J. Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle

Titel
Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht


Autor(en)
Hellbeck, Jochen
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: S. Fischer
Anzahl Seiten
608 S.
Preis
€ 24,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Vogel, Forschungsbereich „Militärgeschichte bis 1945“, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam

Rechtzeitig zum 70. Jahrestag des Ereignisses hat Jochen Hellbeck das breite Interesse am Thema „Stalingrad“ auch auf sich ziehen können. Der in den Vereinigten Staaten lehrende deutsche Historiker hat mit seiner Veröffentlichung in Medien wie in Fachkreisen hierzulande ungewöhnlich große Aufmerksamkeit gefunden. In fast allen überregionalen deutschsprachigen Zeitungen erschienen Besprechungen1, Rundfunk und Fernsehen berichteten2, und auch namhafte Historiker haben sich zu dem Buch geäußert.3

Die Publikation der sogenannten Stalingrad-Protokolle erschließt eine bis dahin nur eingeweihten Kreisen bekannte, lange Zeit unzugängliche Quellensammlung für die historische Forschung. Sie eröffnet darüber hinaus dem deutschen Publikum eine andere, bislang weitgehend unbekannte Perspektive auf „Stalingrad“. Hellbeck hat seinen Fund im Wissenschaftlichen Archiv des Instituts für Russische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau gemacht. Es handelt sich um Protokolle von Interviews, die eine sowjetische Historikerkommission unter Leitung des Moskauer Akademie-Professors Isaak Minz (1896–1991) hauptsächlich mit Soldaten der Roten Armee aber auch mit Einwohnern der Stadt über ihr Erleben der Kämpfe in und um Stalingrad führte. Hierfür reiste die Kommission zweimal an den Ort des Geschehens: zur Jahreswende 1942/43, also noch während der Kämpfe, und ein zweites Mal im Frühjahr 1943 nach dem Ende der Kämpfe, diesmal für mehrere Monate. Das Unternehmen sollte den Grund für eine umfassende Dokumentation des „Großen Vaterländischen Krieges“ legen. Es war Teil eines noch größeren Projekts, das Tausende sowjetischer Kriegsteilnehmer aller Frontbereiche erfasste. Die staatlichen Stellen waren dafür anfangs aufgeschlossen. Weil die Ergebnisse jedoch zu wenig regimekonform ausfielen, musste die Kommission ihre Arbeit bald nach dem Krieg einstellen, und die Protokolle verschwanden im Archiv.

Hellbeck wertete alle von der Kommission geführten 215 Interviews zum Thema „Stalingrad“ aus, die auf 5.000 Seiten protokolliert worden waren. Im Buch findet sich allerdings nur ein Bruchteil davon wieder. Die Auswahl spiegelt jene Vielstimmigkeit, um die es auch Minz gegangen war: Zu Wort kommt der General und Armeeführer ebenso wie der gemeine Rotarmist, die Sanitäterin ebenso wie der örtliche Parteisekretär. Eine Edition im „klassischen“ Sinn ist nicht daraus geworden. Vielmehr wurden im ersten Hauptkapitel (S. 109–316) zahlreiche kleinere Quellenauszüge zu größeren Collagen montiert. Aus der Perspektive vieler Zeitzeugen ergeben sich auf diese Weise stark verdichtete Bilder von bestimmten Ausschnitten des Geschehens.

Den Anfang macht der „Chor“ ziviler und militärischer örtlicher Funktionäre, die das Leben in Stalingrad in Erwartung des nahenden Feindes ab dem Sommer und dann in wachsender Konfrontation mit ihm ab dem Herbst 1942 beschreiben. Ein anderes Mosaik ist dem „Kriegszug“ einer Schützendivision der Roten Armee gewidmet, die schon in den Vorfeldkämpfen um Stalingrad im September und Oktober stark angeschlagen wurde, bevor sie in der Stadt zugrunde ging. Der relativ nüchterne Ton der Soldaten hebt sich wohltuend ab von der heroisierenden Prosa eines Wassili Grossmann, der Angehörige dieser Division schon vor Minz befragte, um daraus einen Essay für die Armeezeitung zu verfassen. Hellbeck hat diesen Text ergänzend in die Edition aufgenommen.

