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Titel
Geistliche Spiele in der Stadt des ausgehenden Mittelalters. Frankfurt - Friedberg - Alsfeld


Herausgeber
Freise, Dorothea
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Institus für Geschichte 178)
Erschienen
Göttingen 2002: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
624 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Enno Bünz, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Geistliche Spiele des Mittelalters waren bislang, wenn überhaupt, vor allem ein Forschungsfeld der älteren Germanistik, kaum aber der Geschichtswissenschaft. Dabei gibt es eine Fülle überlieferter Spieltexte und ergänzender historischer Quellen, die Einblicke in die Häufigkeit und Praxis solcher Aufführungen verraten. Ursprünglich waren geistliche Spiele, die schon seit dem Hochmittelalter nachweisbar sind, vom Klerus dominiert und in die liturgischen Feiern eingebunden. Aus diesem Rahmen haben sich die in der vorliegenden Arbeit untersuchten spätmittelalterlichen Spiele, welche die Passion oder andere Ereignisse der Heilsgeschichte zum Gegenstand hatten, aber gelöst. Sie gehören in den Kontext städtischen Lebens im Spätmittelalter.

Die Untersuchung, eine von Otto Gerhard Oexle betreute Göttinger Dissertation aus dem Jahre 1999, ist im Rahmen des Graduiertenkollegs „Kirche und Gesellschaft des Heiligen Römischen Reiches um 1500“ entstanden, aus dem mittlerweile mannigfaltige Untersuchungen zur Geschichte von Kirche, Klerus und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter hervorgegangen sind. In diesen Forschungsverbund, der von Historikern, Kirchen- und Kunsthistorikern sowie Germanisten bestimmt worden ist, fügt sich diese Arbeit vorzüglich ein.

Die umsichtige methodische Vorgehensweise der Verfasserin spiegelt sich schon in der klaren Konzeption der umfangreichen Arbeit wider. Forschungsstand, kritische Überlegungen zur Methode und Möglichkeiten eines weiterführenden Untersuchungsansatzes werden in der Einleitung dargelegt. Hervorgehoben sei der ausführliche Forschungsüberblick, der deutlich macht, dass bislang vor allem von der älteren Germanistik und der Theaterwissenschaft über die spätmittelalterlichen geistlichen Spiele gearbeitet worden ist. Gegenüber diesen Ansätzen bevorzugt die Verfasserin als Historikerin einen sozialgeschichtlichen Zugriff, wofür vor allem die englische Forschung wichtige Anregungen zu geben vermag, namentlich die Arbeiten von Miri Rubin, die nach dem „kulturellen Gebrauch“ (cultural use) solcher Spiele fragen. Solche Ansätze sind auch von der deutschen Forschung nicht ganz außer Acht gelassen worden, doch scheint mir, dass die wichtige Quellensammlung von Bernd Neumann über „Zeugnisse mittelalterlicher Aufführungen im deutschen Sprachraum“ (Köln 1979), die auch von der Verfasserin mit Gewinn herangezogen wird, von der Geschichtswissenschaft kaum beachtet worden ist. Das holt nun die vorliegende Untersuchung nach, die nach der Bedeutung der geistlichen Spiele im sozialen und kulturellen Kontext spätmittelalterlicher Städte fragt und die geistlichen Spiele „als soziales Handeln von Gruppen in einem bestimmten Umfeld“ (S. 37) begreifen möchte. Dabei erweist sich der regional bzw. lokal eingeschränkte Untersuchungsansatz als durchaus sinnvoll und fruchtbar.

Im Mittelpunkt der Arbeit stehen drei Passionsspiele, die Ende des 15. Jahrhunderts (Friedberg und Frankfurt) bzw. im frühen 16. Jahrhundert (Alsfeld) entstanden sind. Diese Texte, die zur „rheinfränkisch-hessischen Spielgruppe“ gehören, gehen auf ein älteres Frankfurter Passionsspiel zurück, das in der Frankfurter Dirigierrolle der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts überliefert ist. Zu dieser Gruppe sind außerdem ein Fritzlarer Passionsspielfragment aus dem 15. Jahrhundert und ein Heidelberger Passionsspiel von 1514 zu zählen, die aber außerhalb der Betrachtung bleiben. Aufführungen geistlicher Spiele sind zudem für Butzbach, Fulda und Marburg nachweisbar, doch sind die Texte nicht erhalten.

