M. Sochin D’Elia: Liechtensteins Umgang mit Fremden seit 1945

Cover
Titel
„Man hat es doch hier mit Menschen zu tun!“. Liechtensteins Umgang mit Fremden seit 1945


Autor(en)
Sochin D’Elia, Martina
Erschienen
Zürich 2012: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
374 S.
Preis
€ 39,50
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Philipp Eigenmann, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Die Migrationsgeschichte eines einzelnen Kleinstaates aufzuarbeiten, bietet die Möglichkeit, gleichzeitig unterschiedliche Aspekte des Phänomens zu betrachten und diese aufeinander zu beziehen. Das Fürstentum Liechtenstein scheint sich für ein solches Vorhaben gut zu eignen: So erschien neben der hier besprochenen Dissertation von Martina Sochin D’Elia über „Liechtensteins Umgang mit Fremden seit 1945“, wie der Untertitel der Arbeit lautet, kürzlich auch eine vierbändige Publikation eines historischen Forschungsprojekts zur Einbürgerung in Liechtenstein im 19. und 20. Jahrhundert.1 Während letzteres stärker staatspolitisch ausgerichtet ist und Einbürgerungsnormen und -praktiken fokussiert, widmet sich Sochin D’Elia „Fragen nach der Wahrnehmung und den Umgang der liechtensteinischen Aufnahmegesellschaft mit den Fremden“ (S. 17). Dabei gelingt es der Autorin, die Perspektive der liechtensteinischen Gesellschaft in der Nachkriegszeit differenziert und auch in ihren Widersprüchlichkeiten zu rekonstruieren, da sie ihre Fragestellung nicht auf einen Migrationstypus beschränkt, sondern sie an den Feldern der Heirats-, der Arbeits- und der Fluchtmigration anlegt.

Die Studie ist entlang dieser drei Themenfelder strukturiert, welche auch die drei Hauptkapitel des Buches bilden. Einleitend legt die Autorin dar, anhand welcher Kategorien sie die Quelleninterpretation vornimmt: Einerseits sind dies die in der Fragestellung erwähnten Begriffe der Wahrnehmung und des Umgangs, wobei Sochin D’Elia Wahrnehmung als Analysekategorie zur „Rekonstruktion subjektiver menschlicher Vorstellungswelten“ (S. 34) nutzt und Umgang als gesellschaftliches Handeln im Sinne einer Interaktion mit anderen deutet. Andererseits dient das einleitende Kapitel einer theoretischen Auseinandersetzung mit den für die Quelleninterpretation zentralen Begriffen der Fremdheit und der Integration. Fremdheit müsse als Konstrukt verstanden werden, welches nur in Relation zu etwas Eigenem bedeutsam werden könne. Folgerichtig rückt die Konstruktion von Differenzlinien zwischen dem Eigenen und dem Fremden ins Zentrum des Interesses. Die Autorin befragt ihre Quellen nach den Instrumenten und Argumenten, mit welchen solche Differenzziehungen erfolgten. Gleichzeitig werden die normativen Komponenten des Begriffs der Integration historisiert: „Strukturelle Prozesse des Ein- und Ausschlusses werden aus historischer Perspektive von jeder Gesellschaft laufend neu ausgehandelt und unterliegen damit einem ständigen Wandel“ (S. 47). Obwohl der Integrationsbegriff erst in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums auftritt, macht ihn die Autorin dazu nutzbar, anhand des Wandels der Aufnahmebereitschaft sowie der sich verändernden Kriterien zur Beurteilung von Integrationserfolg oder -misserfolg die Haltung der Aufnahmegesellschaft gegenüber ‚Fremden‘ zu rekonstruieren.

Die Wahl des ersten Schwerpunktes, der Heiratsmigration, entspricht einem allgemeinen Desiderat nach einer stärkeren Berücksichtigung von Geschlechterverhältnissen innerhalb der Migrationsgeschichte. Ausgangs- und Drehpunkt der Argumentation ist eine unterschiedliche Bürgerrechtsregelung für Männer und Frauen, wonach eine Liechtensteinerin ihre Staatsbürgerschaft verlor, wenn sie einen Ausländer heiratete, und ihre Wohnsitzsicherheit fortan an die Niederlassungsbewilligung ihres Mannes gebunden war – eine Bürgerrechtsregelung, welche bis 1992 auch in der Schweiz galt. Darin, so Sochin D’Elia, spiegle sich die Vorstellung eines patrilinearen Transfers nationaler Identität.

