M. Hacker u.a. (Hrsg.): Dritte Generation Ost

Cover
Titel
Dritte Generation Ost. Wer wir sind, was wir wollen


Herausgeber
Hacker, Michael; Maiwald, Stephanie; Staemmler, Johannes; Enders, Judith; Lettrari, Adriana; Pietzcker, Hagen; Schober, Henrik; Schulze, Mandy
Erschienen
Anzahl Seiten
262 S., 14 schw.-w. Abb.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainette Lange, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die „3te Generation Ost“ ist eine 2011 in Berlin gegründete Initiative junger Ostdeutscher. Sie verfolgt das Ziel, das Reden und Schreiben über Ostdeutschland und DDR-Vergangenheit in neue Bahnen zu lenken und es dabei explizit um die Perspektive derjenigen zu bereichern, die lediglich ihre Kindheit in der DDR verbrachten. Diese „Generation“ der zwischen 1975 und 1985 in der DDR Geborenen zeigt nun verstärkt ein Bedürfnis, eigene Erfahrungen und Sichtweisen auf den Transformationsprozess zu artikulieren und für den gesamtdeutschen Diskurs fruchtbar zu machen. Der Impuls zur Gründung der „3ten Generation“ entsprang, wie die Initiatoren und Herausgeber des Buches im Vorwort betonen, einer latenten Unzufriedenheit über den öffentlichen Umgang mit der DDR-Vergangenheit und dem medial vermittelten Bild Ostdeutschlands. Insbesondere Letzteres erschien vom eigenen Erleben und den ostdeutschen Realitäten zu weit entfernt, um echtes Verständnis und eine gesellschaftliche Weiterentwicklung zu ermöglichen. Um hier Abhilfe zu schaffen, sollen, so die Hoffnung von „3te Generation Ost“, zukünftig ostdeutsche Binnenperspektiven aktiver zur Sprache gebracht werden. So könne unter neuen Vorzeichen ein ost-west-deutscher Dialog angekurbelt werden, der sich derzeit auf eingefahrenen Gleisen bewege.

Das Buchprojekt mit dem programmatischen Titel „Dritte Generation Ost. Wer wir sind, was wir wollen“ setzt dazu einen Auftakt. Entstanden ist ein sehr heterogener Sammelband, in dem mehr als dreißig Autorinnen und Autoren in kurzen persönlichen Essays, Interviews oder wissenschaftlich fundierten Texten zu Wort kommen. Das Buch ist in vier Kapitel gegliedert. Die ersten beiden Teile konzentrieren sich vorwiegend auf Erfahrungsberichte und Erinnerungen an Kindheit und Wendezeit. Demgegenüber sind die letzten beiden Teile eher darauf angelegt, die Potentiale der Generation zu erkunden und ihr bisheriges Engagement sichtbar zu machen. Erklärtes Ziel der Herausgeber ist es, möglichst vielen Stimmen Raum zu geben. Auf diese Weise wollen sie ein facettenreiches Bild einer Generation zeichnen, die von sich behauptet, aufgrund ihrer Sozialisation in zwei verschiedenen politischen Systemen und den damit verbundenen spezifischen Erfahrungen eine besondere Rolle im deutsch-deutschen Integrationsprozess zu spielen. Naturgemäß ist schwer zu sagen, inwieweit dieses Generationenkonstrukt der Initiatoren und Herausgeber tatsächlich in breiteren gesellschaftlichen Kreisen auf Resonanz stößt. In jedem Fall ist hier zumindest ein energisches identitätspolitisches Anliegen spürbar.

