G. Pritchard: Niemandsland. History of Unoccupied Germany 1944–45

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Titel
Niemandsland. A History of Unoccupied Germany 1944–1945


Autor(en)
Pritchard, Gareth
Erschienen
Anzahl Seiten
XIII, 250 S.
Preis
$ 99.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Keller, Institut für Zeitgeschichte, München

Als die Alliierten nach der Kapitulation des Deutschen Reichs im Mai 1945 ihre Besatzungszonen bezogen, ergab sich im westlichen Erzgebirge, an der Grenze der ehemaligen Provinz Sachsen zur Tschechoslowakei, eine Anomalie, ja, eine Laune der Besatzungsherrschaft: Südlich von Zwickau und Chemnitz blieb zwischen den amerikanischen Linien im Westen und den sowjetischen Linien im Osten ein Territorium von rund 600 Quadratkilometern unbesetzt. Das Gebiet um die Klein- und Mittelstädte Aue, Stollberg, Schneeberg und Sachsenberg war für einen Zeitraum von rund acht Wochen nach Kriegsende das „Niemandsland“, dem Gareth Pritchard das hier zu besprechende Buch gewidmet hat.

Das Machtvakuum, das sich durch diesen politischen Schwebezustand zwischen den Siegermächten bildete, füllten von Anfang an politische Gegner des Nationalsozialismus aus, die sich zu antifaschistischen Aktionskomitees zusammenschlossen. Den Wurzeln, der Zusammensetzung und dem Wirken dieser Komitees gilt Pritchards Interesse in acht weitestgehend chronologisch angeordneten Kapiteln. Jedes dieser Kapitel schließt mit einem Fazit, das die ausgebreiteten Informationen auf die übergeordnete Fragestellung hin zuspitzt. Sie lautet, kurz gefasst: Bargen die antifaschistischen Aktionskomitees die Chance eines Dritten Weges für Nachkriegsdeutschland, jenseits von Westbindung und kommunistischer Diktatur?

Nach einer knappen Einleitung stellt Pritchard seinen Gegenstand vor und analysiert die Zusammensetzung der antifaschistischen Aktionskomitees in seinem Untersuchungsraum. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die Komitees (die tatsächlich unterschiedliche Bezeichnungen führten) überwiegend von Kommunisten dominiert wurden, auch wenn Sozialdemokraten sowie bürgerliche und konfessionsgebundene NS-Gegner in unterschiedlichem Maße beteiligt waren. Ähnliche antifaschistische Organisationen habe es bei Kriegsende in ganz Deutschland gegeben, doch andernorts seien sie von den Besatzungsmächten in Ost und West bald nach dem Einmarsch unterdrückt worden. Das Niemandsland sieht er deshalb als Indikator für seine Fragestellung und dafür, wie sich die Politik und die Machtpraxis der antifaschistischen Aktionskomitees in Deutschland „free of Allied intervention“ und „control“ (S. 28f.) entwickelt hätten.

Im zweiten Kapitel beschreibt Pritchard die Orte seines Untersuchungsgebiets als politische Konfliktgemeinden der Weimarer Republik. Die von Kampf und Konkurrenz geprägte politische Kultur vor 1933 und die Opfer während der NS-Zeit hätten die Haltung der verschiedenen antifaschistischen Kräfte untereinander und gegenüber dem politischen Gegner „unauslöschlich geprägt“ und aus den Antifaschisten „bitter and angry men and women“ gemacht (S. 51). Die Kapitel drei und vier beschreiben die letzten Wochen vor Kriegsende im Niemandsland und die „seizure of power“ (passim) der Antifaschisten Anfang Mai 1945.

