W. Doyle (Hrsg.): Ancient Régime

Cover
Titel
The Oxford Handbook of the Ancien Régime.


Herausgeber
Doyle, William
Reihe
Oxford Handbooks in History
Erschienen
Anzahl Seiten
656 S.
Preis
€ 125,53
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Axel Flügel, Abteilung Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Der Ausdruck ‚Ancien Régime‘ gehört zum Grundbestand der genuin geschichtswissenschaftlichen Begriffe und der allgemeinen historischen Bildung. Er bezeichnet zunächst die Regierungsweise und die sozialen Verhältnisse in Frankreich vor dem Jahr 1789. Er entstand, wie Rolf Reichardt in der Enzyklopädie der Neuzeit übersichtlich zusammengefasst hat, als tagespolitischer Kampfbegriff in der Französischen Revolution. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird er im Sinne eines Strukturbegriffs verwendet, mit dem die Epoche der Moderne von der Vormoderne abgegrenzt werden kann. Der Geltungsbereich des Begriffs Ancien Régime erstreckt sich seitdem nicht mehr allein auf Frankreich, sondern auf die gesamte Geschichte Europas. Die Vorstellung von einem Ancien Régime steht daher dem – zeitlich allerdings weiter ausgreifenden – Konzept eines Alteuropas nahe. Zum enger gefassten Ancien Régime von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Epochenschwelle um 1800 legt der englische Frankreichspezialist William Doyle in der Reihe der gediegen aufgemachten Oxford Handbooks nun den entsprechend betitelten Band vor. Der Herausgeber hat das Thema bereits 1978 in seinem Beitrag zur Short Oxford History of the Modern World unter dem Titel „The Old European Order 1660–1800“ behandelt und im Jahr 2001 einen Sammelband mit dem Titel „Old Regime France 1648–1788“ herausgegeben.

Das Handbuch enthält 31 längere Aufsätze, die in klassisch sozialgeschichtlicher Art auf die fünf Abteilungen Regierung/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Religion und Kultur verteilt wurden. Die Beiträge stehen jeweils unter einem markanten Stichwort und sind folgenden Themen gewidmet: absolute Monarchie, Diplomatie, Militärwesen, Finanzen, Gerichtshöfe und Provinzialstände; Adel, Bürgerliche, Stände und Korporationen, Armut, Gender; Demographie, Feudalismus, Landwirtschaft, Überseehandel, Sklaverei und Leibeigenschaft; konfessionelle Landeskirchen, Volksfrömmigkeit, Jansenismus, religiöse Toleranz; Erziehung, Geselligkeit, höfisches Kunstmäzenatentum, Öffentlichkeit.

Auf die beschreibend-strukturell angelegten fünf Abteilungen folgen noch zwei weitere. Die erste ist den – mit einem Fragezeichen versehenen – drei dynamisch-auflösenden Prozessen der Aufklärung, der technischen Fortschritte und der französischen Revolution seit 1789 gewidmet. Die zweite bringt unter der Überschrift ‚Testfälle‘ vier Beiträge zu den napoleonischen Regimes, zu Großbritannien im 18. Jahrhundert, zum kolonialen Amerika und schließlich zum Heiligen Römischen Reich. Der Band wird eingerahmt von einer Einleitung und einem Schlusswort des Herausgebers. Die Ausführungen der Autoren sind durch Endnoten belegt und am Ende jedes Beitrages folgt eine Liste der wichtigsten Literaturtitel. Auf farbige Abbildungen und Illustrationen oder Karten und Grundrisse verzichtet der Band allerdings weitgehend.

Die Verfasser sind ausnahmslos für ihre Thematik ausgewiesene Historikerinnen und Historiker, die weit überwiegend an nordamerikanischen und britischen Hochschulen lehren. An der Qualität der einzelnen Beiträge wie der Komposition des Bandes gibt es daher kaum etwas auszusetzen. Sicher könnte man sich hier und da mehr oder anderes wünschen, z.B. einen Artikel über das städtische Milieu der Handwerker, Gastwirte, Schreiber, Advokaten und kleinen Händler oder über die Historiographie. Die Aufsätze eignen sich in der Regel auch nicht für eine erste Information zum jeweiligen Thema. Vielmehr handelt es sich überwiegend um Essays, die gewisse Grundkenntnisse über die relevanten Ereignisse und Personen voraussetzen und sich auf eine knappe Diskussion der zentralen Aspekte und Forschungsfragen konzentrieren. Der innere Zusammenhang zwischen den verschiedenen Beiträgen hätte manchmal deutlicher herausgearbeitet werden können. Die Stärke des Handbuches liegt vor allem in dem weit gefassten sozialgeschichtlichen und milde revisionistischen Ansatz, der am Ancien Régime die Heterogenität der Verhältnisse, die zunehmende Inkohärenz der Gesellschaft und die selbst geschaffene Paralyse der französischen Monarchie hervorhebt. Die kulturellen Produktionen im engeren Sinne von der Druckgraphik über die Malerei und das Theater bis zur Architektur und Gartengestaltung werden dagegen nur am Rande mitbehandelt.