Für deutsche Leser besonders interessant dürfte ein Unterkapitel sein, das die Umstände der Gefangennahme des Oberbefehlshabers der 6. Armee, Friedrich Paulus, und das apokalyptische Szenario der deutschen Kapitulation aus der Perspektive der beteiligten sowjetischen Soldaten schildert. Erschütternd ist der Bericht einer Küchenarbeiterin vom brutalen Überlebenskampf der in Stalingrad verbliebenen Zivilbevölkerung unter deutscher Besatzung.

Das zweite Hauptkapitel (S. 317–481) ist konventioneller gestaltet, deshalb aber nicht weniger gelungen. Nacheinander kommen neun Soldaten der Roten Armee mit längeren, geschlossenen Berichten über ihr Schlachterlebnis zu Wort, angefangen vom Armeebefehlshaber bis hinunter zum einfachen Rotarmisten. Besonderen Quellenwert besitzen die Berichte der Generale Tschuikow und Rodimzew. Sie geben deren noch frische Erinnerungen „unplugged“ wieder, wirken authentisch. Insofern unterscheiden sie sich positiv von ihren Jahre später in geschönter Form veröffentlichten Memoiren, wie der Herausgeber im Detail nachweisen kann (S. 319f., 351). Allein sprachlich wird der grundverschiedene Charakter beider Persönlichkeiten deutlich, die – obwohl beide vom Typus Gewaltmensch – wenig miteinander verband. Da die selbstbewussten Generale weit ausholten, erfahren wir zudem einiges über die militärische Sozialisation von Führern der Roten Armee in der frühen Sowjetunion. Nicht zuletzt thematisieren sie ganz unbefangen die drakonischen Maßnahmen, mit denen die Rotarmisten in Stalingrad zum Durchhalten gezwungen wurden. Stalins Politik des „keinen Schritt zurück“ fand in beiden Generalen gnadenlose, mitunter persönliche Vollstrecker. Die Erschießung eigener Soldaten wegen Feigheit und Desertion scheint danach zumindest in der für die Verteidiger kritischen Phase an der Tagesordnung gewesen zu sein.

Ein anderes grausames Gesicht offenbart der Krieg im Bericht des Scharfschützen Wassili Saizew, der allein in Stalingrad 242 Deutsche gezielt tötete und deshalb zum Staats- und Volkshelden aufstieg. Sein Bericht zeigt den selbstbewussten Meister seines Faches und macht zudem auf den Scharfschützen-Kult in der Roten Armee aufmerksam, den es in der Wehrmacht so nicht gab. Durch den Herausgeber erfährt man, dass sich dieses Ansehen nicht auf deutsche Scharfschützen übertrug, ihnen vielmehr im Fall der Gefangennahme kurzer Prozess drohte (S. 433).

Intellektuell anspruchsvoller fällt der Bericht des Hauptmanns Pjotr Sajontschkowski aus. Der für Feindpropaganda zuständige Stabsoffizier entpuppt sich als promovierter Historiker, der es nach dem Krieg zu hohen akademischen Würden bringen sollte. Des Deutschen mächtig und daher Verhörspezialist seiner Armee, bemühte er sich um tieferen Einblick in das Verhalten des Gegners. Seine zahlreichen Verhöre deutscher Gefangener und die Auswertung erbeuteter deutscher Papiere führten ihn zu interessanten, freilich fragwürdigen Erkenntnissen über die Unterschiede zwischen Deutschen und Russen, etwa jene zwischen der angeblich „mechanischen“ Disziplin der deutschen Soldaten und der auf innerer Motivation beruhenden Disziplin der Rotarmisten (S. 476f.).

