Cover
Titel
Weimar. Eine Kulturgeschichte


Autor(en)
Seemann, Annette
Erschienen
München 2012: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Ries, Neuere Geschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Friedrich Nietzsche hat einmal gemeint, dass sich der Mensch vom Tier dadurch unterscheide, dass er sich nicht nur „erinnern“, sondern dass er auch „vergessen“ könne. Wenn man also vergisst, was sich in der Klassikerstadt Weimar alles so zugetragen hat, und ganz gedankenverloren durch die Stadt streift und sich nur die Menschen und Gebäude, und zwar auch und vor allem außerhalb des Altstadtzentrums anschaut, dann fällt es einem schwer, den ersten Satz von Annette Seemans Weimar-Buch nachzuvollziehen, der da lautet: „Wenn es überhaupt so etwas wie die deutsche Stadt par excellence gibt, so ist dies Weimar.“ Man will dann wirklich nicht hoffen, dass die ostdeutsche Provinzstadt Weimar tatsächlich die deutsche Stadt par excellence ist. Weimar scheint heute vielmehr das steingewordene deutsche Museum par excellence zu sein. Und dennoch: In Weimar bündelte sich die deutsche Geschichte und die deutsche Kultur auf geradezu einzigartige Weise. Von Goethe und Schiller über Franz Liszt und das Bauhaus bis zu Buchenwald und dem Holocaust, alle Glanz- und Schattenseiten der deutschen Geschichte sind hier zu besichtigen. Was kann eine „Kulturgeschichte“ Weimars leisten, wofür ist sie gut und an wen ist sie gerichtet?

Annette Seemann ist bestens vertraut mit der Kulturgeschichte und der Kulturpolitik der Stadt Weimar, und zwar sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart. Sie ist verheiratet mit dem Präsidenten der Klassik Stiftung Weimar, sie ist seit 2003 Vorsitzende des Freundeskreises der Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek (GAAB) e.V. und sie hat bereits einige Bücher über die Weimarer Kultur verfasst, wie z.B. eine Biographie über Anna Amalia als Herzogin von Weimar (2007) oder einen literarischen Reiseführer zu Weimar (2006). Nun legt sie eine „Kulturgeschichte“ Weimars von den Anfängen in der Altsteinzeit, als die ersten Jäger und Sammler sich im Thüringer Becken ansiedelten, bis in die Gegenwart, also bis eben zu jener Klassik Stiftung und deren verdienstvoller Arbeit am Erbe Weimars, in einem Band vor. Damit ist eigentlich schon klar, dass dieses Buch sich in erster Linie an eine interessierte Öffentlichkeit wendet und weniger an ein wissenschaftliches Publikum, das selbst Forschungen zu Weimar betreibt und auf der Höhe der Forschung informiert sein möchte. Unter dieser Voraussetzung muss dieses Werk auch gesehen und besprochen werden, was leider in einigen Rezensionen nicht der Fall war, wofür vielleicht auch der allzu vollmundige Werbetext des Beck-Verlages eine Mitschuld trägt.

Das Buch ist in neun Kapitel aufgeteilt, die in chronologischen Schritten die Geschichte Weimars und im engeren Sinne auch die Geschichte Thüringens abschreiten: von der „frühe(n) Zeit“, über die „Zeit des Glaubens (1250–1756)“, die „Goldene Zeit (1756–1807)“, die „Probezeit (1807–1846)“, die „Silberne Zeit (1846–1901)“, die „Moderne(n) Zeiten (1901–1925)“, die „braune Zeit (1925–1945)“ bis hin zur „rote(n) Zeit (1945–1990)“ und den „bunte(n) Zeiten (seit 1990)“. Es folgt noch ein Anhang mit einem Plan von Weimar und einer Zeittafel. Unter der oben genannten Voraussetzung, dass das Buch eine Ein- und Hinführung in die Kulturgeschichte Weimars geben möchte, erfüllt es voll und ganz seinen Zweck. Man hätte sich vielleicht gewünscht, dass die Verfasserin am Anfang klärt, was sie denn unter einer Kulturgeschichte im Allgemeinen und einer Kulturgeschichte Weimars im Besonderen versteht. Dann hätte sich einem vielleicht auch erschlossen, warum die „frühe Zeit“ mit den „ältesten Zeugnissen“ und dem „Aufstieg und Untergang des Königreichs Thüringen“ und auch die „Zeit des Glaubens“ bis zur Einführung der Reformation behandelt werden. Denn eine auf die Gegenwart bezogene und diese auch mit erklärende Kulturgeschichte Weimars, wie sie Annette Seemann offenbar leisten möchte, beginnt eigentlich erst mit der Niederlage der sächsischen Truppen im Schmalkadischen Krieg in der Schlacht bei Mühlberg 1547, wodurch die Residenz Wittenberg verloren ging und Weimar zum kleinstaatlichen Zentrum des ernestinischen Sachsens aufstieg. Von nun an entwickelte sich allmählich der „Mythos Weimar“ (Peter Merseburger), den Annette Seemann völlig zu Recht als eine Art „Kompensationsprogramm“ (S. 65) beschreibt: Die politische Bedeutungslosigkeit wurde durch die kulturelle „Arbeit am Mythos“ (Hans Blumenberg) zum Teil bewusst, zum Teil unbewusst ausgeglichen.