Doch worin besteht nun die behauptete historische Besonderheit und einzigartige Erfahrung dieser Generation? Die Vielfalt der hierzu in dem vorliegenden Band geäußerten Meinungen und Erinnerungen hinterlässt den Eindruck, dass sich dies kaum auf eine griffige Formel bringen lässt und oft im Unbestimmten bleibt. Dies verhehlen die Autoren auch keinesfalls, handelt es sich bei ihren Beiträgen doch um erste Sondierungen eines Phänomens, das Henrik Schober in seinem Artikel zur Entstehung der Initiative als „Die gefühlte Generation“ umschreibt. Genau dies wird in vielen Texten spürbar: die Suche nach der eigentlichen Basis eines diffusen Gemeinschafts- oder Herkunftsgefühls sowie ein Bedürfnis, ihm Ausdruck zu verleihen und sich öffentlich zu Wort zu melden. Es stellt sich daher die Frage, wieso dieses Bedürfnis gerade jetzt und mit einiger Vehemenz (man bedenke die weiteren Aktivitäten der Initiative wie z.B. Diskussionsveranstaltungen oder Biographie-Workshops) zutage tritt. Der Sammelband versucht, darauf erste Antworten zu bieten.

Es ist offenkundig, dass ein Großteil der Texte um eine Identitätsproblematik kreist. Diese hängt damit zusammen, dass sich Angehörige dieser Generation mit der eigenen DDR-Erfahrung oder vielmehr den darauf folgenden biographischen Einschnitten der Transformationsphase bisher kaum bewusst auseinandergesetzt haben. Vielmehr haben sie in diesen Jahren umfassende, aber zumeist als natürlich und relativ unproblematisch empfundene Anpassungsleistungen vollbracht. Sie gelten daher als gut integriert und im geeinten Deutschland „angekommen“. Dieses hohe Maß an zwar vielfach erfolgreicher, aber dennoch merkwürdig blind erfolgter Anpassung an die neuen Umstände mag dazu geführt haben, dass jene Teile ihrer Biographien, die vor der Zäsur von 1989 liegen, wie in der Versenkung verschwunden erscheinen und nun nachträglich einige unbehagliche Fragen aufwerfen. Johannes Staemmler formuliert dies folgendermaßen: „Uns verbindet am meisten, dass wir keine Ahnung haben, was die eine Hälfte unserer Herkunft, nämlich die DDR, mit uns zu tun hat.“ (S. 213)

Diese Unsicherheit ist in vielen Texten zu spüren und zeigt ein gespaltenes Verhältnis zur eigenen Herkunft. So ist vielfach von Gefühlen der Orientierungslosigkeit, der Scham, des Nicht-Dazugehörens als mehr oder minder ausgeprägte Erfahrungen der neunziger Jahre die Rede. Selbst die vielen genutzten Chancen und ungeahnten Möglichkeiten beförderten aus Sicht der Initiatoren und Autoren letztlich die Entfremdung und Entfernung von der eigenen DDR-Herkunft und ließen diese Herkunft mitunter als schwer integrierbaren Teil der eigenen Biographie erscheinen. So stellt beispielsweise Anne Wessendorf in einem Gespräch mit ihrer Schwester über ihre jeweiligen Wende-Erfahrungen fest: „Es ist, als ob es ein Ost-Ich und ein West-Ich in mir gibt, die sich zeitlich nacheinander gebildet und auch nicht automatisch miteinander verzahnt haben.“ (S. 84) An anderer Stelle konstatiert sie: „In vielerlei Hinsicht ist die Wiedervereinigung ein hochemotionales Thema für mich, an das eine tiefe Verunsicherung gekoppelt ist. Bislang habe ich wohl eher versucht, dies mit mir selbst auszumachen. Ich wollte es in gewisser Weise aussitzen, die Büchse der Pandora lieber nicht öffnen.“ (S. 91)

Die mangelnde Unbefangenheit im Umgang mit der eigenen Geschichte und Herkunft wird mehr als deutlich. Die Autoren führen dies auf eine noch immer defizitäre öffentliche Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte zurück sowie auf eine von „Unlust und Vorurteilen“ (S. 10) geprägte ost-westdeutsche Gesprächskultur. Auch ein Schweigen zwischen den Generationen machen sie als Faktor aus.

