Cover
Titel
Dark Tourism. Faszination des Schreckens


Herausgeber
Quack, Heinz-Dieter; Steinecke, Albrecht
Reihe
Paderborner Geographische Studien zu Tourismusforschung und Destinationsmanagement 25
Erschienen
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 24,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Samida, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Seit bald 20 Jahren gibt es in der anglophonen Tourismusforschung und in der kulturwissenschaftlichen Diskussion um Aspekte des Kulturerbes Ansätze, die zwischen ‚heritage‘ und ‚dark heritage‘ zu unterscheiden suchen. Zu den ersten, die sich mit der Thematik ‚dark heritage‘ bzw. ‚uncomfortable heritage‘1 beschäftigt haben – also Stätten, die direkt oder indirekt mit Tod, Mord, Gräueltaten, Gewalt, Leid und Schmerz in Verbindung zu bringen sind –, gehören die beiden Engländer John E. Tunbridge und Gregory J. Ashworth. Sie haben bereits 1996 in ihrem Buch „Dissonant Heritage“ auf verschiedene Misstöne im Umgang mit Kulturerbe aufmerksam gemacht und auch Aspekte des ‚unbequemen Erbes‘ angesprochen; darunter fallen beispielsweise Schlachtfelder, Konzentrationslager, Gefängnisse, Massengräber sowie Orte, die man mit Unglücken und Katastrophen verbindet.2 Obwohl das Thema also seit geraumer Zeit ein wichtiges Forschungsfeld speziell der englischsprachigen Tourismusforschung darstellt – unter der Bezeichnung ‚Dark Tourism‘ oder auch ‚Thanatourism‘3 –, spielte es in den deutschsprachigen Kultur- und Geschichtswissenschaften bislang so gut wie keine Rolle.4

Mit dem vorliegenden Band der Geographen und Tourismusforscher Heinz-Dieter Quack und Albrecht Steinecke ändert sich dies nun. Das Ziel der Herausgeber ist es, „eine Bilanz der bisherigen Forschungen zu ziehen, Erfahrungen aus der Praxis von Tourismusdestinationen und Gedenkstätten zusammenzustellen und Anregungen für die künftige Arbeit zu geben“ (S. 4). Der Sammelband vereint 23 Beiträge, die in drei große Themenkomplexe gegliedert sind: „Konzeption – Forschungsstand – Herausforderungen“, „Deutsche Fallstudien“ und „Internationale Fallstudien“. Ein „Info-Teil“ mit „ausgewählte[n] Gedenkstätten, Museen und Schauplätzen des ‚Dark Tourism’“ – zusammengestellt von Albrecht Steinecke und Sibel Alpaslan – rundet den Band ab.

Die Autorinnen und Autoren stammen mehrheitlich aus der geographischen Forschung. Der Band geht auf einen im Herbst 2011 veröffentlichten Call für Papers zurück, der vornehmlich in der tourismuswissenschaftlichen und geographischen Community verbreitet wurde (S. 4). Die dadurch bedingte Engführung ist allerdings zu bedauern. Denn auch wenn ‚Dark Tourism‘ auf den ersten Blick als genuin tourismuswissenschaftliches Forschungsfeld erscheinen mag, so handelt es sich zweifellos um ein fachübergreifendes, ja im besten Sinne kulturwissenschaftliches Thema, das Fächer wie die Europäische Ethnologie, die Geschichtswissenschaften und die Soziologie verbindet.

Auf eine Einleitung und damit Konzeptualisierung des Begriffs und Phänomens ‚Dark Tourism‘ haben die Herausgeber verzichtet. Dies haben sie dem an der University of Colorado (USA) lehrenden Rudi Hartmann überlassen, der einen kompetenten und prägnanten Überblick zur Entwicklung des Forschungsfelds von seinen Anfängen seit Mitte der 1990er-Jahre bis heute liefert. Hartmanns Literaturhinweise bilden eine höchst nützliche Auswahlbibliographie zum Thema. Dass dieser Beitrag auf Englisch erscheint – obwohl der Autor sonst auch auf Deutsch publiziert –, erstaunt angesichts des Credos der Herausgeber, den Wissens- und Handlungsdefiziten im deutschsprachigen Raum begegnen zu wollen (S. 4). In der Tat drängt sich der Eindruck auf, dass für das Desinteresse der deutschsprachigen Wissenschaft am ‚Dark Tourism‘ bislang vor allem die Sprachhürde ausschlaggebend ist.

