A. Bethan: Napoleons Königreich Westphalen

Titel
Napoleons Königreich Westphalen. Lokale, deutsche und europäische Erinnerungen


Autor(en)
Bethan, Anika
Reihe
Die Revolutions- und Napoleonischen Kriege in der Europäischen Erinnerung 2
Erschienen
Paderborn 2012: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
365 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bettina Severin-Barboutie, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Nachdem das Königreich Westphalen in den 1990er-Jahren beinahe in Vergessenheit geraten war, erlebt die Erinnerung an dieses ephemere Staatsgebilde seit einiger Zeit eine gewisse Renaissance. Im Rahmen der seit der Jahrtausendwende begangenen historischen Jubiläen haben Museen und Medien in Ausstellungen und Publikationen wiederholt des 1807 von Napoleon gegründeten Staates gedacht und diesen damit ins öffentliche Bewusstsein zurückgeholt. In der Geschichtswissenschaft hat das Interesse am Königreich Westphalen in den vergangenen Jahren ebenfalls wieder zugenommen. Ablesbar ist das nicht zuletzt an Forschungsprojekten, die mit Hilfe unterschiedlicher Methoden und Fragestellungen neue Perspektiven auf das Königreich Westphalen zu eröffnen versuchen.

Anika Bethans Erinnerungsgeschichte über das Königreich Westphalen im 19. Jahrhundert reiht sich in diese jüngeren Forschungsarbeiten ein. Im Mittelpunkt der als histoire croisée verstandenen, diesen hohen methodischen Anspruch aber nur bedingt einlösenden Untersuchung stehen drei Leitfragen: erstens nach Selbst- und Fremdwahrnehmungen des Königreichs nach dessen Auflösung Ende 1813, zweitens nach sozialen Kohäsionsprozessen, die mit diesen Perzeptionen in Zusammenhang standen, und drittens nach den räumlichen Ausprägungen und Bezügen der aufgespürten Wahrnehmungen und Gemeinschaftsbildungen. Die Beantwortung der beiden ersten Fragen erfolgt beispielhaft anhand von Militärs, Beamten und Aufständischen. Raumbezüge werden jeweils für die lokale, deutsche bzw. territorialstaatliche und europäische Ebene hergestellt.

Nicht die räumlichen Ebenen, sondern die drei Personengruppen sind es, die der Darstellung ihre Struktur geben und in drei aufeinanderfolgenden Kapiteln analysiert werden. Weder inhaltlich noch sprachlich geschieht dies immer mit der nötigen Stringenz. Ebenso werden Verflechtungen häufig nur angedeutet; zuweilen kommen sie gar nur implizit zur Sprache. Unbefriedigend ist auch, dass die Darstellung der europäischen Ebene vergleichsweise kurz ausfällt und sich auf Exkurse auf die französische und englische Geschichtsschreibung beschränkt. Anika Bethan begründet diesen Fokus mit der Feststellung, das Königreich Westphalen sei in anderen europäischen Staaten kaum rezipiert worden, blendet aber aus, dass es sich hierbei um einen Befund handelt, der ihrem Forschungsinteresse an historiografiegeschichtlichen Erinnerungsmedien geschuldet ist. Andere Fragen und Quellen hätten hier möglicherweise andere Ergebnisse generiert.

Die Erinnerung an die Militärs, das verdeutlicht der erste Abschnitt der Arbeit, oszillierte stets zwischen Absenz und Präsenz. Auf der territorialstaatlichen Ebene war die Situation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch fehlende, wenn nicht gar verweigerte Erinnerung bis hin zur damnatio memoriae geprägt. Hauptgrund dafür war, dass die Nachfolgestaaten des Königreichs mit Ausnahme Preußens die staatsrechtliche Anerkennung Westphalens lange Zeit ablehnten, um keine Verpflichtungen für materielle Ansprüche aus Westphalen übernehmen zu müssen. Westphälische Orden und Ehrungen wurden deshalb ebenso wenig anerkannt wie rückständige Soldzahlungen und Pensionsansprüche. Ein öffentliches Gedenken an das westphälische Militär gab es auch nicht. Zwar wurde der Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig in verschiedenen Städten des ehemaligen Königreichs gefeiert. Wenn Veteranen der westphälischen Armee daran teilnahmen, gehörten sie zum imaginierten Bund der Freiheitskämpfer, jedoch nicht zu einer Armee, die in territorialstaatlichen bzw. imperialen Diensten gestanden und gefochten hatte.

Gleichwohl blieben die Nachfolgestaaten über Jahrzehnte hinweg mit der Hinterlassenschaft Westphalens beschäftigt, weil ehemalige Mitglieder der westphälischen Armee oder ihre Hinterbliebenen nicht auf ihre Ansprüche verzichten wollten und sich mitunter sogar zusammenschlossen, um ihren Anliegen mehr Durchsetzungskraft zu verleihen. Das hatte zur Folge, dass das Königreich bis weit in das 19. Jahrhundert die politische Bühne nicht verließ, machte aber vor allem die Gerichte zu den Orten, an denen die westphälische Vergangenheit territorialstaatlich gedeutet, verhandelt und erinnert wurde.