Folgt man den hier präsentierten Ausführungen, dann stehen große Debatten, kontroverse Sichtweisen und Bewertungen des Ancien Régime insgesamt oder einzelner Elemente zur Zeit offenbar nicht auf der Tagesordnung. Vielmehr stellt der Herausgeber William Doyle in seiner Einleitung fest: „Much of the Ancien Régime as the revolutionaries defined it is still accepted by historians as a meaningful framework of study.“ Die Sammlung und Sichtung der Forschungserträge, wie sie dieses Handbuch bietet, reiht sich daher ein in die große Zahl der in den letzten Jahren durch die Verlage auf den Markt geworfenen Handbooks und Encyplopedias zu nahezu jedem denkbaren Thema und Ort der Weltgeschichte. Es ist allerdings nicht absehbar, inwieweit diese intellektuelle Flaute im Fach nur ein Atemholen anzeigt oder ob es sich um einen Dauerzustand interesselosen Wohlgefallens handelt.

Die größte Irritation in der Lektüre diese Handbuches geht aus deutschsprachiger Sicht wahrscheinlich von der Tatsache aus, dass es sich nicht um ein allgemeines Werk zum Ancien Régime in Europa handelt, sondern in erster Linie um französische Geschichte, um die Gesellschaft, Politik und Kultur Frankreichs im 18. Jahrhundert. Nur wenige Beiträge – Finanzen, Militärwesen, Armut, Sklaverei, religiöse Toleranz, Aufklärung – gehen über den französischen Rahmen nennenswert hinaus. Der Titel des Handbuches ist also in einem ungewöhnlichen Maße wörtlich zu nehmen. Es geht um die letzte Phase der französischen Monarchie vor ihrem Fall. Es wäre allerdings fatal, wenn nur die Frankreichspezialisten dieses Handbuch tatsächlich noch in die Hand nehmen und die an der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches und seiner Nachfolgestaaten interessierten Historiker seine Lektüre womöglich als unwichtig ansehen würden: Zunächst einmal erzeugt die aus deutschsprachiger Perspektive doppelte Brechung, dass angloamerikanische Autoren in ihrer traditionell empirisch-pragmatischen Sichtweise über die französische Geschichte berichten, eine wertvolle Horizonterweiterung und öfter auch mal Irritation. So ist es z.B. interessant, dass abgesehen von Alexis de Tocqueville die im Index am häufigsten ausgewiesenen neueren Autoren François Furet und Jürgen Habermas sind, dagegen wird Michel Foucault nicht einmal erwähnt. Zweitens sollte zur Überwindung der allseits beklagten dominanten Nationalgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts die Rückkehr zu einem Konzept der Allgemeinen Geschichte gehören, die sich an Forschungsproblemen orientiert und nicht an einer vorausgesetzten ahistorischen Nation. Inhaltlich wie historiographisch gewinnt das Problem der eurozentrischen Nationalgeschichte aber erst durch das Ancien Régime eine tiefenscharfe Kontur. Schließlich bleibt die Unterscheidung von Moderne und Vormoderne, wie immer man sich zu ihr politisch oder fachwissenschaftlich verhalten mag, die Achse, um die sich in Europa die gesamte Geschichtswissenschaft, auch die der älteren Epochen, dreht. Eine Zusammenfassung der neueren Forschungserträge, wie die hier unter der Leitung von William Doyle vorgelegten Essays, zu einem der historischen Orte, an dem die Moderne auch durch die Erfindung eines Ancien Régime gemacht wurde, muss daher allen überhaupt an Geschichte Interessierten hoch willkommen sein.

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