Die genannten drei Spiele bilden mehr als nur Fallbeispiele, denn es gab zwischen diesen drei Städten im späten Mittelalter vielfältige Beziehungen, die sich auch in Gemeinsamkeiten und Parallelen der Spieltexte niedergeschlagen haben. Das Frankfurter und das Alsfelder Passionsspiel sind ediert und der Friedberger Text, der leider seit dem 19. Jahrhundert als verloren gelten muss, ist immerhin durch ausführliche Auszüge überliefert. Besonders wichtig für den Untersuchungsansatz der Autorin ist aber der Umstand, dass neben den Texten selbst auch vielfältige Quellenzeugnisse überliefert sind, welche die Aufführungspraxis beleuchten. Besonders gut ist die Quellenlage in Alsfeld, wo mehrere Einzelrollenblätter und das Regiebuch (Dirigierrolle) erhalten sind. Doch nicht nur mit Blick auf die Spieltexte ist der vergleichende Ansatz fruchtbar, sondern auch hinsichtlich der drei Städte, die durch Bevölkerungszahl wie durch politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen ein recht unterschiedliches Umfeld für die Aufführungen boten.

Bevor sich die Verfasserin ihren Fallbeispielen zuwendet, werden die allgemeinen Rahmenbedingungen der Aufführungen ausgelotet, indem nach mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stellungnahmen zur Aufführung geistlicher Spiele gefragt wird (S. 47-79). Ihre Aufführung war seit dem Hochmittelalter kontinuierlich von Kritik begleitet, doch gab es auch Gegenstimmen, weshalb man mit der Verfasserin festhalten kann, dass sich in diesen Äußerungen die divergierenden kulturellen Bedürfnisse, Ausdrucksformen und Vorstellungen von Frömmigkeit widerspiegeln (S. 79). Erst die Reformation hat die geistlichen Spiele kategorisch abgelehnt und damit auch zum Abbruch der Spielpraxis in den drei untersuchten Städten geführt.

Im Mittelpunkt der Arbeit steht die eingehende Untersuchung der drei Passionsspiele in Frankfurt (S. 85-206), Friedberg (S. 207-255) und Alsfeld (S. 256-334). Es geht der Vefasserin vor allem darum, den quantitativen Grad der Beteiligung und das soziale Spektrum der Beteiligten herauszuarbeiten, weshalb es erforderlich ist, tief in die Sozialstruktur der behandelten Städte einzudringen. Dieser Ansatz beruht auf der Prämisse, dass „der Grad der sozialen Anerkennung und Relevanz einer Veranstaltung in einem bestimmten sozialen Umfeld ... wesentlich vom sozialen Ansehen derer (abhängt), die sie tragen“ (S. 81). Um dies abmessen zu kennen, benennt die Verfasserin ein ganzes Bündel wirtschaftlicher, sozialer, politischer und kirchlich-religiöser Kriterien (S. 82). Entsprechend wird zunächst das städtische Umfeld von Frankfurt, Friedberg und Alsfeld, wobei neben den politisch-verfassungsgeschichtlichen Rahmenbedingungen (Frankfurt als wirtschaftlich prosperierende Reichsstadt, Friedberg als Reichsstadt im Niedergang, Alsfeld als hessische landsässige Stadt) vor allem das Verhältnis Kirche und Stadt und das Vorhandensein einer jüdischen Gemeinde beachtet wird. Den größten Raum nimmt dann die Untersuchung der Aufführungspraxis und der beteiligten Darsteller ein. Während sich für Frankfurt die Aufführungen im chronologischen Längsschnitt von 1456 bis 1515 am eindringlichsten darstellen lassen und für Friedberg (bei eingeschränkter Quellenlage) die Rolle der Bruderschaften bei den Aufführungen besonders deutlich wird, bietet Alsfeld aufgrund der erwähnten Überlieferungslage die besten Voraussetzungen für eine sozialgeschichtliche Untersuchung, die vor allem den Darstellern und der Rollenbesetzung gilt. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Autorin im Anhang die in dem erwähnten Werk von Neumann zusammengestellten Aufführungsnachrichten für Friedberg mehrfach aufgrund verbesserter Quellengrundlage korrigieren kann (S. 526f.) und sie das Alsfelder Darstellerverzeichnis in einer Neuedition vorlegt (S. 528-534). In einem prosopografischen Anhang (S. 535-574) werden für die namentlich ermittelten Darsteller weitere historische Nachrichten zusammengestellt. Auf dieser Grundlage beruht die Untersuchung der Alsfelder Passionsspielpraxis.

