G. Melville u.a. (Hrsg.): Dimensionen institutioneller Macht

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Titel
Dimensionen institutioneller Macht. Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart


Herausgeber
Melville, Gert; Rehberg, Karl-Siegbert
Erschienen
Köln 2012: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
458 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim Neu, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Die Sozial- und Kulturwissenschaften werden maßgeblich durch die berühmten ‚Wenden‘ geprägt. Richtet sich die Aufmerksamkeit jedoch nur auf diese, so gerät darüber leicht in Vergessenheit, dass einige Analysekonzepte auch turn-übergreifend weiterentwickelt werden. Zu diesen für die interdisziplinäre Zusammenarbeit entscheidenden Entwicklungen gehört in jedem Fall die Ausdifferenzierung des Begriffs der Macht. Verstand man darunter lange Zeit allein Erzwingungsgewalt, so werden heute vor allem auch Prozesse der Erzeugung von Sinn und Bedeutung als genuine Machtformen anerkannt und erforscht.

Der vorliegende Sammelband – hervorgegangen aus einer Tagung, die der Dresdner Sonderforschungsbereich 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ im Jahr 2005 durchführte – reiht sich in diese Entwicklung ein. Er widmet sich den spezifischen Machtformen, die im Kontext von institutionalisierten, also auf Dauer gestellten und als legitim behaupteten Verhältnissen erzeugt und eingesetzt werden. Darüber hinaus, so die Herausgeber, biete sich hier die „Chance, noch einmal wichtige Grundlinien des gesamten Forschungsansatzes des SFBs exemplarisch zu präsentieren und […] systematisch zusammenzuführen“ (S. V). Der Sammelband soll also beides sein: Ein Beitrag zur Erforschung des Phänomens ‚Macht‘ und eine Bilanz des SFBs.

Die Konzentration auf das Thema ‚Macht‘ erweist sich dabei als geeignet, dieses doppelte Ziel zu erreichen: Der Arbeit des SFBs lag die von Karl-Siegbert Rehberg entwickelte ‚Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen‘ zu Grunde. Deren Kernannahme lautet, dass „die institutionelle Stabilisierung von Ordnungen durch symbolische Selbstrepräsentation ihrer Prinzipien und Leitideen“1 geleistet wird. Davon ausgehend werden in der sozialen Praxis verschiedene Mechanismen einer solchen ‚Stabilisierung durch Symbolisierung‘ identifiziert und analysiert. Damit ist ‚Macht‘ in der Tat eine „Basiskategorie“ (S. 1) des Ansatzes und damit des SFBs, da symbolisch-performative Akte ‚Deutungsmacht‘ erzeugen. Die Zentralität des Themas zeigt sich zudem daran, dass es gleich in mehreren Publikationen des SFBs aufgegriffen wurde.2 In diesem Rahmen markiert Rehberg einleitend „die Spannung zwischen der institutionellen Machtformierung durch gesteigerte Sichtbarkeit auf der einen und einer spezifisch institutionellen Verdrängung und Invisibilisierung der Macht auf der anderen Seite“ (S. 4) als Ausgangspunkt.

Im ersten Teil („Macht und Tradition“) wird die erwähnte Spannung an Beispielen aus Antike und dem Mittelalter überzeugend konkretisiert: So unterschiedliche Dynastiegründer wie Augustus, Ottone Visconti und Zhu Yuanzhang waren, so Fritz-Heiner Mutschler, allesamt bemüht, „ihre Herrschaft nicht zuletzt durch Anschluss an die Tradition zu legitimieren und zu festigen“ (S. 56). Die mediengestützte Aneignung der Tradition zielte dabei vor allem auf die Etablierung eines machtvollen neuen Deutungsmusters, das die militärische Durchsetzungsmacht, der sie alle ihre Herrschaft verdankten, möglichst unsichtbar machen sollte.

Dass institutionelle Mechanismen jedoch nicht darauf beschränkt sind, Durchsetzungsmacht zu verschleiern, sondern ihre Symbolisierungsleistungen auch genuin ‚produktiv‘ sein können, zeigt instruktiv der zweite Teil („Macht und Ohnmacht der Standardisierung“). So wird durch den Vergleich der mittelalterlichen ars dictaminis mit ‚echten‘ Briefen deutlich, dass ein normativer Diskurs durchaus ein Mechanismus zur Stabilisierung der Praxis sein konnte. Gleichzeitig aber, so zeigen die Beiträge zu Fragebögen im spanischen Imperium und zur Wirtshaus-Policey in der Reichsstadt Köln, kann die Wirkungsweise von Deutungsmacht nicht als ‚Durchsetzung‘ konzipiert werden, weil „Normsetzung und Befolgungspraxis“ (S. 135) sich wechselseitig beeinflussen. Die beiden frühneuzeitlicher Beispiele belegen zudem, dass man das faktische Fehlen von Sanktionsmacht durch performative Behauptung ihres Vorhandenseins zu kompensieren versuchte.

Der dritte Teil befasst sich dann mit einem Spezialfall, nämlich einer Institution, die ausdrücklich und gewollt über keinerlei Durchsetzungsmacht verfügt – dem Bundesverfassungsgericht („Deutungsmacht versus Geltungsmacht“). Seine Stellung als „Machtfaktor im politischen System“ (S. 198) beruht daher allein auf seiner Deutungsmacht. Wenn sich diese Macht, wie Hans Vorländer feststellt, ganz wesentlich der Tatsache verdankt, dass das Gericht „als Repräsentant des ursprünglichen Verfassungsgebers“ (S. 205) auftritt, so steckt darin eine allgemeine Einsicht in die Wirkungsbedingungen jeglicher Deutungsmacht: Sie lässt sich dann besonders gut erzeugen, wenn Institutionen vorgeben, ‚im Namen von‘ zu sprechen – etwa der Tradition, Gottes oder des Volkes.

