M. Bienert u.a. (Hrsg.): Die Berliner Republik

Cover
Titel
Die Berliner Republik. Beiträge zur deutschen Zeitgeschichte seit 1990


Herausgeber
Bienert, Michael C.; Creuzberger, Stefan; Hübener, Kristina; Oppermann, Matthias
Reihe
Zeitgeschichte im Fokus 2
Erschienen
Berlin 2013: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Konrad H. Jarausch, University of North Carolina

Eine Bestandsaufnahme der Entwicklung des vereinten Deutschlands während der ersten beiden Jahrzehnte ist zweifellos eine Bereicherung der politischen Literatur, da sie verlässliche Informationen und begründete Urteile verspricht. Allerdings erfährt der Leser erst auf Seite 23, dass es sich dabei um eine Festschrift für den Potsdamer Zeithistoriker Manfred Görtemaker handelt, die aus Vorträgen einer Konferenz aus dem Jahre 2011 besteht und daher mit den Unwägbarkeiten ihres Genres behaftet ist. Zweifellos hat der Jubilar als einer der führenden Zeithistoriker, unter anderem ausgewiesen durch Monografien über den Sturz Willy Brandts und Synthesen zur Geschichte der Bundesrepublik sowie der letzten Jahrzehnte, eine solche Ehrung verdient. Aber trotz seiner reichhaltigen Bebilderung wirft dieses Buch die Frage auf, inwieweit es den Beiträgen gelungen ist, über den Zweck des Feierns hinaus, eine überzeugendes Porträt der jüngsten Vergangenheit zu entwerfen.

Da der Band unter dem Etikett der „Berliner Republik“ firmiert, bieten die Herausgeber in ihrer Einleitung eine brauchbare Bestimmung dieses schillernden journalistischen Begriffs und konstatieren gleichzeitig ein Defizit der zeithistorischen Beschäftigung mit den Entwicklungen seit 1990. Aber anstatt dann zentrale Themen einer Geschichte der Gegenwart zu diskutieren, begnügen sie sich mit der inhaltlichen Zusammenfassung der Beiträge und verspielen dadurch eine Chance, die Diskussion im Fach und der Öffentlichkeit selbst zu strukturieren. Dabei liegt die Kernfrage auf der Hand: Ist die erweiterte Bundesrepublik eine Fortschreibung der Bonner Traditionen oder hat der Regierungsumzug nach Berlin tatsächlich eine neue Entwicklungsepoche eingeleitet? Die Beiträge des Bandes selbst sprechen das Erbe der DDR an, diskutieren die Auswirkungen der Teilung und beschäftigen sich mit den Konturen einer neuen Normalität des deutschen Nationalstaats. Darüber hinaus setzen sich einige Texte auch mit weiteren Fragen wie den unvorhergesehenen Herausforderungen der Globalisierung oder den Implikationen der internationalen Finanzkrise auseinander.

