Hitlers Soldaten und die Realität der NS-Volksgemeinschaft

: Kameraden. Die Wehrmacht von innen. München 2012 : Piper Verlag, ISBN 978-3-492-05540-6 544 S. € 24,99

: Gefangen im Krieg. Frontsoldaten der Wehrmacht und ihre Weltsicht. Berlin 2012 : be.bra Verlag, ISBN 978-3-95410-002-6 335 S. € 36,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Kühne, Strassler Center for Holocaust and Genocide Studies, Clark University, Worcester, MA

Die ‚erste’ einschlägige, von Hannes Heer verantwortete Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung im Jahr 1995 bot Anlass für einen großen, von den Massenmedien aufgegriffenen und ausgetragenen Streit um die Verbrechen der Wehrmacht und ihre Mitwirkung am Holocaust. Seitdem haben sich die Positionen angenähert und dank vielfältiger und gründlicher Forschung (und dem gleichzeitigen Ausbleiben massenmedial verwertbarer Vereinfachungen) ist die Kontroverse in die Geschichtswissenschaft zurückgekehrt, soweit man von einer solchen überhaupt noch reden mag. Außer Frage steht, dass wesentliche Teile der Wehrmacht, von der Generalität bis zu den Mannschaften, in den Holocaust und andere Massenverbrechen gegen Zivilisten und Kriegsgefangene verwickelt waren, und ebenso, dass noch größere Teile rassistisch und insbesondere antisemitisch geprägt waren. Gleichzeitig steht außer Frage, dass die Wehrmacht, anders als die SS, äußerst unterschiedliche ideologische Positionen vereinte und ein nicht unbedeutender Teil der Soldaten, wiederum von oben bis unten, dem Nationalsozialismus im Allgemeinen und den Verbrechen im Besonderen ablehnend gegenüberstanden. Kontrovers diskutiert wird hingegen, in welchem Größenverhältnis sich diese unterschiedlichen Gruppen gegenüberstanden, und vor allem der Stellenwert von Genozid und Kriegsverbrechen für das Gesamtbild der Wehrmacht. Historiker wie zuerst Omer Bartov und jüngst mit Blick auf unterschiedliche Aspekte Jochen Böhler, Regina Mühlhäuser oder auch der Rezensent neigen einer bad-barrel-Theorie zu und gehen davon aus, dass die Wehrmacht als Organisation von verbrecherischen Haltungen und Praktiken geprägt war, auch wenn sich in dem ‚faulen Fass’ manche ‚gesunde’ Äpfel befanden. Andere Historiker, etwa die Gruppe um Christian Hartmann am Münchener Institut für Zeitgeschichte, dagegen favorisieren eine bad-apple-Theorie. Dieser zufolge befanden sich in einem an sich ‚gesunden’ Fass zwar durchaus etliche faule Elemente; die Wehrmacht und ihre Soldaten habe in erster Linie aber das getan, was andere Armeen auch tun, nämlich Schlachten gegen Kombattanten zu schlagen; trotz aller unbestrittenen Kriegsverbrechen habe sie nicht systematisch und von oben bis unten genozidale Politiken verfolgt.1

In dieser Debatte kommt der Entdeckung und Auswertung der umfangreichen, vor allem seit 1942 entstandenen Abhörprotokolle tausender deutscher Soldaten in britischer und amerikanischer Kriegsgefangenschaft durch eine Forschergruppe um den Historiker Sönke Neitzel und den Sozialpsychologen Harald Welzer entscheidende Bedeutung zu. Bei dem Quellenbestand handelt es sich um ausschnittweise überlieferte Transkripte geheimer Mitschnitte von vertraulichen Gesprächen deutscher Kriegsgefangener in amerikanischen und britischen Lagern. Die Auswertung hat sich mittlerweile unter anderem in fünf Buchpublikationen niedergeschlagen. Am wichtigsten ist der grundlegende von Neitzel und Welzer gemeinsam verfasste Band „Soldaten“, der weite Beachtung gefunden hat.2 Hier anzuzeigen sind die beiden jüngsten Produkte: Roemer wertet Unterlagen des US-Nachrichtendienstes im Geheimlager Fort Hunt aus, Groß die entsprechenden Bestände aus britischen Lagern, unter anderem Trent Park bei London.

