Fürsorge, Wohlfahrt und Eugenik in der Schweiz

: Die Akte der Luisa De Agostini. Eine Frau zwischen Wohlfahrt und Bevormundung. Zürich 2012 : NZZ Libro, ISBN 978-3-03823-785-3 208 S. € 35,00

: Eingriffe ins Leben. Fürsorge und Eugenik in zwei Schweizer Städten (1920–1950). Zürich 2012 : Chronos Verlag, ISBN 978-3-0340-1135-8 192 S. € 31,00

Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Michèle Hofmann, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Bern

Die vorliegenden Bücher befassen sich mit der Geschichte der Fürsorge in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Während Gisela Hauss, Béatrice Ziegler, Karin Cagnazzo und Mischa Gallati in ihrem Sammelband das fürsorgerische Handeln in den Städten Bern und St. Gallen in den Blick nehmen, widmet sich Urs Hardegger der Geschichte von Luisa De Agostini, die 1905 in Zürich zur Welt kam, hier die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte und vielfach mit den Fürsorgebehörden zu tun hatte.

Bis anhin existiert keine Übersichtsdarstellung, welche die Entwicklung der Fürsorge in der ganzen Schweiz behandeln würde. In den vergangenen Jahren erschien aber eine Reihe von Publikationen zur Entstehung des modernen schweizerischen Fürsorgesystems, die einen regionalen Fokus haben.1 Die beiden vorliegenden Bücher reihen sich ein in diese Serie und leisten einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Fürsorge in der Schweiz.

Für Hauss et al. steht, wie einleitend ausgeführt wird, die Frage nach der Wirkungsmacht von Eugenik – und damit verbunden die Sozialdisziplinierungsthese – im vormundschaftlichen bzw. jugendfürsorgerischen Bereich sowie in psychiatrischen Gutachten im Zentrum des Interessens. Fürsorge wird, in Anlehnung an Michel Foucault, verstanden als „Machtkomplex, in dem wissenschaftliche Aussagen, moralische und finanzielle Überlegungen, Institutionen, Räume und Orte, Reglemente, Gesetze und Verfahren sich verknüpfen, mit der Wirkung, dass sich der fürsorgerische Regulationsanspruch Nachachtung verschafft“ (S. 14).

Der Sammelband gliedert sich in drei Teile, die aus jeweils zwei Kapiteln bestehen und einer „regionalen Logik“ (S. 18) folgen. Eingerahmt werden diese Teile durch eine Einleitung und eine abschließende vergleichende Diskussion. Der Band zeichnet sich aus durch eine breite Quellengrundlage und -analyse sowie durch eine methodisch fundierte Arbeitsweise. Der erste, von Gisela Hauss verfasste Teil ist der Stadt St. Gallen gewidmet. Die Autorin erläutert zuerst den historischen Kontext, insbesondere den Auf- und Ausbau der st.-gallischen Fürsorgeinstanzen. Anschließend wendet sie sich der alltäglichen Praxis der Vormundschaftsbehörde in den 1920er- bis 1940er-Jahren zu. Hauss richtet dabei ihren Blick der Reihe nach auf die drei Bereiche Kinderschutz, Jugend- und Alkoholfürsorge. Zahlreiche Fallbeispiele und Zitate veranschaulichen die Ausführungen in diesem Kapitel. Das Vorgehen der Autorin gestaltet sich jedoch insgesamt etwas schematisch: In einem ersten Schritt werden, ausgehend von Fallprotokollen der Vormundschaft, für jeden Bereich (in ausgewählten Stichjahren) die Argumentationsweisen rekonstruiert und in einem zweiten Schritt die fürsorgerischen Maßnahmen beleuchtet. Kontextualisierungen und historische Einordnungen fehlen hier weitgehend – auch findet keine Verbindung mit dem vorhergehenden Kontextkapitel statt. Ein Beispiel: Hauss stellt in den Fallakten der Jugendfürsorge aus den 1930er-Jahren eine „zunehmende Psychiatrisierung“ fest (S. 59). Die Autorin verzichtet darauf, diese in den Quellen konstatierte Entwicklung historisch zu verorten. Dieser Befund würde verständlicher vor dem Hintergrund des Institutionalisierungsschubes, den die schweizerische Psychiatrie in den 1930er-Jahren erlebte. Die Anstaltspsychiatrie hatte sich bis Mitte der 1930er-Jahre zu einem zusammenhängenden System psychiatrischer Versorgung entwickelt. Diese Ausdifferenzierung ging einher mit dem Wandel der psychiatrischen Anstalten von verwahrenden zu behandelnden Institutionen, womit ein nachhaltiger therapeutischer Optimismus der schweizerischen Psychiatrie begründet wurde.2 Hier ließen sich ferner Zusammenhänge mit der Eugenik aufzeigen, die für den vorliegenden Sammelband von zentralem Interesse sind – auch davon sieht Hauss ab. Den Psychiatern kam bei der Indizierung von Eheverboten, Abtreibungen und Sterilisationen Expertenstatus für Fragen der Geburtenkontrolle, der Bevölkerungs- und Sozialpolitik zu. Dabei wurden Zwecksetzungen von Eingriffen und Maßnahmen mit eugenisch-bevölkerungspolitischen Zielen vermittelt.3