Andreas Wirsching macht den Auftakt mit einer nuancierten Überlegung zum Regierungsstil der Kanzler Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel, welche die jeweiligen Unterschiede von Moderation, Medienpräsenz und Koordination betont (S. 54). Daran anschließend stellt Karl-Rudolf Korte die Schwierigkeiten der Regierbarkeit der erweiterten Bundesrepublik aus der Perspektive der politischen Führung dar, ohne jedoch weiter auf die Problematik von Partizipationsforderungen einzugehen. Frank E. W. Zschaler beleuchtet dann einige Statistiken zum Fortschritt in der Herstellung einheitlicher Lebensbedingungen und stellt der Berliner Republik „eine grundsätzlich positive Zwischenbilanz“ aus (S. 97). Michael Gehler entwirft daraufhin ein aktiveres Bild der deutschen Außenpolitik als andere Autoren, indem er ihre Rolle im postkommunistischen Übergang in Osteuropa und ihren Einfluss in der europäischen Integrationspolitik schildert: „Die Berliner Republik ist nicht nur Zentralmacht, sondern auch Zivilmacht und Zahlmacht Europas.“ (S. 122) Bernd Stöver wiederum erklärt die Spannungen in den transatlantischen Beziehungen mit strukturellen politischen Unterschieden zwischen Washington und Berlin, deutet aber die dahinterstehenden „unterschiedlichen Mentalitäten und Ängste[n] der Deutschen und Amerikaner“(S. 142) nur generell an. Trotz guter Detailkenntnis bleibt die anschließende Darstellung der brisanten Auslandseinsätze der Bundeswehr von Michael Epkenhans etwas blass. Demgegenüber bietet Dominik Geppert eine fulminante Verteidigung deutscher Intellektueller als Agenten „intellektuelle[r] Selbstverständigung über die Berliner Republik“ (S. 163), deren Debatten eine graduelle Verschiebung öffentlicher Problemhorizonte deutlich machen. Die feuilletonistische Spurensuche von Patrick Bahners über die Hintergründe der Begriffsprägung „Berliner Republik“ von Johannes Gross macht dessen konservative Befindlichkeit deutlich, wäre aber wohl besser am Anfang platziert gewesen. Thomas Brechenmachers Überlegungen zur Rolle der Kirchen betonen eher langfristige Tendenzen der Entkirchlichung und Entchristianisierung als den direkten Einfluss der Vereinigung. Und am Schluss bietet Hermann Wentker eine kundige, aber etwas einseitige Zusammenfassung des öffentlichen Umgangs mit der DDR-Vergangenheit, ohne den mentalen Abschied von der alten Bundesrepublik ebenso zu thematisieren.

In diesem etwas staatstragenden Tableau fehlen eine Reihe von brisanten Themen, die den zweifellosen Erfolg der Berliner Republik etwas relativieren. So gibt es keinen Beitrag über Migration und Integration von Ausländern und die gesamte Problematik des Terrorismus wird nur am Rande erwähnt. Auch sucht man eine Diskussion des Klimawandels und des Atomausstieges vergebens. Ebenso werden die schwierigen sozialstaatlichen Fragen im Zuge der Globalisierung mit ihrem neoliberalen Druck auf Wettbewerbsfähigkeit kaum angesprochen. Der Generationswandel mit seinen Ängsten der Jugendarbeitslosigkeit bleibt außen vor. Auch die rapide Entwicklung der Internettechnologien wird nicht diskutiert. Und die Problematik der Rolle Deutschlands als „reluctant hegemon“ Europas (Economist), also der Führungsfähigkeit Berlins in der internationalen Finanzkrise, wird zu schnell abgetan. Natürlich ist jede Auswahl etwas subjektiv, aber man hätte sich doch etwas mehr Eingehen auf kritische Fragen wie das Aufflammen von Bürgerprotesten, die praktische Gleichstellung der Frauen oder das Altern der Gesellschaft erwartet, denn diese ungelösten Probleme schiebt das vereinigte Deutschland weiterhin vor sich her.

Insgesamt fällt diese optimistische Bestandsaufnahme der Berliner Republik einen Schuss zu selbstzufrieden aus, da die meisten Autoren aus dem bürgerlichen Lager stammen und Gegenstimmen nicht vertreten sind. Die Essays betonen daher auch die Kontinuität mit der alten Bundesrepublik als positives Erbe und konstatieren Veränderungen nur in Teilbereichen. Weil schroffe Auseinandersetzungen fehlen, reflektieren die Beiträge also selbst die neue Normalität, welche sie analysieren. Zwar ist der affirmative Grundton angesichts der relativ guten Stellung der Bundesrepublik im internationalen Vergleich verständlich, aber er spiegelt weder die ganze Bandbreite der Meinungen noch die Anzahl der ungelösten Probleme wider. Die kompetenten Beiträge dieses Sammelbandes bieten daher ebenso wie seinen zahlreichen Lücken einen Anstoß für eine weitere Erforschung der Geschichte der Gegenwart, deren Umrisse allenfalls zu erahnen sind.

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