Nach ersten Anfängen im 16. und 17. Jahrhundert mit dem „Aufbau einer Bibliothek“ und „der Pflege der Hofmusik“ sowie „der Einrichtung von Theater und Gymnasium“, wodurch sich eine allmähliche Öffnung des Hofes gegenüber der Stadt vollzog, kam der Durchbruch Weimars als Kulturstadt erst in der sogenannten „goldenen Zeit“ von 1756 bis 1807, der Annette Seemann auch den relativ größten Platz einräumt (S. 67–148). Hier kommt all das zur Sprache, was Weimar bis heute auszeichnet, inklusive der Mythenbildung und Selbstinszenierungen, die zum Teil unkritisch wiedergegeben werden. Diese Mythenbildung geht auch in der von Seemann so genannten „Probezeit“ (1807–1846) weiter und findet einen wichtigen Höhepunkt um 1900, als der „nationale Goethe“ entdeckt bzw. erfunden wurde. Dieser Befund deckt sich auch mit anderen Beobachtungen, wie z.B. mit dem Mythos Fichte, der vor dem Ersten Weltkrieg als nationaler Weltprophet gefeiert wurde1, oder mit dem von der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte in jüngster Zeit hervorgehobenen „Mythos Humboldt“ (Mitchell G. Ash), der ebenfalls um 1900 als Exportschlager eines deutschen Universitätsmodells in die Welt gesetzt wurde. Frau Seemann markiert zu Recht mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1870/71 einen politischen Niedergang des Weimarer Kleinstaates, der erneut durch kulturelle Arbeiten nunmehr im Zeichen des Historismus zu kompensieren versucht wurde.

Ein bis heute erklärungsbedürftiges Phänomen bleibt es, wie rasch und wie früh die Klassikerstadt Weimar „braun“ wurde. Frau Seemann setzt mit dem Ende des in Weimar stets ungeliebten „Bauhauses“ 1924 zugleich auch den Beginn der „braune(n) Zeit (1925–1945)“. Wenn man etwas früher ansetzen möchte, so kann man bei Frau Seemann durchaus auch Belege für eine Zäsur um 1906/08 finden, wenn die schrecklich-entstellende Nietzsche-Rezeption durch die schreckliche Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche einsetzt – eine Zäsur, die sich ebenfalls mit anderen allgemeinen Befunden der Suche eines gegen die westliche Zivilisation gerichteten „deutschen Sonderweges“ decken würde. Ganz erstaunlich bleibt, dass eine „umfassende wissenschaftliche Erforschung der nationalsozialistischen Alltagsgeschichte, wie es sie für vergleichbare westdeutsche Städte gibt, (...) für Weimar bis heute (fehlt)“ (S. 327): Ein Forschungsdesiderat ersten Ranges, das Frau Seemann hier benennt und dessen Aufarbeitung vielleicht die bislang unfassbare Gleichgültigkeit der Weimarer (Bildungs-)Bürger gegenüber den NS-Verbrechen – sozusagen mit Buchenwald in Sichtweite – ein Stück weit aufklären könnte. Auch die Tatsache, dass zu DDR-Zeiten keine wirkliche Aufarbeitung der NS-Geschichte stattfand und eine personelle Kontinuität mit mentalitätsgeschichtlichen Konsequenzen erschreckenden Ausmaßes stattfand, ist ein wichtiger Erinnerungspunkt, auf den dieses Buch am Ende nochmals hinweist. Die antifaschistische Tradition, in welche sich die DDR-Regierung stellte, hatte gewissermaßen die Funktion einer Entsorgungsideologie mit Auswirkungen bis in die heutigen Tage. Auf all dies verweist das Buch von Annette Seemann, das daher wirklich mehr ist als ein kulturgeschichtlich ausgedehnter Reiseführer. Man spürt den Enthusiasmus und die Beflissenheit, die Kultur Weimars darzulegen und auch weiter zu tragen. Dass es heutzutage „obsolet“ geworden sei, „die Klassiker und den ‚Geist von Weimar’ politisch zu instrumentalisieren“, was Frau Seemann für „gut so“ befindet (S. 392), ist allerdings so hinreißend wie naiv!

Anmerkung:
1 Klaus Ries, Johann Gottlieb Fichte zwischen Universalismus und Nationalismus, in: Wolfgang Hardtwig / Philipp Müller (Hrsg.), Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorisches Denken in Berlin 1800–1933, Göttingen 2010, S. 29–48.