Cover
Titel
Carl von Siemens 1829–1906. Ein Leben zwischen Familie und Weltfirma


Autor(en)
Lutz, Martin
Erschienen
München 2013: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
413 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Schäfer, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Carl Siemens – das „von“ erhielt er erst nach dem Ende der aktiven unternehmerischen Laufbahn – war der jüngste von drei Brüdern, die Mitte des 19. Jahrhunderts ein global agierendes elektrotechnisches Großunternehmen gegründet und dann über einige Jahrzehnte geführt haben. Martin Lutz identifiziert in seiner Biographie Carl Siemens als treibende Kraft der bemerkenswert frühzeitigen internationalen Ausrichtung der Berliner Telegraphenbauanstalt Siemens & Halske. Die Fokussierung auf den Jüngsten des Siemens-Gründertrios legt es für Lutz nahe, mit seiner Biographie auch die Geschichte eines der ersten modernen transnationalen Industrieunternehmen zu präsentieren.

Der heutige Bekanntheitsgrad des Technologieriesen und „Global Players“ Siemens hat offenbar beim Verlag die Hoffnung geweckt, dass die Biographie eines der Unternehmensgründer bei einem größeres Leserkreis auf Interesse stoßen könnte. Dies deutet zumindest die Aufmachung des Buches als schwerer Hardcover-Band mit zahlreichen Abbildungen an. Auch inhaltlich zielt das Buch auf ein Publikum, das über den engen Fachkreis der Wirtschafts- und Unternehmenshistoriker hinausgeht. Martin Lutz präsentiert eine eher konventionelle Biographie, eine Lebensbeschreibung, die auch dem Privaten und Familiären breiten Raum gibt. Allerdings gelingt es dem Autor, Leben und Werk seines Protagonisten fachkundig in die wirtschaftshistorischen Zusammenhänge einzubetten. Lutz hat sich schließlich in einer wissenschaftlichen Monographie bereits mit dem Unternehmen Siemens beschäftigt, nämlich mit den geschäftlichen Beziehungen der Firma zur frühen Sowjetunion.1

Solche fachgeschichtliche Expertise ist natürlich von Vorteil, besteht doch das Werk Carl Siemens’ vornehmlich aus seiner unternehmerischen Tätigkeit im Dienste der brüderlichen Firma. Martin Lutz nutzt den biographischen Zugriff, um einen „akteurszentrierten“ Blick auf die Genese eines der ersten „transnationalen“ Industrieunternehmen zu werfen. Der Artillerieoffizier Werner Siemens hatte ein von ihm entwickeltes elektrotechnisches Telegraphensystem mit Hilfe der preußischen Heeresverwaltung testen können. Sein 1847 mit einem kaufmännischen Partner gegründetes Unternehmen hatte vom preußischen Staat auch seine ersten Aufträge erhalten. Schon in den folgenden Jahren versuchte die Firma Siemens & Halske diese Innovation in weiteren europäischen Ländern zu verwerten. Werner Siemens jüngere Brüder Wilhelm und Carl agierten als Vertreter des Unternehmens in Paris und London allerdings zunächst eher glücklos. Erst als es Carl Siemens während des Krimkrieges gelang, die russischen Behörden von der militärischen Nutzbarkeit des Telegraphen zu überzeugen, nahm das transnationale Unternehmen Siemens erste Gestalt an.

In den folgenden Jahrzehnten bildeten sich drei Säulen des Unternehmens aus, die Zentrale in Berlin und Zweigunternehmen in St. Petersburg und London. Die Auslandsniederlassungen firmierten zwar formal meist als selbständige Unternehmen, wurden aber von dem gleichen familialen Teilhaberkreis getragen wie das Berliner Stammhaus und in der Regel von einem der Siemens-Brüder vor Ort geleitet. Insofern erscheinen die Befunde der vorliegenden Studie wie eine Bestätigung von Jürgen Kockas alter These, dass familiale Strukturen, Prozesse und Mittel einen wesentlich Beitrag zur unternehmerischen Bewältigung der Probleme und Herausforderungen der Industrialisierung leisteten.2 Oder, in der Terminologie der Neuen Institutionenökonomik ausgedrückt: Die Familie generierte die Ressource Vertrauen, die half, Transaktionskosten zu senken und Principal-Agent-Probleme zu lösen. Dies erscheint gerade für eine Zeit bedeutungsvoll, in der sich ein institutionelles Rahmenwerk für transnational agierende Industrieunternehmen erst noch ausprägen musste.

