen außenpolitischen Einschätzungen oder Kursen oder offenen Kritik an der Wilhelmstrasse geradezu an. Hier wäre auch die in der landesgeschichtlichen Forschung verbreitete These von einer zu wenig selbstbewussten Außenpolitik Bayerns sowohl vor als auch während des Krieges möglicherweise weiter zu differenzieren (S. 49).

Ganz anders das Bild der übrigen behandelten Einzelstaaten. So beschäftigt sich Jörg Ludwig in seinem Beitrag zur sächsischen Außenpolitik vornehmlich mit deren institutionellen Aufbau und den verfügbaren Beständen. Anders als im Falle Bayerns betont er zunächst eher die Grenzen, als die Möglichkeiten einer eigenständigen sächsischen Außenpolitik (S. 57). Grund hierfür waren nicht zuletzt bereits bei der Reichsgründung weit verbreitete Selbstzweifel ob des Nutzens eigener Vertretungen (S. 64). Wenn überhaupt, so betonte man in Dresden in erster Linie den deutschlandpolitischen Nutzen, also die Beibehaltung der Gesandtschaft in Berlin, nicht aber zum Ausland. Die Bestände zur sächsischen Außenpolitik weisen deshalb auch lediglich die Beziehungen zu Wien als einziger ausländischer Gesandtschaft nach (S. 77). Die Quellen des sächsischen Außenministeriums geben daher vornehmlich Auskunft zur Dresdner Deutschlandpolitik.

Ein weitgehender Verzicht auf eine eigenständige Außenpolitik bedeutete die Reichsgründung auch für die Hansestädte, wie Antjekatrin Graßmann nachweist. Eine gesonderte Außenpolitik war für Hamburg, Bremen und Lübeck lediglich über den Bundesrat möglich. Gleichwohl blieben gerade Bremen und Hamburg die „wirtschaftspolitische Speerspitze“ des Reiches und bewahrten sich so zumindest einen Sonderstatus (S. 100). Sebastian Damm schließlich bestätigt den überwiegenden Eindruck, dass die einzelnen Bundesglieder nur begrenzten Spielraum zu einer eigenständigen Diplomatie nach der Reichsgründung behielten. Zu dominant agierte Preußen nach dem Sieg über Frankreich. Erst gegen Ende des Weltkriegs reaktivierten sie ihre alten diplomatischen Strukturen gegen eine Reichsaußenpolitik (S. 130).

Den Abschluss des Bandes bildet ein Beitrag Martin Krögers zur Geschichte des Politischen Archivs, der bereits 2008 in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaften veröffentlicht wurde. Dabei lässt es sich Kröger nicht nehmen, angesichts des überaus umstrittenen Buches „das Amt“, noch einmal zu einem Seitenhieb auf die vornehmlich aus blankem Unwissen geborene Kritik auszuholen, die hinter der bloßen Existenz des Archivs einen „Nibelungenhort“ (Heribert Prantl), oder eine systematische „Geheimniskrämerei“ (Norbert Frei) vermuteten. Wer aber über die besonderen Umstände der Gründungsgeschichte Bescheid weiß und sich die Mühe macht selbst den Lesesaal des Auswärtigen Amtes zu Forschungszwecken zu betreten, entlarve, so Kröger, nur zu leicht die hinter der Kritik verborgene politisch motivierte Polemik als haltlos (S. 132). Im Folgenden zeichnet Kröger die Geschichte der Anfänge des Politischen Archivs souverän nach.

So sehr der Titel des Bandes das Interesse auf vermeintlich neue Erkenntnisse zu einem bislang vernachlässigten Aspekt deutscher Außenpolitik lockt, so sehr wird nach der Lektüre deutlich, warum sich bisher keine Studien der Außenpolitik der Bundesglieder widmeten. Das Kaiserreich, in vielen Bereichen wie etwa der Fiskal- oder der Kulturpolitik ein Inbegriff föderaler Ordnung, agierte in seinen Außenbeziehungen weitgehend zentral und einheitlich von Berlin aus.

Anmerkungen:
1 Thomas Sanderson, Memorandum, 25.02.1907, in: G. P. Gooch und H. Temperley (Hrsg.), Die Britischen Amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges, 1898–1914, Bd. III, S. 687–710. Paul W. Schroeder, Stealing Horses to Great Applause, Austria-Hungary’s Decision in 1914 in Systemic Perspective, in: H. Afflerbach und D. Stevenson (Hrsg.), An Improbable War, The Outbreak of World War I and European Political Culture before 1914, 2. Aufl. London 2012, S. 17–42.
2 Vgl. u. a. Jon T. Sumida, In Defence of Naval Supremacy: Finance, Technology and Naval Policy, 1889–1914, London 1989.
3 Friedrich Kießling, Wege aus der Stringenzfalle: Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs als "Ära der Entspannung", in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 55, 2004, S. 284–304.