Die von Sajontschkowski überlieferten Dokumente aus seiner Tätigkeit als Verhör-Offizier bilden den Grundstock für das kurze dritte Hauptkapitel (S. 483–522), in dem abschließend auch deutsche Zeitzeugen zu Wort kommen. Ihr Quellenwert liegt, wie der Herausgeber zu Recht betont, darin, dass sie „erkennen lassen, wie die Sowjets mit den Gefangenen umgingen und welche Erkenntnisse sie von ihnen zu gewinnen suchten“ (S. 485).

Hellbeck hat sich große Mühe gegeben, den Leser mit den Protokollen nicht allein zu lassen. So bietet er eine umfangreiche Einführung in das Thema „Stalingrad“ mit all seinen Aspekten (S. 11–85), außerdem zur Geschichte und Arbeit der Minz-Kommission (S. 86–101). Darüber hinaus wird jedes Kapitel und Unterkapitel mit vertiefenden Informationen zur Biographie der jeweiligen Stimme(n) sowie zum spezifischen historischen Kontext eingeleitet. Die Ausstattung des Bandes runden ein Anmerkungsapparat, zahlreiche historische Fotografien sowie drei instruktive Kartenskizzen ab.

Seine Einführung nutzt der Herausgeber dazu, in der Forschungsdiskussion um die Motivation der sowjetischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg Position zu beziehen (S. 23–31). Dezidiert wendet er sich gegen die Auffassung – und damit gegen deren Exponenten Antony Beevor, John Erickson und Catherine Merridale4 –, wonach unbedingter Durchhaltewille und extreme Kampfbereitschaft der Rotarmisten durch Terror erzwungen worden seien. Er sieht vielmehr gerade in den von ihm ausgewerteten Quellen den Beleg dafür, dass es Regime und Partei verstanden, die Rotarmisten ideologisch zu motivieren und zu mobilisieren und dadurch einen Volkskrieg gegen die deutschen Aggressoren zu entfesseln. Er begründet dies zum einen damit, dass die Protokolle in Sprache und Tat durchweg den ideologisch gefestigten und dadurch zur Selbstüberwindung fähigen Kämpfer zeigten. Dagegen sei staatlicher Terror für die Zeitzeugen kein auffälliges oder gar vorherrschendes Phänomen gewesen, was sich anderenfalls in ihren Berichten entsprechend niedergeschlagen hätte. In seiner Auffassung findet sich Hellbeck durch neuere russische Quellenpublikationen bestätigt. Danach haben die Sonderabteilungen des NKWD bei Stalingrad erheblich weniger sowjetische Soldaten liquidiert als dies im Westen immer noch überwiegend angenommen werde (S. 24, 75).

Tatsächlich verraten die Stalingrad-Protokolle ein hohes Maß an Mut und Opferbereitschaft unter den Rotarmisten. Dabei machen die Zeugnisse einen glaubwürdigen Eindruck. Ihr offener, mitunter sogar kritischer Ton spricht gegen eine absichtliche Falschaussage oder eine manipulative Bearbeitung durch die Historikerkommission. Und dennoch ist es problematisch, wie Hellbeck sie in den Dienst seiner These stellt. Zunächst einmal erscheint seine Quellenbasis hierfür nicht ausreichend tragfähig, selbst wenn er sich dabei auf alle 215 Stalingrad-Protokolle berufen kann, und nicht nur auf jene 79, in die man als Leser Einblick erhält. Außerdem ist die Zeitzeugen-Auswahl nicht repräsentativ. Interessiert war die Kommission in erster Linie an Berichten des Führungspersonals, von dem man sich zu Recht eine qualifiziertere Auskunft erwartete; daneben wollte man natürlich die Aussagen der „Kämpfer“ und „Helden“ (S. 96). Folglich finden sich unter den Befragten weit überwiegend Generale, Stabsoffiziere, Kommandeure und politische Funktionäre sowie andere bewährte Kräfte. Es kann daher nicht überraschen, dass aus einem solchen Personenkreis eine besonders motivierte, partei- und regimekonforme Haltung spricht. Diese als „pars pro toto“ zu nehmen, erscheint gewagt.