Allerdings lässt die von Lutz präsentierte Frühgeschichte der Firma Siemens gewisse Zweifel aufkommen, ob in diesem Falle solche familial generierten Ressourcen nicht wieder von Handicaps aufwogen wurden, die ebenso typisch für Familienunternehmen erscheinen. Der Autor bescheinigt dem brüderlichen Großunternehmen über längere Zeiträume hinweg notorisch mangelhafte Organisationsstrukturen, unzureichende Koordinationsmechanismen und allzu langwierige Kommunikationsabläufe per Dreiecksbriefverkehr. Zudem habe Siemens in den 1870er- und 1880er-Jahren den Einstieg in die neue Starkstromtechnik verschlafen und sei von dynamischeren Konkurrenten wie der AEG überholt worden. Die notwendige Modernisierung von Organisationsstrukturen sei verschleppt, der Aufbau einer professionellen Vertriebsorganisation vernachlässigt worden. Vor dem Übergang zur Aktiengesellschaft, der die Expansion des Unternehmens wesentlich erleichtert hätte, schreckten die Siemens-Brüder lange zurück.

Überhaupt stellt Martin Lutz dem unternehmerischen Geschick von Carl Siemens und seinen Brüdern kein allzu gutes Zeugnis aus. Werner Siemens brachte zwar mit seinen bahnbrechenden Erfindungen das Unternehmen auf die Erfolgsspur, mahnte aber bei seinen Brüdern die Selbstbeschränkung auf Geschäfte an, bei denen es auf genaue Kalkulation nicht ankomme. Sie seien nun mal keine Kaufleute; auf diesem Feld könne man sich nur blamieren. Carl Siemens agierte zwar als Unternehmer wesentlich mutiger als sein älterer Bruder, ließ aber des Öfteren einen haarsträubenden Mangel an Risikobewusstsein und geschäftlichem Urteilsvermögen erkennen. Seine Versuche, in andere Branchen einzusteigen – in die Holz- und Glasverarbeitung, in die Landwirtschaft und den Kupferbergbau – erwiesen sich in der Regel als verlustreiche Fehlschläge. Am erfolgreichsten agierten die Brüder offenbar, wenn es galt, mit Staatsverwaltungen ins Geschäft zu kommen und Kontakte mit Ministern, Militärs und Beamten – auch mit Geldzuwendungen und ähnlichen „Gleitmitteln“ – zu pflegen.

Etwas schade erscheint es mir, dass Martin Lutz die allgemeinen und theoretischen Aspekte seiner Unternehmerbiographie nicht etwas expliziter und systematischer verfolgt. Zwar referiert er in einem zehnseitigen Anhang über Forschungsstand und Quellenlage und verortet das Wirken seines Protagonisten in einem fachwissenschaftlichen Kontext. Er bleibt aber dabei auf einer arg abstrakten und allzu allgemeinen Ebene, wenn er sich mit dem Verhältnis von Struktur und Individuum beschäftigt, eine „menschenleere Strukturgeschichte“ beklagt und von der Wirtschaftsgeschichtsschreibung einen „akteurszentrierten Institutionalismus“ einfordert. Hätte es nicht wesentlich näher gelegen, etwa zu den Thesen und Befunden der Familienunternehmenforschung explizit Stellung zu nehmen? Es entsteht doch etwas der Eindruck, als diene der Anhang dem Autor vornehmlich zum Ausweis seiner wissenschaftlichen Satisfaktionsfähigkeit. Auch wenn sich die vorliegende Biographie an ein breiteres Publikum wendet – wäre es nicht auch dem interessierten Laien zuzumuten gewesen, wenn im Haupttext gelegentlich die Forschungsdiskussion aufgegriffen worden wäre? „Wissenschaftlichkeit“ muss ja schließlich nicht unbedingt bedeuten, verquaste Theorien in unverständlicher Terminologie und Schachtelsatzmodus zu präsentieren.

Wie dem auch sei, Martin Lutz hat alles in allem eine sehr lesbare, luzide und aufschlussreiche Studie über die Anfänge eines deutschen Vorzeigeunternehmens verfasst. Für die „wissenschaftliche“ Auswertung seiner empirischen Befunde bleiben ihm die einschlägigen Fachzeitschriften.

Anmerkungen:
1 Martin Lutz, Siemens im Sowjetgeschäft. Eine Institutionengeschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen, Stuttgart 2011.
2 Vgl. Jürgen Kocka, Familie, Unternehmer und Kapitalismus, in: Heinz Reif (Hrsg.), Die Familie in der Geschichte, Göttingen 1982, S. 163–186.

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