Die „tasks of Herculean proportions“ (S. 95), mit denen die neuen politischen Kräfte konfrontiert waren, zeigt Kapitel fünf: Sie übernahmen in einem von der Außenwelt weitgehend abgeschotteten Gebiet die Verantwortung für die Nahrungsmittelversorgung von etwa einer halben Million Menschen, darunter zahlreiche Flüchtlinge; zahlreiche ausländische Zwangsarbeiter hielten sich im Niemandsland auf; eine besondere Gefahr für die öffentliche Sicherheit ging jedoch von Waffen-SS- und Wehrmachtseinheiten aus, die sich in die Wälder des unbesetzten Areals zurückgezogen hatten. Während sie hofften, in amerikanische und nicht sowjetische Kriegsgefangenschaft zu geraten, marodierten und plünderten sie und ließen entlang der Straßen Waffen und Munition zurück.

Politikfelder wie Wirtschaft, Außenbeziehungen (vor allem zu den benachbarten alliierten Besatzern), die Beziehungen zu den Kirchen, die Entnazifizierung und die Rolle der KPD untersucht Kapitel sechs, an dessen Ende Pritchard urteilt, die antifaschistische Koalition sei „sehr fragil“ und die Kommunisten entschlossen gewesen, „to play the decisive role“ (S. 151). Kapitel sieben fragt nach der Verankerung der Antifaschisten in der breiten Bevölkerung und kommt zu dem Schluss, dass die Antifaschisten – meist selbst Opfer des Nationalsozialismus – der Mehrheit, die das untergegangene Regime gestützt hatte, mit einer Haltung moralischer Überlegenheit begegneten, während diese sich selbst als Opfer begriff. Die antifaschistische Herrschaft sei, so Pritchards Verdikt, „paternalistic, repressive, and deeply resented by the mass of the population“ (S. 178) gewesen. In Kapitel acht konstatiert der Verfasser zahlreiche personelle und inhaltliche Kontinuitäten zwischen der kurzen antifaschistischen Ära nach Kriegsende und der Zeit nach der sowjetischen Besetzung des Niemandslandes, die seit Mitte Juni 1945 erfolgte. Dabei sieht er den Weg zur kommunistischen Diktatur von den Antifaschisten bereits eingeschlagen – wenn, dann habe die sowjetische Besatzungsmacht aus taktischen Erwägungen eher bremsend gewirkt.

Im abschließenden neunten Kapitel führt Pritchard seine Argumentationslinien zusammen. Die Frage, ob die antifaschistischen Aktionskomitees die Chance für einen dritten Weg, einen „Demokratischen Sozialismus“ Deutschlands, bargen, verneint er vehement: Sowohl deren Zusammensetzung als auch die politischen Traditionen Deutschlands sprächen dagegen, sie seien fragil, ohne gesellschaftliche Unterstützung und „inherently dictatorial“ (S. 229) gewesen. Damit sieht Pritchard eine seit den 1970er-Jahren schwelende historiographische Kontroverse geklärt.

Von Letzterem ist der Rezensent nach der Lektüre des Buches nicht überzeugt. Zwar bietet die Studie eine dichte, quellengesättigte Darstellung der Situation im Niemandsland zwischen dem Untergang des „Dritten Reiches“ und der Besetzung des Gebiets durch sowjetische Truppen. Dass gegenüber allzu optimistischen Erwartungen an das politische Zukunftspotenzial der antifaschistischen Aktionskomitees Skepsis angebracht ist, vermag Pritchard darzulegen. Die Apodiktik jedoch, mit der er seine teils sehr weitreichenden Schlussfolgerungen zieht (bis hin zu der These, die deutsche Teilung sei letztlich auf den unterschiedlichen Umgang der Alliierten mit den Antifaschisten zurückzuführen), ist jedoch nicht immer ausreichend argumentativ unterfüttert. Pritchard steht seinem Untersuchungsgegenstand wenig neutral gegenüber; das Buch liest sich stellenweise wie eine Streitschrift, gerichtet gegen Forscher wie „a circle of radical West German labour historians around Lutz Niethammer“ (S. 25). Vor allem aber überschätzt Pritchard möglicherweise die Repräsentativität seines Gegenstandes (wie wohl auch seine historiographischen „Gegner“) und bewertet ihn aus eindimensionaler Perspektive.

Die Bedeutung der regionalen und lokalen politischen Traditionen und Netzwerke für die Zusammensetzung und die Praxis der antifaschistischen Aktionskomitees betont Pritchard gleich am Anfang seiner Studie. Im weiteren Verlauf wird indes nicht problematisiert, welche Folgen das für die Übertragbarkeit seiner Ergebnisse aus einem kleinen, sehr spezifischen Untersuchungsraum hat oder dass der untersuchte Zeitraum lediglich acht Wochen umfasst; auch die alliierten Besatzungsmächte an den Grenzen des unbesetzten Gebiets werden als Einflussfaktoren unterschätzt. Ebenso konstatiert der Autor, dass die Kommunisten von 1945 „a heterogeneous bunch“ gewesen seien und keineswegs „disciplined foot-soldiers of the world Communist movement“ (S. 11). Ein differenzierterer Blick als die wiederholte pauschale Feststellung, in den Komitees hätten „the communists“ (z.B. S. 147) eine führende Rolle gespielt, wäre also durchaus zu erwarten gewesen. Stattdessen gerät manches Mal sogar die Heterogenität der Aktionskomitees aus dem Blick. Sie wird vor allem im Zusammenhang mit inneren Konflikten, Dysfunktionalitäten und Instabilitäten betont, während ansonsten die begriffliche Trennung zwischen „Antifaschisten“ und „Kommunisten“ immer wieder unscharf wird.

So sieht Pritchard in der Zeit zwischen Kriegsende und Besetzung im Niemandsland die Dinge praktisch zwangsläufig auf die kommunistische Diktatur zulaufen. Er interpretiert die Praxis der Antifaschisten als eine Form der Protodiktatur und der Diktaturetablierung von unten. Für eine ausgewogenere Interpretation wäre es vermutlich hilfreich gewesen, gelegentlich einen Blick nicht nur in die sowjetische, sondern auch in die amerikanische Besatzungszone zu werfen. Dies unterbleibt jedoch mit Ausnahme der Feststellung, dass auch in den westlichen Besatzungszonen antifaschistische Basisinitiativen bald unterdrückt wurden (Klaus-Dietmar Henkes Studie zur amerikanischen Besetzung Deutschlands fehlt bezeichnenderweise im Literaturverzeichnis1). Vieles von dem, was Pritchard als klaren Beleg für die diktatorischen Tendenzen der kommunistisch dominierten Antifaschisten im Niemandsland wertet, erschiene dann möglicherweise in nicht ganz so eindeutigem Licht: Haben die Amerikaner in den ersten acht Wochen der Besatzungsherrschaft demokratische Strukturen etabliert? Hatten sie breiten Rückhalt in der Bevölkerung? Lösten sie alle „herkulischen“ Aufgaben der Zeit ohne Rückgriff auf autoritäre Maßnahmen? War die Bevölkerung mit den politischen Säuberungen und der Entnazifizierung einverstanden? Traten die Sieger im Westen nicht mit dem Bewusstsein moralischer Überlegenheit auf, während sich die Deutschen als Opfer fühlten?

Am Ende bleibt Pritchards Urteil über die antifaschistischen Aktionskomitees allzu einseitig. Während die Forschungsmeinung, gegen die er erklärtermaßen argumentiert, die Chancen für einen Dritten Weg wohl tatsächlich überbewertet, sieht er nur die determinierte Entwicklung hin zur kommunistischen Diktatur. Das Buch steht auf breiter empirischer Grundlage. Es ist zu bedauern, dass diese nicht für eine nüchtern abwägende, stärker vergleichende Bewertung der antifaschistischen Aktionskomitees und ihrer Potenziale genutzt wurde.

Anmerkungen:
1 Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995.

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