Vor diesem Hintergrund diskutiert die Autorin die öffentlichen Debatten um verschiedene politische Vorstöße, welche die Absicht teilten, die aus dieser Regelung resultierenden Ungleichbehandlungen zu mildern. Erstens wurde um ein Postulat mit dem Namen „Liechtensteinerin bleiben“ gerungen, das sich zum Ziel setzte, dass Liechtensteinerinnen auch bei Heirat eines ausländischen Mannes ihre Staatsbürgerschaft behalten durften. Zweitens stellten die durch Heirat eingebürgerten Frauen – in der Öffentlichkeit auch als „unechte“ Liechtensteinerinnen disqualifiziert (S. 107) – eine Barriere für die Verleihung des Stimm- und Wahlrechts an Frauen dar. Erst der Kompromissvorschlag einer Karenzfrist, wonach „eingeheiratete Ausländerinnen“ (S. 110) erst sechs Jahre nach der Einbürgerung das Stimmrecht erhielten, bereitete der Annahme des Frauenstimmrechts den Boden. Drittens folgte aus dem Muster des patrilinearen Identitätstransfers, dass die „ausländischen Kinder liechtensteinischer Mütter“ (S. 121) – also Kinder von Liechtensteinerinnen, die einen Ausländer geheiratet hatten – das Staatsbürgerrecht nicht per Geburt erhielten und somit gegenüber den einheimischen Kindern mit liechtensteinischem Vater und „zugeheirateten“ (S. 123) Müttern rechtlich benachteiligt waren. Anhand dieser Facetten zeichnet Sochin D’Elia nach, wie Fremdheit in der liechtensteinischen Gesellschaft entlang von Staatsbürgerschaft konstruiert und wie zudem zwischen ‚echten‘ und ‚unechten‘ Liechtensteinern bzw. Ausländern differenziert wurde. Gleichzeitig problematisiert sie die in der liechtensteinischen Bevölkerung vorherrschende Auffassung einer „totalen Integration“ (S. 134), wonach eine doppelte Staatsangehörigkeit ausgeschlossen wurde.

Als zweiten Schwerpunkt bearbeitet Sochin D’Elia die Arbeitsmigration, wobei ihre Argumentation dem Spannungsfeld zwischen dem ökonomischen Wunsch nach Arbeitskräften und den gesellschaftspolitischen Bedenken gegenüber einer Überfremdung Liechtensteins folgt. So kommen die Rekrutierungspraxis der liechtensteinischen Unternehmen in Italien oder die Arbeits- und Wohnbedingungen der Arbeitsmigranten ebenso zur Sprache wie die restriktive Handhabung von Niederlassungsbewilligungen für deren Familien oder die Umstände fremdenpolizeilicher Ausweisungen.

Plausibel legt die Autorin dar, dass gerade der letztgenannte Aspekt die Wahrnehmung und den Umgang mit dem Fremden in der liechtensteinischen Gesellschaft spiegle, weil Ausweisungspraktiken ein Gradmesser für Toleranz seien. Die Rigidität des Umgangs mit ausländischen Arbeitskräften zeigt sich nach Sochin D’Elia in der engen Kopplung mit (katholischen) Moralvorstellungen, wonach neben der Missachtung fremdenpolizeilicher Vorschriften auch im Ehebruch, in der Schuldenmacherei oder gar in der Charakterisierung als arbeitsscheu Ausweisungsgründe gefunden wurden. Die Wahrnehmung der ausländischen Arbeitskräfte als wirtschaftliche Manövriermasse zeigte sich auch in prekären Wohnverhältnissen, welche den Migranten teilweise zugemutet wurden, wenngleich die Autorin „im Allgemeinen faire finanzielle Anstellungsbedingungen“ (S. 208) konstatiert, die den Arbeitsmigranten seitens der von ihnen abhängigen liechtensteinischen Wirtschaft geboten wurden. Hinsichtlich der Integration in die liechtensteinische Gesellschaft stößt Sochin D’Elia auf unterschiedliche Akteursgruppen wie die katholische Kirche, das Rote Kreuz oder das Italienische Konsulat in St. Gallen, welche sich um eine soziale und kulturelle Betreuung der italienischen Arbeitskräfte in Liechtenstein kümmerten. Dass dabei die Beschulung und die Betreuung der Kinder von Arbeitsmigranten nur am Rande thematisiert werden kann, ist dem Umstand geschuldet, dass aufgrund der restriktiven Verteilung von Familienbewilligungen sich nur wenige italienische Kinder in Liechtenstein aufhielten.