Schließlich geben die veröffentlichten Protokolle Veranlassung, Hellbeck gerade im Kernpunkt seiner These zu widersprechen. Denn sie verschweigen keineswegs das drakonische Vorgehen gegen „Feiglinge und Deserteure“ infolge von Stalins Befehl. So berichten die Generale Tschuikow und Rodimzew gleich mehrfach von Hinrichtungen eigener Soldaten in ihrem Befehlsbereich (S. 330, 345, 350, 359, 361, 370); Tschuikow bekannte sich sogar dazu, mit eigener Hand Kommandeure und Kommissare exekutiert zu haben. Auf weitere Fälle weist der Herausgeber in seiner Einführung hin (S. 66–70). Interessant dabei ist, dass die Täter nicht etwa den Sondereinheiten des NKWD angehörten; vielmehr ging der tödliche Terror von der gewöhnlichen Truppe selbst aus, an der Spitze die von Hellbeck beschriebenen politisch konditionierten Kader. Das würde auch erklären, warum jene Erschießungsstatistiken des NKWD relativ wenige Opferzahlen ausweisen. Offenbar nahm die Truppe dem NKWD einen Großteil der Arbeit ab.

Die Stalingrad-Protokolle vermitteln eine Realität, in der Erschießungen sehr wohl an der Tagesordnung und wahrscheinlich auch ein Massenphänomen waren. Andererseits kann Hellbeck durchaus glaubhaft machen, dass der ideologisch beseelte und deshalb hoch motivierte Soldat keine Ausnahmeerscheinung in der Roten Armee war. Es drängt sich daher die Vermutung auf, dass die Rote Armee ihr Durchhaltevermögen in Stalingrad beiden Faktoren – „Motivation“ und „Terror“ – in gleicher Weise verdankte.

Die Kritik an seiner zentralen These kann Hellbecks Verdienste um die „Entdeckung“ eines bedeutenden Quellenbestandes nicht schmälern. Seine Edition hat eine fesselnde Lektüre daraus gemacht. Es wäre zu wünschen, dass von ihr der Anstoß zu einer noch intensiveren Auseinandersetzung mit dem Nachlass der Moskauer Historikerkommission ausgeht. Dies würde zwangsläufig auch Hellbecks Kernthese auf den Prüfstand stellen. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, inwieweit sich seine Schlussfolgerungen in der Fachwissenschaft durchsetzen werden.

Anmerkungen:
1 Michael Sontheimer, in: Der Spiegel Nr. 43/2012 v. 21.10.2012; Christian Staas im Interview mit Jochen Hellbeck, in: Die Zeit Nr. 47/2012 v. 15.11.2012; Jörg R. Mettke, in: Süddeutsche Zeitung v. 21.12.20123; Marie Todeskino, in: Deutsche Welle online v. 1.2.2013; Cord Aschenbrenner, in: Neue Zürcher Zeitung v. 23.3.2013.
2 Martin Hubert, in: Deutschlandfunk v. 19.11.2012; Rayk Wieland, in: ARD, Sendung „Titel-Thesen-Temperamente“ v. 20.1.2013; Norddeutscher Rundfunk Fernsehen, Sendung „Kulturjournal“ v. 28.1.2013; 3sat, Sendung „Kulturzeit“ v. 29.1.2013; Bayerischer Rundfunk Fernsehen, Sendung „Lesezeichen“ v. 21.3.2013.
3 Hans Mommsen, in: Die Welt v. 15.12.2012; Christian Hartmann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8.2.2013; siehe auch jüngst Horst Thum in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 3/2013, S. 277–279.
4 John Erickson, Red Army Battlefield Performance, 1941–1945: The System and the Soldier, in: Paul Anderson / Angus Calder (Hrsg.), Time to Kill. The Soldier’s Experience of War in the West, 1939–1945, London 1997; Catherine Merridale, Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939–1945, Frankfurt am Main 2006; Antony Beevor, Stalingrad, München 2010.

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