Kann das Bundesverfassungsgericht aber immerhin noch davon ausgehen, dass im Rahmen der Verfassungsordnung andere Institutionen seinen Deutungen Nachdruck verleihen werden, eint die Untersuchungsgegenstände des letzten Fallstudienteils („Macht und Bild“), dass sie ‚rein‘ symbolisch wirken. Alle Beiträge zeigen, wie durch visuelle Symbolisierungen versucht wurde, die Eigen-Geltung bestimmter Verhältnisse zu steigern: etwa durch die Etablierung von ‚Eigen-Räumen‘, seien es permanente wie im Falle der Ostberliner DDR-Architektur oder ephemere wie die von den Feuerwerken des Ancien Régime geschaffenen; durch die Schaffung einer bürgerlichen „Eigenzeit“ (S. 359) in der Malerei des späten 19. Jahrhunderts; oder durch „die Konstruktion einer normativ aufgeladenen Eigengeschichte“ (S. 11) in der medialen Darstellung des Neuen Bauens seit den späten 1920er-Jahren.

Im Rahmen eines Sammelbandes, der explizit „Fallstudien“ (S. III) versammeln will, um „Machtprozesse im historischen Vergleich“ (S. 1) zu erforschen, wirkt ein „Ontologie und Macht“ überschriebener Abschnitt, der sich ohne jeden weiteren Kommentar zwischen den beiden zuletzt besprochen Teilen findet, leicht fehl am Platz. Die dort versammelten philosophischen Überlegungen sind für sich genommen zwar interessant, beziehen sich aber weder auf den soziologischen Theorierahmen noch auf die Fallstudien. Ebenso erstaunt, warum dieser Abschnitt zudem einen Beitrag zur Thematisierung von Macht im christlich-theologischen Diskurs enthält, warum dieser nicht mit dem sachlich verwandten Artikel zur rechtlichen Thematisierung kombiniert wurde und warum Letzterer überhaupt keinem Abschnitt zugeordnet ist. Nimmt man hinzu, dass einige Teile über Einführungen verfügen, andere hingegen nicht, und dass die Schaubilder eines Beitrags teilweise sinnentstellend verzerrt sind, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Sammelband etwas überstützt zum Druck befördert wurde.

Neben diesen formalen bzw. kompositorischen Schwächen lassen sich im Hinblick auf den Inhalt zwei problematische Befunde festhalten. Beide gehen darauf zurück, dass institutionelle Macht mit einem theoretischen Ansatz erforscht wird, der primär auf Deutungsmacht abzielt. Erstens verleitet dieses Konzept offenbar dazu, die Wirksamkeit der institutionellen Mechanismen gelegentlich eher zu postulieren, als sie empirisch plausibel zu machen, was vor allem in den kunst-, literatur- und architekturhistorischen Studien des letzten Teils zu beobachten ist. Da aber Deutungswillen nicht automatisch auch Deutungsmacht erzeugt, hätte Letztere hier stärker anhand von Rezeptionsvorgängen belegt werden müssen. Zweitens wird in theoretischer Hinsicht deutlich, dass die Konzentration auf Symbolisierungsleistungen tendenziell fragwürdig wird, wenn sich bestimmte Phänomene nur aus der Wechselbeziehung von Deutungs- und Durchsetzungsmacht heraus analysieren lassen, wie insbesondere die Beispiele des ersten Teils zeigen. Hinzuzufügen ist, dass es sich dabei um ein Problem des theoretischen Ansatzes handelt und es dem Sammelband eher als Verdienst angerechnet werden muss, darauf hingewiesen zu haben.

Auch in der Gesamtbetrachtung überwiegen die Verdienste, mehr noch: Der Band zeigt exemplarisch, wie fruchtbar interdisziplinäre Forschung sein kann, wenn sich alle Beteiligten wirklich auf einen gemeinsamen theoretischen Rahmen beziehen. In diesem konkreten Fall heißt das, mit der ‚Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen‘ davon auszugehen, dass soziale Ordnungen durch den Einsatz symbolischer Macht stabilisiert werden müssen. Die Beiträge belegen dann in diesem Rahmen überzeugend, dass mit der Frage, wie und mit welchen Mechanismen diese Stabilisierungsleistung erbracht wird, ein transepochaler und interdisziplinärer Vergleich möglich wird. Und damit ist der Sammelband tatsächlich beides – ein wichtiger Beitrag zur Erforschung von Deutungsmacht und eine exemplarische Bilanz des Dresdner Forschungsansatzes.

Anmerkungen:
1 Karl-Siegbert Rehberg, Institutionen, Kognitionen und Symbole – Institutionen als symbolische Verkörperungen. Kultursoziologische Anmerkungen zu einem handlungstheoretischen Forschungsprogramm, in: Andrea Maurer / Michael Schmid (Hrsg.), Neuer Institutionalismus. Zur soziologischen Erklärung von Organisation, Moral und Vertrauen, Frankfurt am Main 2002, S. 39–56, hier S. 51.
2 Vgl. Gert Melville (Hrsg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln 2005; André Brodocz u.a. (Hrsg.), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust, Köln 2005.

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