Zwar bietet das seit 2001 erschlossene neue Quellenmateriell und auch die beiden letzten Bände keine grundlegend neuen Einsichten in die Kriegserfahrungen der Soldaten oder die verbrecherischen Dimensionen des Krieges der Wehrmacht, sondern bestätigen was Historiker seit den 1990er-Jahren auf der Basis anderer Quellen wie Dokumenten der Wehrmacht, Feldpostbriefen, Soldatentagebüchern sowie Erinnerungen von ehemaligen Soldaten eruierten. Während jedoch diese Quellen Schlaglichtcharakter haben und nur unsichere oder, wie oft eingewandt wurde, spekulative Verallgemeinerungen zum Nazifizierungsgrad der Soldaten und ihrem Wissen von und ihrer Beteiligung an den Verbrechen erlauben und folglich die Debatte zwischen bad-barrel- und bad-apple-Theorien nicht auflösen konnten, sind die Abhörprotokolle durchaus geeignet, diese Debatte zum Abschluss zu bringen. Nicht nur wegen ihrer schieren Masse, sondern auch wegen der erstaunlichen Konsistenz der dokumentierten Kriegserfahrungen, Wahrnehmungen und Werturteile von Soldaten unterschiedlicher Ränge und Funktionen, sozialer Wurzeln und ideologischer Ausrichtungen belegen die Abhörprotokolle eindringlich, dass die Wehrmachtsoldaten zumindest rudimentäres Wissen vom Holocaust hatten und mitunter nur wenig Anstoß daran nahmen, oder wenn, dann nur in taktischer Hinsicht. So gab ein Oberst Jösting im April 1945 zum Besten: „Dass der Jude herausmusste, ganz klar, bin ich vollkommen einverstanden, aber die Art, wie wir es gemacht haben, ist völlig verkehrt, das ist der Hass jetzt.“ Damit meinte er den Hass gegen die Deutschen. Er fuhr fort: „Aber warum denn alle [jetzt] totschlagen? Das können wir machen, wenn der Krieg vorbei ist [...].“3

Gleichzeitig zeigen die Protokolle aber auch, dass die Soldaten durchaus zwischen verschiedenen Arten von Verbrechen differenzierten und diese differenziert zu bewerten wussten. Die Bedeutung dieses Forschungs- und Dokumentationsprojektes besteht jedoch nicht nur darin, diese Unterschiede in großem Stil zu illustrieren. Insbesondere Neitzel und Welzer legen vielmehr Nachdruck auf die soziale Einheit der Wehrmacht trotz divergierender individueller Einstellungen, und außerdem auf die Integration der Wehrmacht in die rassistisch definierte NS-Volksgemeinschaft. Sowohl das Kameradschaftssystem innerhalb der Wehrmacht wie auch die NS-Volksgemeinschaft zehrten von einem gewissen Maß an Pluralität. Der „soziale Funktionsmodus einer modernen Diktatur wie des Nationalsozialismus integriert“ nicht durch „Homogenisierung“ seiner Bevölkerung, sondern „über das Aufrechterhalten von Differenz, so dass auch noch diejenigen, die gegen das Regime, kritisch gegenüber der Judenpolitik, im Herzen sozialdemokratisch oder was auch immer sind, ihren sozialen Ort haben [...]. Das zerstört nicht den Zusammenhalt des sozialen Aggregats, es begründet ihn.“4