Der zweite Teil, geschrieben hat ihn Mischa Gallati, befasst sich mit der Vormundschaft und Jugendfürsorge in der Stadt Bern. Auch hier wird zuerst in einem separaten Kapitel der (institutionelle) Kontext dargelegt. Nachfolgend geht der Autor auf vier vormundschaftliche Maßnahmen näher ein: Bevormundung; Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen; Eheverbote und Eheeinsprüche; Sterilisation und Kastration. Der Fokus liegt hier auf einer quantitativen Auswertung der Quellen. Viel Raum wird außerdem einzelnen Fallgeschichten gewidmet, die die Ausführungen veranschaulichen sollen, jedoch häufig etwas isoliert wirken.

Der dritte Teil der Autorin Karin Cagnazzo hat die psychiatrischen Sterilisationsentscheide im Kanton Bern zum Thema. Wiederum wird zu Beginn gesondert der (institutionelle) Kontext abgehandelt. Danach nimmt Cagnazzo eine Typisierung der untersuchten Sterilisationsfälle vor und zeichnet die eugenische Argumentation in der psychiatrischen Beurteilung dieser Fälle nach. Dabei unterscheidet sie drei Zeitabschnitte und illustriert diese mit kurzen Fallbeispielen, die allerdings etwas additiv erscheinen.

Den Schluss des Buches bildet eine vergleichende Diskussion, verfasst von Béatrice Ziegler und Gisela Hauss. Hier werden die Ergebnisse aus den verschiedenen Forschungsfeldern rekapituliert und aufeinander bezogen. Spezielles Augenmerk legen die Autorinnen auf die Sterilisation. Als „besonders aussagekräftig im Kontext der vorliegenden Gegenüberstellung“ erachten sie „diejenigen Fälle, in denen die Sterilisation als disziplinierende Maßnahme eingesetzt wurde“ (S. 186). Angesichts dieser Fokussierung ist wenig erstaunlich, dass die beiden Autorinnen das Fazit ziehen, „Eugenik als einen Foucault’schen Diskurs im Kontext der Sozialdisziplinierung zu interpretieren“, erweise sich für das Feld der Vormundschaft als produktiv (S. 189). Hier stellt sich allerdings die Frage, ob dieses Konzept den Blick nicht zu stark einengt. Gemäß Nadja Ramsauer wäre es voreilig, „die modernen Vormundschaftsbehörden einzig mit den Begriffen der Disziplinierung und Rationalisierung verstehen zu wollen, weil damit die Frage nach der realen Einbindung der Betroffenen in das Fürsorgesystem und die Frage nach der Herrschaftsausübung der Behörde noch nicht beantwortet ist“.4

Abschließend weisen Ziegler und Hauss darauf hin, dass die aufgezeigten Eingriffe in die körperliche Integrität für die Legitimität von Demokratie eine „schwerwiegende Hypothek“ darstellten und „staatlichen Organen die Pflicht der Wiedergutmachung“ auferlegten (S. 190). Diese Schlussbemerkung wirft die Frage nach der Funktion von Geschichte auf und macht deutlich, was Urs Hardegger in der Einleitung zu seinem Buch anspricht: „Wie das Handeln des Menschen in seiner Zeit unterliegt auch die Geschichtsschreibung über sozialhistorische Themen starken moralisierenden Bewertungen.“ (S. 12) Hardegger hält fest, dass die Amtsvormünder und Fürsorgerinnen „keine ‚Monster‘“ gewesen seien. „Sie glaubten an den Sinn und Zweck ihrer Arbeit, an ihre eigenen Kompetenzen, arbeiteten bis zur Erschöpfung und mussten in komplexen Entscheidungssituationen handeln, deren Folgen nicht immer zu ermessen waren. Was nach heutigen Maßstäben nicht nachvollziehbar erscheint, war damals Konsens. Sich in die Lage von Menschen in ihrer Zeit hineinzuversetzen, erfordert nicht nur Wissen über die damaligen Handlungsmöglichkeiten, Kenntnisse der strukturellen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, sondern ebenso ein Verständnis für die Situation der Handelnden. Dies kann uns vor zu schnellen Antworten bewahren.“ (S. 13) Diese Vorbemerkungen nimmt sich Hardegger in der Folge zu Herzen, wenn er die Geschichte von Luisa De Agostini und ihrer Familie erzählt. Geschickt und äußerst lesenswert verwebt er seine Ausführungen zu Luisas Schicksal mit dem zeitgenössischen Kontext.