Neben Hartmanns Artikel sind der Beitrag von Sandra Petermann zu nationalsozialistischen Opfer- und Täterorten in Deutschland als touristischen Destinationen sowie der Aufsatz „Arten und Motive des Dark Tourism“ von Antje Wolf und Claudia Matzner positiv hervorzuheben. Während Petermann vor allem den Motiven, Emotionen und Erwartungen der Besucher nachgeht, bieten Wolf und Matzner eine Klassifikation der ‚unbequemen Orte‘ bzw. des ‚Dark Tourism’. Sie unterscheiden ‚Katastrophen-‘, ‚Holocaust-‘, Schlachtfeld-‘, Friedhofs-‘, ‚Gefängnis-‘, ‚Armutstourismus‘ sowie weitere Typen und versuchen auf dieser Basis, unterschiedliche Reisemotive von Touristen zu ermitteln.

Zur Lektüre empfohlen sei besonders auch der kritische und innovative Beitrag von Stefan Küblböck, der sich intensiv mit der englischsprachigen Diskussion auseinandersetzt – vor allem mit den Arbeiten eines ihrer derzeit wichtigsten Protagonisten, Philip R. Stone.5 Stone hat in einem seiner Aufsätze eine Klassifizierung von ‚dark sites‘ vorgenommen. Folgt man diesem sechsstufigen Modell, stellen Orte des Todes und des Leids wie etwa Konzentrationslager sozusagen den Inbegriff von ‚dark sites‘ dar; sie gehören auf seiner Skala zu den ‚dunkelsten Stätten‘ überhaupt, während etwa der Freizeitpark Hamburg Dungeon für Stone zu den „lightest sites“ zählt.6 Zu Recht weist Küblböck (S. 114f.) darauf hin, dass dieses Modell nur bedingt anwendbar sei, und verdeutlicht dies unter anderem an den Gefängnisinseln von Robben Island (Südafrika) und Alcatraz (USA). Man könnte zunächst meinen, so führt er aus, beide Orte seien typische Vertreter von ‚darkest sites‘. Doch sobald man die Motivlagen und Verhaltensweisen der Besucher heranziehe, biete sich ein anderes Bild: „Während das ehemalige Gefängnis Nelson Mandelas als Ort der Mahnung, des Gedenkens, des Respekts und auch des Glaubens an den Sieg des Guten interpretiert werden kann, wollen Gefängnistouristen in Alcatraz ‚The Rock‘ erleben – den Ort, wo die wirklich Bösen wie Al Capone zu Recht weggesperrt wurden. Alcatraz ist in der Wahrnehmung ein sensationsgenerierender Drehort von Blockbustern, ein Ort zum Witzeln und zum Gruseln, an dem man sich ein cooles T-Shirt kaufen kann.“ (S. 115)

Der zweite und dritte Teil des Bandes vereint deutsche und internationale Fallstudien zu Einrichtungen und Schauplätzen des ‚Dark Tourism’. Während der Schwerpunkt der deutschen Beispiele auf Orten des Zweiten Weltkriegs, des Nationalsozialismus und des DDR-Regimes liegt, befassen sich die internationalen Fallstudien (etwa aus Holland, Bosnien und Herzegowina, Südafrika, Japan) mit andere Themen – wie zum Beispiel der Motivation der Besucher im Amsterdamer „Torture Museum“ oder dem „Atombombentourismus“ in Hiroshima.