Im lokalen Raum gestaltete sich die Situation von vornherein anders als auf gesamtstaatlicher Ebene. Da es in den Kommunen Loyalitätskonflikte zum Herrscher nicht gab, konnte hier öffentlich und unbefangen an westphälische Soldaten erinnert werden. Hinzu kam, dass die Erinnerung an Krieg und Militär durch die physische Anwesenheit von Mitgliedern der Erlebnisgeneration vor Ort wach gehalten wurde: zum einen durch Militärs, die nahtlos in den Dienst einer der Nachfolgearmeen übergetreten waren, zum anderen durch zurückgekehrte Kriegsveteranen, deren Körper Spuren vom Krieg trugen und die zudem der lokalen Armenfürsorge zur Last fielen. Auf die sich an dieser Stelle beinahe von selbst aufdrängende Frage, welche Auswirkungen diese Präsenz auf die Tradierung bzw. den Austausch von Erfahrungen, Wissen und Erinnerungen und in letzter Instanz auf die Deutung(en) der westphälischen Geschichte auf lokaler Ebene hatte, gibt die Arbeit leider keine Antwort. Gleiches gilt für die Rolle und Funktion des kommunikativen Gedächtnisses insgesamt, über die man gerne mehr erfahren hätte.

Mit den Beamten verhielt es sich auf territorialstaatlicher Ebene kaum anders als mit den Militärs. Auch ihnen wurden finanzielle Ansprüche aus westphälischer Zeit konsequent verweigert. Umgekehrt glitten auch sie meist problemlos in die Nachfolgeverwaltungen hinüber. Politische Säuberungen gab es nicht. Nur vereinzelt wurde westphälischen Staatsbeamten der Prozess gemacht, etwa dann, wenn jemand verdächtig schnell im Königreich Karriere gemacht zu haben schien. Dabei konnte es vor Gericht durchaus zu Synergieeffekten mit bürgerlichen Teilen der Gesellschaft kommen. Die Fremdwahrnehmung stiftete auch hier offenbar zumindest vorübergehend das Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität. Der Wille zum öffentlichen Schulterschluss endete aber dort, wo die Integrität der eigenen Person und damit verbunden die Zugehörigkeit zur lokalen Gemeinschaft auf dem Spiel standen.

Die Erinnerung an die Aufständischen gestaltete sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts als noch schwieriger als der Umgang mit dem Militär. Das hing weniger mit der staatsrechtlichen Anerkennungsfrage zusammen als vielmehr mit der latenten Angst vor Unruhen. Während für das Militär zumindest im lokalen Bereich öffentliches Gedenken problemlos möglich war, konnte in den Jahren nach 1813 niemand öffentlich an die Insurrektionen von 1809 erinnern. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts konnte offen über die Vorgänge diskutiert werden. Dabei ging es jedoch nicht um die Aufstände an sich; vielmehr dienten diese stets als Projektionsfläche, um politische Zwecke durchzusetzen.

Insgesamt zeigt die Studie, wie schwierig es bis weit in das 19. Jahrhundert hinein blieb, öffentlich an das Königreich zu erinnern. Dies war wechselnden politischen Konjunktur- und Interessenlagen geschuldet, hing aber auch damit zusammen, dass das Königreich Westphalen einen französischen Monarchen besessen hatte. In Rheinbundstaaten, die von einem deutschen Monarchen regiert worden waren, war es deshalb auch wesentlich leichter, die Zeit bis 1813 in die eigene Geschichtserzählung zu integrieren. Darüber hinaus lässt die Arbeit drei weitere Schlussfolgerungen zu. Erstens bewegte sich die Erinnerung an das Königreich im 19. Jahrhundert zwischen Absenz und Präsenz, zwischen Individuum und Kollektiv und zwischen Kommune/Dorf, Territorialstaat und Nation zugleich. Zweitens produzierten das Auf und Ab in der Vergangenheitsbewältigung und -(um)deutung keine einheitlichen und schon gar nicht stabilen Interpretationsmuster, sondern Deutungsangebote, die je nach historischem Kontext und Zweckbindung variierten. Eine mögliche Bedeutung des Königreichs könnte denn auch in der eklektischen Vereinnahmung und Konstruktion seiner Geschichte nach 1813 liegen.

Drittens schließlich hat die Studie zumindest implizit deutlich gemacht, und das ist möglicherweise ihr wichtigster Ertrag, wie bedeutsam der lokale Raum für die Vergangenheitsbewältigung und Erinnerung war. Hier waren Militärs, Beamte und Aufständische sozial verankert, hier kam es zu Allianzen oder Ausgrenzungen, hier mussten Wunden der Vergangenheit geheilt werden, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Hier zirkulierte schließlich auch jenes Wissen, das Anika Bethan an vielen Stellen unhinterfragt voraussetzt. Hier würde es sich deshalb lohnen, jenseits territorialstaatlicher, deutscher oder europäischer Erinnerungskulturen weiterzusuchen, um Aufschluss über die Kommunikation über das Königreich Westphalen, vor allem aber über darauf bezogene lokale Geschichtsbilder und -interpretationen zu erhalten, die möglicherweise quer lagen zu anderen Narrativen. Damit würde nicht nur der notwendigen Verzahnung von Wissens- und Erinnerungsgeschichte Vorschub geleistet, sondern auch der Aufwertung des Lokalen in erinnerungsgeschichtlichen Prozessen.