Die Publikation der Initiative ist daher als Gesprächsangebot lesbar, das gegenwärtige Meinungen und Deutungen junger Ostdeutscher (und auch einiger Westdeutscher) bündelt. Die Autoren schlagen dabei teilweise einen kühnen Ton an, so z.B. Adriana Lettrari in ihrem Beitrag über die „Potentiale der Dritten Generation Ostdeutschland“, welche sie nicht ohne Pathos zu benennen versucht. Doch selbst darin offenbart sich noch die mangelnde Unbefangenheit, denn es klingt fast wie der Versuch, eine Not zur Tugend zu machen, wenn sie sagt: „Für uns stellt sich die Frage, was unser Erbe, unsere Herkunft heute ausmacht und wie wir ihnen Konstruktives abgewinnen können.“ (S. 204) – Was den Gedanken impliziert, dass „unser Erbe, unsere Herkunft“ mit einem Makel behaftet ist, der beseitigt werden muss, und damit an ostdeutsche Rechtfertigungsdiskurse anschließt. Im Folgenden ist daher viel die Rede von speziellen „Transformationskompetenzen“ oder auch davon, dass es das Erbe der Erfahrungen aus dieser „historisch so speziellen Sozialisation“ als Handlungsgrundlage zu nutzen gelte. Worin dieses Erbe genau besteht, bleibt vage, im Vordergrund steht eine forcierte Suchbewegung nach etwas „spezifisch Eigenem“, die allerdings in einer gar nicht so „eigenen“ und etwas formelhaft wirkenden Leistungs- und Motivationsrhetorik vorgetragen wird.

Doch den Befund sollte man ernst nehmen: In Beiträgen wie diesen offenbart sich ein identitätspolitischer Anspruch und ein scheinbar noch immer vorhandener Reflex gegen Fremdbestimmung, dessen Intensität Vertreter älterer Generationen offenbar überrascht. Doch wenn z.B. die Herausgeber im Vorwort behaupten, dass auch die „Selbstverständlichkeiten der alten BRD“ untergegangen seien und wenn sie die Westdeutschen auffordern, dies anzuerkennen, ist das nicht als politischer Werterelativismus oder gar „exorzistischer Appell“ zu verstehen, wie Michael Kuhlmann in seiner Buchbesprechung im SWR2 befürchtet.1 Auch besteht der Wert des Buches nicht in erster Linie darin, dass es die „westdeutsche Bevölkerungsmehrheit“ über „Eigenheiten östlicher Befindlichkeit“ zu informieren vermag. Vielmehr macht die Publikation deutlich, dass ein Bedürfnis nach echtem beiderseitigen Austausch besteht. Sie ließe sich daher auch als Aufforderung verstehen, mehr über westliche „Befindlichkeiten“ zu erfahren. Wie diese aussehen konnten, schilderte etwa der (West)Berliner Schauspieler Lars Eidinger (Jg. 1976) unlängst in einem Interview mit der Berliner Zeitung. Er fand es furchtbar, so Eidinger, in den frühen 1990er-Jahren mit seinen Eltern Ausflüge ins Berliner Umland machen zu müssen: „Ich habe mich zu Tode geschämt, in einem 5er BMW im Schritttempo durch diese Käffer zu fahren. Die Leute standen in den Vorgärten und haben geguckt. Mein Bruder und ich sind hinten immer tiefer in den Sitz gerutscht.“2

Verunsicherung und Irritation angesichts der völligen Neuorientierung eines ganzen Landes sind sicher keine rein ostdeutschen Erfahrungen. Daher ist es auch für jüngere Jahrgänge wichtig, sich über ihre Erfahrungen auszutauschen, um nicht doch wieder Ressentiments zu verschleppen. Das Buch, wenn auch in seiner Konzeption und Zielsetzung noch nicht ganz ausgegoren, bietet hierfür aufschlussreiche Lektüre.

Anmerkungen:
1 SWR2 Forum Buch: Dritte Generation Ostdeutschland, Rezension von Michael Kuhlmann, 27.01.2013, <http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/buchkritik/-/id=658730/sdpgid=752730/nid=658730/did=10740214/1y6v9r/index.html> (02.05.2013)
2 „Leinen mit Schäferhunden dran“, Der Kudamm, Strandbad Wannsee, der Funkturm – warum sich der Schauspieler Lars Eidinger im Berliner Westen zu Hause fühlt, in: Berliner Zeitung, 25.03.2013, S. 16.

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