Der Gesamteindruck bleibt zwiespältig. Den Herausgebern ist zu danken, dass sie dieses vor allem in der englischsprachigen Tourismusforschung rege diskutierte Thema aufgenommen und auf die deutschsprachige Agenda gesetzt haben. Die Qualität der Beiträge differiert allerdings stark und kann bis auf wenige Ausnahmen nicht an die anglophone Diskussion heranreichen. Vielen Beiträgen fehlt eine theoretische Fundierung, was sich besonders an der nicht-zitierten Literatur erkennen lässt. So kommen die deutschen Fallstudien entweder kaum über eine simple Beschreibung von Stätten aus der Zeit des Nationalsozialismus und der DDR hinaus – andere ‚Dark Sites’ scheint es in Deutschland nicht zu geben –, oder sie erläutern schlicht die Marketingkonzepte einzelner Orte (z.B. Oswald Burger über den Goldbacher Stollen in Überlingen; Claudia Zwerger über den St. Johannisfriedhof in Nürnberg). Damit hätten diese Beiträge genauso gut auch in einem Band zur Gedenkstättenkultur oder zu Erinnerungsorten in Deutschland stehen können.

Auffällig ist zudem, dass sich das besprochene Buch in erster Linie zeithistorischen Orten und Stätten widmet. Damit folgt es – möglicherweise unbewusst – der englischsprachigen Debatte. Denn was ist mit solchen Destinationen wie dem Fundort der berühmten, über 5.000 Jahre alten Gletscherleiche ‚Ötzi‘ am Tisenjoch oder römischen Schlachtfeldern wie demjenigen bei Kalkriese? Was ist mit Ausstellungen, die Mumien präsentieren, wie die zuletzt in Mannheim 2007 gezeigte Schau „Mumien – Der Traum vom ewigen Leben“, die von dem Berliner Ägyptologen Dietrich Wildung damals als „Mumien-Pornographie“ bezeichnet wurde?7 Offene Fragen, die es in Zukunft anzugehen gilt. Der Sammelband hat einige Aspekte des vielschichtigen Themas angerissen; jetzt müssen weitere, intensivere und vor allem konzeptuelle Forschungen folgen.

Anmerkungen:
1 Eine deutsche Übersetzung wird meist vermieden. Ab und an trifft man auf die Bezeichnung ‚dunkles Erbe‘ oder ‚dunkler Ort‘. Im Zusammenhang mit Konzentrationslagern stößt man verschiedentlich auf die Bezeichnung ‚unerwünschtes Erbe‘; dazu: Peter Egger / Michaela Haibl, Unerwünscht erben. Konzentrationslager als kulturelles Erbe?, in: Karl C. Berger / Margot Schindler / Ingo Schneider (Hrsg.), Erb.gut? Kulturelles Erbe in Wissenschaft und Gesellschaft, Wien 2009, S. 137–148.
2 John E. Tunbridge / Gregory J. Ashworth, Dissonant Heritage. The Management of the Past as a Resource in Conflict, Chichester 1996.
3 Beispielsweise: J. John Lennon / Malcolm Foley, Dark Tourism, London 2000; Richard Sharpley / Philip R. Stone (Hrsg.), The Darker Side of Travel. The Theory and Practice of Dark Tourism, Bristol 2009; Joy Sather-Wagstaff, Heritage that Hurts. Tourists in the Memoryscapes of September 11, Walnut Creek 2011; Avital Biran / Yaniv Poria / Gila Oren, Sought Experiences at (Dark) Heritage Sites, in: Annals of Tourism Research 38 (2011), S. 820–841.
4 Ausnahmen sind z.B. Jörg Skriebeleit, „Gruß aus Flossenbürg“. Tourismus und KZ-Gedenkstätten, in: Ulrike Dittrich / Sigrid Jacobeit (Hrsg.), KZ-Souvenirs. Erinnerungsobjekte der Alltagskultur im Gedenken an die nationalsozialistischen Verbrechen, Potsdam 2005, S. 28–39.
5 Siehe z.B. Philip R. Stone, A Dark Tourism Spectrum: Towards a Typology of Death and Macabre Related Tourist Sites, Attractions and Exhibitions, in: Tourism: An Interdisciplinary International Journal 54 (2006), S. 145–160; ders., Dark Tourism: Towards a New Post-Disciplinary Research Agenda, in: International Journal of Tourism Anthropology 1 (2011), S. 318–332; ders. / Richard Sharpley, Consuming Dark Tourism: A Thanatological Perspective, in: Annals of Tourism Research 35 (2008), S. 574–595.
6 Stone, A Dark Tourism Spectrum.
7 <http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kulturinterview/674977/> (17.1.2013).