Luisa erblickte 1905 als Tochter von Salvatore und Emma De Agostini das Licht der Welt. Ihre Mutter hatte durch die Heirat das Schweizer Bürgerrecht verloren. Luisa und ihre drei Geschwister waren dementsprechend italienische Staatsangehörige. Sie wuchsen in prekären familiären und wirtschaftlichen Verhältnissen auf. Zeitweilig drohte den Eheleuten De Agostini die Wegnahme ihrer vier Kinder, die Mutter war Alkoholikerin. Die ständige Geldknappheit und die Überwachung durch die Vormundschaftsbehörde prägten den Alltag der Familie. Luisa wurde 1925 schwanger und brachte eine Tochter namens Carla zur Welt. Sie wohnte bei ihrem Vater Salvatore (die Mutter war ein Jahr zuvor verstorben) und stand in dauerndem Kontakt mit den Fürsorgebehörden. Die ökonomische Situation gestaltete sich schwierig, da Luisa kaum Unterhaltszahlungen vom Kindsvater erhielt. 1928 wurde sie erneut Mutter einer Tochter. Auch dieses Mal stand es schlecht um die Zahlungsfähigkeit des Erzeugers, weshalb Luisa das zweite Kind zur Adoption freigab. Da es ihr nicht gelang, für Carla zu sorgen, wurde sie schließlich 1935 nach Italien ausgewiesen – mittellos und erneut schwanger. Eine Rückkehr in die Schweiz war nicht möglich. 1945 starb Luisa in Südtirol.

Hardegger erzählt die berührende Geschichte einer Familie über drei Generationen hinweg. Gleichzeitig beschreibt er ausführlich die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Umstände in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die für Luisa und die Personen in ihrem Umfeld bestimmend waren: Wohnverhältnisse in den Zürcher Arbeiter- und Armenvierteln, Alkoholismus und Abstinenzbewegung, Einwanderung, Entstehung von Fürsorgeeinrichtungen, bürgerliche Familien-, Erziehungs- und Bildungsvorstellungen – um nur einige Beispiele zu nennen.

Mit der Aufarbeitung der Lebensgeschichte von Luisa De Agostini leistet Urs Hardegger einen fundierten Beitrag zur Schweizer Fürsorgegeschichte. Das Buch überzeugt durch wissenschaftliche Akkuratesse und ist zugleich durch seine leicht verständliche Sprache einer breiten Leserschaft zugänglich.

Anmerkungen:
1 Vgl. bspw. Brigitte Studer / Sonja Matter (Hrsg.), Zwischen Aufsicht und Fürsorge. Die Geschichte der Bewährungshilfe im Kanton Bern, Bern 2011; Josef Mooser / Simon Wenger (Hrsg.), Armut und Fürsorge in Basel. Armutspolitik vom 13. Jahrhundert bis heute, Basel 2011; Marco Leuenberger u.a., „Die Behörde beschliesst“ – zum Wohl des Kindes? Fremdplazierte Kinder im Kanton Bern 1912–1978, Baden 2011; Gisela Hauss / Béatrice Ziegler (Hrsg.), Helfen, erziehen, verwalten. Beiträge zur Geschichte der Sozialen Arbeit in St. Gallen, Zürich 2010.
2 Hans Jakob Ritter, Psychiatrie und Eugenik. Zur Ausprägung eugenischer Denk- und Handlungsmuster in der schweizerischen Psychiatrie, 1850–1950, Zürich 2009, S. 171f.
3 Vgl. Ritter, Psychiatrie und Eugenik, S. 347.
4 Nadja Ramsauer, „Verwahrlost“. Kindswegnahme und die Entstehung der Jugendfürsorge im schweizerischen Sozialstaat 1900–1945, Zürich 2000, S. 82.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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