Der sozialgeschichtliche Untersuchungsgang wird erweitert durch eine vergleichende Analyse der drei Passionsspiele unter systematischen Gesichtspunkten (S. 335-512): Die Konzeption der Handlung, die Art der Passionsdarstellung, die Behandlung von Barmherzigkeit und Gnade, die Funktion ethischer und sozialer Normen und die Repräsentanten des Bösen, darunter die Juden und die Söldner, werden eingehend behandelt. Diese Ausführungen zielen keineswegs auf einen vordergründig formalen Vergleich der Spielkonzepte, sondern versuchen, die Spielelemente konsequent in das kirchliche und soziale Leben der Städte einzuordnen (z.B. Messfrömmigkeit, oder Glücksspiel, Wucher und Handel auf geweihtem Boden, die Stellung der Juden, die Rolle von Söldnern in der Stadt u.a.m). Wie in dem abschließenden Abschnitt über Spiel und Liturgie gezeigt wird, hatten liturgische Elemente auch in den spätmittelalterlichen städtischen Passionsspielen ihren festen Platz.

Die vielen Einzelergebnisse und klugen Beobachtungen dieser ausgesprochen kenntnisreichen und übrigens auch flüssig geschriebenen, wenn auch streckenweise sehr ausführlichen Arbeit können hier nicht eingehend referiert werden. Besonders begrüßenswert ist es deshalb, dass die Verfasserin ihre wichtigsten Ergebnisse in einer längeren Zusammenfassung nochmals darlegt und einordnet. Festzuhalten ist danach die mahnende, belehrende und erziehende Funktion der Passionsspiele, die es den Mitmenschen ermöglichten, „Leben und Leiden Jesu so intensiv mitzuerleben und mitzuleiden, wie sie es ihrem Erlöser schuldig waren“ (S. 514). Eine klare funktionale Unterscheidung zwischen volkssprachlichem Spiel und liturgischer Feier erscheint deshalb als problematisch; vielmehr fügte sich die Aufführung geistlicher Spiele - wie die Verfasserin betont - „bruchlos ein in das große Spektrum spätmittelalterlicher religiöser Betätigung und Jenseitsvorsorge. Sie ist vergleichbar mit der Aufstellung von Altarretabeln, der Stiftung von Predigten und Messen und anderen liturgischen Andachten oder der Herausgabe von Stunden- und Andachtsbüchern ... Nach zeitgenössischem Verständnis waren all dies fromme Werke zur höheren Ehre Gottes und zugleich karitative Taten, denn sie machten sich verdient um das Heil der Mitmenschen und der Stadt. Immer ging es um das eine große Thema: die Teilhabe an der Erlösung“ (S. 515). Eindringlich warnt die Verfasserin davor, die geistlichen Spiele als „Volksschauspiel“ zu verkennen und ihre theologische Konzeption zu unterschätzen. Im Gegensatz zur liturgischen Feier boten die geistlichen Spiele freilich breiten Laienkreisen die Möglichkeit zur Mitwirkung, wobei allerdings nicht zu übersehen ist, dass stets auch Weltgeistliche an den Aufführungen beteiligt waren. Während die Passionsspiele in Friedberg und Alsfeld unter der Obhut des Rates standen, gelang diese Institutionalisierung in Frankfurt nicht dauerhaft, vermutlich, weil es an prominenten, sozial hochstehenden Förderern fehlte. Dies zeigt nochmals, wie lohnend es ist, sich den Passionsspielen mit dem in der vorliegenden Arbeit entfalteten konsequent sozialgeschichtlichen Untersuchungsansatz zu nähern. Dass die Arbeit auch wichtige Einsichten in die Frömmigkeitsgeschichte des ausgehenden Mittelalters vermittelt, sei abschließend betont. Die Beigabe eines Sachregisters wäre deshalb sinnvoll gewesen.

Dorothea Freise hat eine wichtige und weiterführende Untersuchung vorgelegt, die das bisherige Bild des Frömmigkeitslebens und der Kirchlichkeit in der spätmittelalterlichen Stadt um neue Aspekte bereichert. Gewiss war die Bedeutung geistlicher Spiele unter Beteiligung von Laien und Weltgeistlichen schon der bisherigen Forschung nicht ganz verborgen geblieben. Aber es gab bislang keine Untersuchung, die den Zusammenhängen von Passionsspiel und städtischem Leben mit ähnlicher Konsequenz und mit einem entsprechenden Ertrag nachgegangen wäre. Wenn diese Arbeit vergleichbare Untersuchungen in anderen Landschaften anregen würde, wäre dies nicht das geringste Verdienst dieser Pionierstudie. Künftige Arbeiten über Stadt und Kirche im späten Mittelalter werden das geistliche Spiel als eine wichtige Dimension kirchlich-laikalen Frömmigkeitslebens konsequenter als bisher zu berücksichtigen haben.

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