Titel
"Multinationalität hat verschiedene Gesichter". Formen internationaler Unternehmenstätigkeit der Vieille Montagne und der Metallgesellschaft vor 1914


Autor(en)
Becker, Susan
Reihe
Beiträge zur Unternehmensgeschichte 14
Erschienen
Stuttgart 2002: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Ackermann, Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Bevor der Erste Weltkrieg alle hoffnungsvollen Ansätze störte und verzerrte, die das internationale kapitalistische System vor 1914 enthalten hatte, gab es eine bislang nicht da gewesene intensive weltwirtschaftliche Verflechtung, die erst nach 1945 wieder erreicht wurde. International verflochten war auch die Nichteisen (NE)-Metallwirtschaft: die 1837 gegründete belgische Société Anonyme des Mines et Fonderies de Zinc de la Vieille Montagne mit Sitz in Lüttich entwickelte sich im 19. Jahrhundert zum weltweit größten Zinkunternehmen, und die Frankfurter Metallgesellschaft stieg nach ihrer Gründung 1881 rasch zu einem der bedeutendsten NE-Metallhandelshäuser auf. Vieille Montagne und Metallgesellschaft - die am stärksten international ausgerichteten Unternehmen ihrer Branche - tätigten Auslandsdirektinvestitionen, unterhielten enge und langjährige Beziehungen zu ausländischen Unternehmen und beteiligten sich an der Kartellierung der internationalen NE-Metallwirtschaft. Gemeinsames Ziel der verschiedenen Formen internationaler Unternehmenstätigkeit war die Reduzierung von Transaktionskosten.

Susan Becker sucht in ihrer Spezialstudie mit dem barock anmutenden Untertitel nach Antworten auf eine Frage, die im Zusammenhang mit der Analyse von Transaktionskosten gestellt wird: Warum nehmen multinationale Unternehmen eine Auslandsdirektinvestition vor, statt sich für die Abwicklung ihres Auslandsgeschäftes des Marktes zu bedienen? Becker analysiert ihr Material mit Hilfe des sogenannten ‚Eklektischen Paradigmas’, in dem bestimmte Analysekriterien miteinander verbunden werden: Transaktionskosten, Standortvorteile sowie unternehmensspezifische, monopolistische Vorteile gegenüber lokalen Wettbewerbern. Erfolgreich können Auslandsdirektinvestitionen nur dann sein, wenn unternehmensspezifische Vorteile gleichzeitig mit Internalisierungs- und Standortvorteilen vorliegen. Mit Hilfe dieser Kriterien untersucht Becker in einer Reihe von Fallstudien die verschiedenen Subunternehmen der Vieille Montagne bzw. der Metallgesellschaft und ihre Beziehungen zu ausländischen Unternehmen. Ihr Ergebnis: Vieille Montagne und Metallgesellschaft machten Gebrauch von Auslandsdirektinvestitionen, Beziehungen zu ausländischen Unternehmen und internationalen Kartellen, um in ihren Außenbeziehungen Transaktionskosten zu senken. Sie stellten eine Möglichkeit dar, ihre Stellung auf den internationalen Märkten der NE-Metallwirtschaft besser zu sichern, als dies über spontane Austauschbeziehungen im Sinne von Kauf und Verkauf möglich gewesen wäre. Die begriffliche Erfassung und Analyse von Auslandsdirektinvestitionen allein kann dem Charakter von multinationalen Unternehmen nicht gerecht werden; vielmehr bildeten auch Beziehungen zu ausländischen Unternehmen sowie internationale Kartelle einen integralen Bestandteil sowohl ihrer Unternehmenspolitik als auch ihrer Auslandsaktivitäten.

Beckers bei Hans Pohl an der Universität Bonn geschriebene Dissertation kommt ganz ohne die Zentralbegriffe konkurrierender Interpretationsangebote aus: statt ‚Netzwerk’ heißt es bei ihr schlicht ‚Beziehung’: ein durch bestimmte Arrangements geregeltes Verhältnis, durch welches Unternehmen ihren Transaktionen ein erhöhtes Maß an Sicherheit verleihen; und statt ‚Vertrauen’ schreibt sie von der Erwartung eines gegenseitigen Nutzens als entscheidender Triebkraft im Entstehen und Fortdauern von festen Beziehungen zwischen Unternehmen. Ihrer Meinung nach ist im Rahmen der Transaktionskostentheorie ein Aspekt bislang vernachlässigt worden, nämlich der Einfluss von Unternehmern bzw. Managern auf die Investitionsentscheidung eines Unternehmens. Die von ihnen verfolgten Strategien seien interne Wachstumspotentiale, und ihre persönlichen Einschätzungen, Unternehmensstrategien und -ziele könnten ausländische Direktinvestitionen zu einem wesentlichen Teil motivieren. Gewiss lässt sich dies besonders gut an stark personalisierten Gesellschaften wie der Vieille Montagne und der Metallgesellschaft studieren, und Becker zögert auch nicht, zwei als „herausragend“ bezeichneten Managern bzw. Unternehmern „Weitblick, Initiativkraft und Organisationsvermögen“ nachzurühmen. Allerdings werden - was ihr vermutlich nicht anzulasten ist - weder Louis-Alexandre St. Paul de Sincay noch Wilhelm Merton mit einer Abbildung gewürdigt; und auch der Mangel an Archivmaterial zu beiden ist wohl ein Grund dafür, dass die Rückkehr der individuellen Akteure nicht ausgiebiger gefeiert werden konnte.

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