Felix Römer wie Sebastian Groß befinden sich in der unangenehmen Lage, als Mitarbeiter jenes Projektes die Schneisen, die dessen Leiter geschlagen haben, nur bestätigen zu können. Beide Bücher sind dennoch wichtig und nützlich. Groß versammelt und kommentiert nach einem konzisen Aufriss der einschlägigen Forschung zur Wehrmacht in vier ähnlich strukturierten Kapiteln zum Heer, zur Marine, zur Luftwaffe, und zur Generalität Äußerungen der gefangenen Soldaten zum militärischen Wertekanon, zur Kampfmoral, auch in der Endphase, zu Fremdbildern, und zum Nationalsozialismus im allgemeinen. Römers populär gehaltenes Buch wartet mit noch reichhaltigeren Auszügen aus den Protokollen zur Ideologie, zum „Soldatenethos“, zur „Kameradschaft“, zur „Kampfmoral“, zur militärischen Führung, zum Kampf- und Tötungshandeln und schließlich zu den Verbrechen (Kapitelüberschriften) auf, verzichtet dagegen weitgehend darauf, der umfangreichen Forschungsliteratur eine Reverenz zu erweisen, obwohl es doch erheblich auf dieser aufbaut und deren Ergebnisse oft nur, wenn auch mit neuem Quellenmaterial, bestätigt. Nicht nur in Zeiten inflationiärer Plagiatsvorwürfe mag man das als mutig ansehen. An Hermann Heimpels berühmte Warnung fühlt man sich bei der Lektüre erinnert: „Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen und ist das Elementarste an jenem zweckmäßigen Verhalten, das man etwas hochtrabend historische Methode zu nennen pflegt“.5 Klaus Latzels oder Martin Humbugs grundlegende Studien von 1998 zu den Feldpostbriefen der Soldaten sind überhaupt nicht erwähnt, obwohl sie viele Einsichten vorwegnahmen, die nun, mit neuen Quellen, detaillierter belegt werden können.6

Allerdings neigte die Feldpostbriefforschung dazu, sowohl das Wissen der Soldaten von den Verbrechen wie auch die Praxis der Kameradschaft, das männerbündische Sozialleben der Soldaten, auszublenden, weil die Feldpostbriefe primär der Kommunikation mit der Heimat (id est Frauen, Mütter, Kinder) und der Beschwörung ziviler Normen dienten, jedoch die zerstörerischen, radauhaften, sexistischen Seiten des Soldatenlebens verschwiegen; die von Hannes Heer und Walter Manoschek seinerzeit zusammengetragenen Briefe sind seltene Ausnahmen.7 Manche dieser Seiten werden nun in den Büchern von Römer und Groß detailliert beschrieben. Wie Römer anmerkt, eignen sich die Verhörprotokolle zwar „nicht dazu, Verbreitungsgrad und Häufigkeit der einzelnen Verbrechenskomplexe näher zu quantifizieren.“ Aber sie geben wieder, „wie die Wehrmachtssoldaten über die Verbrechen dachten.“8 Dabei zeigt sich, dass alles was in Kategorien von Rache und Vergeltung, also Partisanenbekämpfung klassifiziert oder irgendwie als Reaktion auf tatsächlich oder vermeintlich irreguläre Kriegführung der Gegenseite ausgegeben werden konnte, keinerlei moralische Zweifel auslöste, auch nicht die von der Wehrmacht maßlos überhöhten Vergeltungsraten (100 gegnerische Zivilisten für einen getöteten deutschen Soldaten oder ähnlich). Gleichzeitig bekundeten viele Soldaten in den vertraulichen Gesprächen mit Kameraden auch ihr oft, aber nicht immer taktisch motiviertes Unbehagen an der Ermordung von Frauen und Kindern und damit am Holocaust insgesamt, und ebenso am Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen.