Den dritten Schwerpunkt, die Fluchtmigration, nutzt Sochin D’Elia nun als Kontrastierung der bisherigen Ergebnisse eines restriktiven Umgangs mit den Fremden durch die liechtensteinische Bevölkerung. Die bis in die 1990er-Jahre unkomplizierte Aufnahme kleiner Gruppen von ungarischen, tschechoslowakischen und indochinesischen Flüchtlingen sei karitativ geprägt gewesen und zeuge von einer gewissen Offenheit gegenüber Fremden, welche in den ersten beiden Schwerpunktbereichen so nicht sichtbar wurde. So findet die Autorin Belege dafür, wie sich die liechtensteinische Bevölkerung zu einem Engagement für einzelne Flüchtlingsgruppen mobilisieren ließ. Im Vergleich der einzelnen Flüchtlingsgruppen legt Sochin D’Elia offen, wie stark der Umgang mit Flüchtlingen politisch motiviert war: Während die Aufnahme von Flüchtlingen aus Osteuropa im Einklang mit der antikommunistischen Haltung Westeuropas stand, wurde der chilenischen Flüchtlingsgruppe, die im Zuge des Militärputschs von 1973 nach Europa kam, die Aufnahme verweigert. Mit Blick auf Flüchtlinge aus Südosteuropa hält die Autorin fest, wie die Einstellung gegenüber den aufgenommenen Flüchtlingen davon abhängig war, ob von einem definitiven Verbleib in Liechtenstein ausgegangen wurde oder ob eine möglichst baldige Rückführung der Betroffenen ins Auge gefasst wurde – bei letzterem blieben Integrationsmaßnahmen weitgehend auf der Strecke.

Das letzte Kapitel bietet eine Synthese der drei Migrationsformen im Hinblick auf die Konstruktion von Fremdheit durch die liechtensteinische Gesellschaft und dem damit zusammenhängenden Verständnis von Integration. Die breite Anlage der Studie kommt der Autorin hier entgegen, denn es gelingt ihr im Abschluss eine differenzierte Rekonstruktion von Fremdheitsvorstellungen in Liechtenstein entlang den Kriterien Ökonomie, Geschlecht, Identitätskonstruktion und Religion über die drei Bereiche der Heirats-, Arbeits- und Fluchtmigration hinweg.

Das gewählte Forschungsdesign impliziert letztlich aber auch, dass die Studie konkrete Wahrnehmungs- und Umgangsformen tendenziell vernachlässigt. Die Autorin rekonstruiert Fremdheitskonstruktionen und Integrationsverständnisse in erster Linie über staatliche, wirtschaftliche, religiöse oder karitative Institutionen, während den Beschreibungen der konkreten Interaktion mit oder über Fremde nur wenig Platz eingeräumt wird. Somit erscheint fraglich, ob das Versprechen einer Untersuchung der „Alltagsebene“ (S. 17) tatsächlich eingelöst wird. Vor dem Hintergrund des ambitionierten Vorhabens ist diese Einschränkung jedoch nachvollziehbar, leistet die Arbeit doch einen überzeugenden Beitrag zu einem umfassenden Verständnis von Migration, das sich weder auf die staatliche Ebene noch auf eine Wanderungsform beschränkt.

Anmerkung:
1 Regula Argast u.a., Einbürgerungen in Liechtenstein 19.–20. Jahrhundert, 4 Bände, Zürich 2012.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension