M. Neirick: When Pigs Could Fly and Bears Could Dance

Cover
Titel
When Pigs Could Fly and Bears Could Dance. A History of the Soviet Circus


Autor(en)
Neirick, Miriam
Erschienen
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 24,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michel Abeßer, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Dem sowjetischen Clown Nikulin zufolge ging der sowjetische Durchschnittsbürger mindestens dreimal in seinem Leben in den Zirkus – einmal mit seinen Eltern, einmal mit seinen Kindern und einmal mit seinen Enkeln. Mit geschätzten 80 Millionen Besuchern allein im Jahr 1979 war der sowjetische Zirkus zweifelsfrei ausgesprochen populär. Doch während für das Beispiel der DDR erste Studien zum Thema Zirkus im Sozialismus entstanden sind, stellt das Thema für die sowjetische Geschichte bisher weitestgehend ein Desiderat dar.1 Nach einer Fülle von Studien zu hochkulturellen Genres wie Literatur, bildende Kunst, Theater und klassischer Musik fokussiert sich die Forschung zur Sowjetunion nun zunehmend auf kulturelle Phänomene größerer Breitenwirkung wie die künstlerische Amateurtätigkeit, das Radio und das Fernsehen, um deren Rolle für gesellschaftliche Integration und politische Stabilität zu beantworten.2

In diesem Zusammenhang ist Miriam Neiricks faszinierende Studie zum sowjetischen Zirkus einzuordnen, die sich erstmals einem genuinen Massenphänomen sowjetischer Kultur in einem Längsschnitt annimmt. Die Autorin verfolgt das Ziel, die sich wandelnden gesellschaftlichen und politischen Funktionen des sowjetischen Zirkus herauszuarbeiten und unterzieht einzelne Zirkusnummern einer akribischen Analyse, um sie in die Leitbilder der jeweiligen Epoche einzuordnen. Dafür nutzt die Autorin Akten der Kulturverwaltung, die sowjetische und westliche Presse, aber auch Memoiren sowjetischer Zirkusvertreter. Der Zirkus unterscheide sich, so die Autorin, nicht nur von seinen westlichen Pendants, sondern sei auch innerhalb der sowjetischen Kultur, in der Kunst sonst von subjektiven Interpretationen abgeschottet wurde, einmalig gewesen. Einzig aufgrund seiner schichtenübergreifenden Beliebtheit – schon Walter Benjamin sprach vom Zirkus als „Ort des unheimlichen Klassenfriedens“– lasse sich die privilegierte Position des sowjetischen Zirkus indes nicht erklären. Erst die Vielzahl verschiedenster politischer Botschaften machte ihn für die politische Führung so attraktiv.

Neiricks Untersuchung ist chronologisch anhand etablierter Perioden sowjetischer Geschichte in sechs Hauptkapitel gegliedert. In zwei kurzen ereignis- und strukturgeschichtlichen Einführungskapiteln zur Geschichte des Zirkus im Russischen Reich und der Sowjetunion diskutiert sie die treibenden Akteure und die organisatorische Entwicklung zwischen Katharina der Großen und Gorbatschow.

Die Botschaft der revolutionären Umgestaltung, die der Zirkus nach der Verstaatlichung 1919 zu verkünden hatte, äußerte sich allenfalls in der Rhetorik, nicht jedoch in der Struktur der Vorstellungen und der Ambivalenz der Inhalte – diese blieben bis zum Ende der Sowjetunion erstaunlich konstant. Seine Macher und Verfechter erachteten die Nähe zur Masse und sein Erziehungspotential als das eigentlich „Sowjetische“ und „Demokratische“. Damit verteidigten sie den Zirkus nicht nur gegen die zahllosen Kritiker bürgerlicher Unterhaltungskultur, sondern auch gegen die empirischen Befunde von Zuschauerbefragungen.

Mit der „sowjetischen Kulturrevolution“ 1928 nahm der Zirkus technologische Elemente in die Programme mit auf, um die Massen zu mobilisieren und das Fortschrittsdenken zu proklamieren; zudem „sowjetisierte“ man sein Personal – ausländische Künstler verschwanden zunehmend. Der Zirkus wurde zur Bühne, um den Wert sozialistischer Arbeit, neuer Technologie und die Überwindung biologischer Schranken zu proklamieren. Gleichzeitig nahm die Gewichtung des Publikumsgeschmacks ab und autoritäre Deutung des Programms in der Presse zu. Hinter der Fassade personeller Erneuerung, die vermeintlich veraltete Programme und ineffiziente Leitung überwinden sollte, wurde auch die zentrale Verwaltung des Zirkus in den 1930er Jahren politisch gesäubert. Im Großen Vaterländischen Krieg nahmen Clowns und Tierbändiger dem Zuschauer die Angst vor dem Feind und vor der Angst selbst. Die Muster und Strategien für die Parodien politischer Feinde, die Neirick hier herausarbeitet, erlebten in der Nachkriegszeit eine neue Konjunktur. Jetzt galt es nicht nur, ein neues Bedrohungsszenario durch den Westen zu erklären, sondern auch, warum dieses die Einlösung des Wohlstandversprechens für den sowjetischen Bürger zu Hause verhinderte.

Durch die zeitgleiche Propagierung des technischen Fortschritts im Raumzeitalter und der Friedensliebe und Völkerfreundschaft im Inneren symbolisierte der sowjetische Zirkus bei seinen zahllosen Tourneen im Westen nach 1956 die Bereitschaft der Sowjetunion, „einen Krieg zu verhindern, den sie trotzdem bereit war zu führen“ (S. 182). Auch im Spätsozialismus blieb der Zirkus in den Programmen und Zeitungsbesprechungen eine idealisierte Projektion der Gesamtgesellschaft. Besonders an den Sketchen von Clowns wie Popow und Nikulin, die sich um die Entwicklung einer realistischeren Figur bemühten, macht die Autorin deutlich, wie ambivalent ihre Botschaften vom vermeintlich harmonischen Miteinander von Individuum und Kollektiv im Publikum gelesen werden konnten – so waren parodierte Spekulanten politisch unerwünschte Figuren, standen aber gleichzeitig für das alltäglich Durchmogeln und die nötigen persönliche Netzwerke.

Es ist diese Offenheit zu subjektiver Interpretation, die es dem sowjetischen Zirkus ermöglichte, Geschichten zur Zufriedenheit von Machern und Publikum zu erzählen. Eben weil es kaum Belege für die Rezeption jener politischen Botschaften gibt, ließ sich jede positive Reaktion des Publikums – sei es aus Sympathie für politische Botschaften, sei es als Flucht aus der harten Realität in die Unterhaltung – von Seiten der Macher mythologisieren. Das Publikum bekam, was es wollte, und wollte, was der Staat ihm bot. Mit Blick auf die Rezeption der Botschaften schreibt Neirick insofern eine mögliche Geschichte, die ihre Stärke aus der detaillierten Analyse einzelner Zirkusnummern gewinnt und sich durch den Mangel an validen Quellen zur Rezeption des Programms nicht zu einseitigen Aussagen hinreißen lässt. Am Zirkus kann Neirick zeigen, dass entgegen bisheriger Untersuchungen die Politisierung der Kultur eben nicht automatisch zu einer Entpopularisierung führte, denn das Werben für die „wissenschaftliche Organisation der Produktion“ musste nach den Gesetzen des Zirkus eben auch unterhaltsam sein. Überzeugend arbeitet sie zudem den Wandel in den vermittelten ideologischen Leitbildern anhand konkreter Themen und Gruppen heraus.

Kritischer muss Neiricks Panorama jedoch mit Blick auf den unterbeleuchten Konnex zwischen Partei und Kulturproduzenten betrachtet werden, der eine gewisse Konfliktarmut suggeriert. Wenn der Zirkus wirklich das „darling product of Soviet culture“ (S. 12) war, erfolgte die Übertragung neuer politischer Leitideen in die künstlerischer Praxis nicht ohne Konflikte. So hätte man gerne mehr über Zensurpraktiken und -konflikte um die von ihr analysierten Stücke erfahren. Im Dunkeln bleiben leider auch Diskussionen und Konflikte innerhalb der staatlichen Zirkusverwaltung, die der entscheidende Transmissionsriemen zwischen schwankenden ideologischen Vorgaben der Partei und der künstlerischen Umsetzung in der Manege war. Auch ihre These von der Exzeptionalität des sowjetischen Zirkus gegenüber anderen kulturellen Formen wäre durch eine Untersuchung der Diskussionen zwischen deren verschiedenen Vertretern noch zu schärfen gewesen. Nicht zuletzt die Frage von Ressourcenverteilung bestimmte – mal offen, mal verdeckt – die Geschicke populärkultureller Formate wie der Estrada, die bis Ende der 1930er Jahre ja ebenfalls ein Hybrid aus Musik, Tanz und Akrobatik war. Die Tourneen sowjetischer Zirkusgruppen durch Westeuropa und die Vereinigten Staaten ab den 1950er Jahren waren nicht nur ein möglicher ideologischer Erfolg, sondern eben auch ein finanzieller.

Ungeachtet dieser Einwände lohnt die Lektüre dieses aufschlussreichen und anregenden Buches. Die Autorin zeigt, dass sich sowjetische Kultur nicht in einem bipolaren Modell aus konformer und resistenter Kultur auflösen lässt und es sich lohnt, ihren vermeintlich exzeptionellen Charakter über längere Zeiträume aufs Neue zu hinterfragen. Historische Studien zur Sowjetunion werden auch zukünftig von couragierten Längsschnitten wie dem vorliegenden profitieren.

Anmerkungen:
1 Martin Wein, Zirkus zwischen Kunst und Kader. Privates Zirkuswesen in der SBZ/DDR, Berlin 2001; Dietmar Winkler, Zirkus in der DDR. Im Spagat zwischen Nische und Weltgeltung, Berlin 2009; Jurij Arsen’evič Dmitriev, Cirk v Rossii (ot istokov do 2000 goda), Moskau 2004.
2 Kristin Roth-Ex, Moscow Prime Time. How the Soviet Union Built the Media Empire that Lost the Cultural Cold War, Ithaka (u.a.) 2011; Sergei I. Zhuk, Rock and Roll in the Rocket City. The West, Identity, and Ideology in Soviet Dniepropetrovsk, 1960–1985, Washington 2010.

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