Ganz irrig ist die Annahme, dass nur eine Minderheit der Soldaten von diesen Verbrechen und insbesondere der Ermordung der Juden wusste: „Nicht jeder wusste alles, doch jeder, der davon wissen wollte, konnte das Wesentliche darüber auch erfahren. Dies ergibt sich weniger aus der Anzahl der Erwähnungen in den Abhörprotokollen als vielmehr aus der Art und Weise, in der über dieses Thema gesprochen wurde. [...] Wenn der Holocaust zur Sprache kam, reagierten die Zuhörer häufig ohne jede Überraschung [...] – die Vernichtungspolitik an sich schien insgesamt für sie nichts Neues zu sein.“ 9 Durchgängig dokumentieren diese Gespräche auch die kollektive Verantwortung, derer sich die Soldaten als Deutsche für die Verbrechen (zumindest in dem vertraulichen, ‚kameradschaftlichen’ Rahmen der Gespräche) sehr wohl bewusst waren, selbst wenn sie sich nicht daran beteiligt hatten oder sie sogar ablehnten. Auch dann sprachen sie über den Judenmord in der ersten Person Plural, und sie taten dies, wie Römer deutlich macht, gegen Ende des Krieges mehr als zuvor. „Dass wir da so viele Juden usw. ermordet haben, das wussten wir ja [...].“ Oder: „U: Pfui Teufel, wir sind auf einen Standard gesunken! Ro: Das darf man gar nicht erzählen, da muss man sich ja schämen. Ru: Im [Ersten] Weltkrieg, da haben sich die Deutschen anständig geschlagen, aber diesmal ist unser Renommee zerstört.“10

Diese beiden Bände und die zuvor publizierten Auswertungen der geheimen Abhörprotokolle aus amerikanischen und englischen Kriegsgefangenenlagern leisten nicht nur einen bedeutenden Beitrag zur Geschichte der Wehrmacht, deren 17 Millionen Soldaten das Gros der erwachsenen männlichen Bevölkerung ausmachte. Die hier besprochenen Studien sind daher auch für das Gesamtbild vom Dritten Reich unverzichtbar. Sie zeigen, dass entgegen immer noch populärer gegenteiliger Annahmen die NS-Volksgemeinschaft nicht nur Mythos oder Propaganda, sondern Realität war – auch und gerade am Ende des Krieges.

Anmerkungen:
1 Omer Bartov, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, Reinbek 1995 (englisches Orig. 1991); Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt 2006; Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006; Regina Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion, 1941–1945, Hamburg 2010; Johannes Hürter, Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2005; Peter Lieb, Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/44, München 2007; Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2008; Christian Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg: Front und militärisches Hinterland 1941/42, München 2009.
2 Sönke Neitzel / Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterbe, Frankfurt am Main 2011.
3 Ebenda, S. 173.
4 Ebenda, S. 54f. Für eine umfassendere Sicht auf die Realisierung der NS-Volksgemeinschaftsideologie (und auch kleinerer Tätergruppen) entlang des Prinzips der Integration durch Pluralität vgl. Thomas Kühne, Belonging and Genocide. Hitler’s Community, 1918–1945, New Haven 2010.
5 Hermann Heimpel, [Rezension zu] Friedrich August Freiherr von der Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates [...], in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 208 (1954), S. 197–221, Zitat S. 210.
6 Klaus Latzel, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939–1945, Paderborn 1998. Martin Humbug, Das Gesicht des Krieges. Feldpostbriefe von Wehrmachtsoldaten aus der Sowjetunion 1941–1944, Opladen 1998.
7 Hannes Heer, „Am Anfang haben wir es aus Überzeugung, später dann aus Pflicht getan". Kollektive und individuelle Formen der Legitimation, in: BIOS 11/1 (1998), S. 42–68. Walter Manoschek (Hg.), „Es gibt nur eines für das Judentum: Vernichtung". Das Judenbild in deutschen Soldatenbriefen 1939–1944, Hamburg 1995.
8 Römer, S. 8.
9 Ebenda, S. 442.
10 Ebenda, S. 443 und 458.

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