J. M. Ruschke: Der Berliner Kirchenstreit

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Titel
Paul Gerhardt und der Berliner Kirchenstreit. Eine Untersuchung der konfessionellen Auseinandersetzungen über die kurfürstlich verordnete ‚mutua tolerantia‘


Autor(en)
Ruschke, Johannes M.
Reihe
Beiträge zur historischen Theologie 166
Erschienen
Tübingen 2012: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XVIII, 624 S.
Preis
€ 114,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marianne Taatz-Jacobi, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Johannes M. Ruschke beabsichtigt mit seiner kirchenhistorischen Studie, „die Forschung zu Paul Gerhardt und zu den frühneuzeitlichen Toleranzbemühungen anhand bisher nicht oder kaum ausgewerteter Quellen zu erweitern und zu korrigieren“ (S. V). Weit ausholend beginnt er mit der Darstellung der lutherischen Konfessionalisierung Brandenburgs im 16. Jahrhundert und der Konversion Kurfürst Johann Sigismunds 1613 zum Reformiertentum sowie zu den sich anschließenden Calvinisierungsbemühungen. Die Grundpositionen lutherischer und reformierter Theologie einschließlich irenischer Ansätze sowie die innerprotestantischen Religionsgespräche werden ebenfalls zusammengefasst, um den Berliner Kirchenstreit zu kontextualisieren.

Die Erweiterung der bisherigen Forschung gelingt Ruschke durch die Anbindung des Berlin-Cöllner Kolloquiums 1662/63 an die vorausgegangenen konfessionspolitischen Maßnahmen des Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Er beginnt mit der Analyse der Politik in der Kurmark ab 1653, die er als erste Phase des Berliner Kirchenstreits verstanden wissen möchte, in der die Religionspolitik gegenüber den Lutheranern im Land zu einer Verschärfung der konfessionellen Differenzen führte und sich die unterschiedlichen Positionen verfestigten. Die ausführliche Vorstellung der einzelnen am gesamten Kirchenstreit beteiligten Theologen auf lutherischer und reformierter Seite trägt dabei zum besseren Verständnis bei. Die Erschließung neuer Quellen ermöglicht, nicht nur das Verhalten Paul Gerhardts zu fokussieren, sondern die Positionen der übrigen lutherischen Teilnehmer des Kolloquiums zu erfassen. Genau analysiert er die organisatorischen und theologischen Details der siebzehn Sessionen der zweiten Phase des Kirchenstreits, des Berlin-Cöllner Kolloquiums 1662/63 (S. 176–340).

Indem Ruschke viele bisher unbekannten Voten, Briefen und Konzepten der beteiligten Pfarrer (und der kurfürstlichen Beamten) untersucht, gelingt es ihm zu verdeutlichen, welche theologischen Nuancierungen zwischen Orthodoxie und Irenik, zwischen Gewissensberufung und Obrigkeitstreue die Positionen der lutherischen Kolloquiumsteilnehmer ausmachten und wie sie sich veränderten. Im Zusammenhang mit der Betrachtung der Werdegänge der einzelnen Teilnehmer in der dritten Phase des Kirchenstreits im unmittelbaren Anschluss an das Kolloquium liegt hier eine besondere Stärke der Studie, weil die vermeintliche Einheit der lutherisch-orthodoxen Theologen durch ein vielschichtigeres Bild ersetzt wird. Haltungen und Einstellungen differierten und waren dennoch auf die gemeinsame konfessionelle Grundlage bezogen. Insofern ist die Studie für eine notwendige Neubetrachtung und -bewertung der lutherischen Orthodoxie gewinnbringend, ohne dass es Ruschkes erklärtes Ziel gewesen wäre, sich mit deren Vielschichtigkeit auseinanderzusetzen.1 Diese Vielstimmigkeit und die Tatsache, dass der Berliner Kirchenstreit nicht in einem religionspolitischem Vakuum stattfand, verdeutlicht Ruschke durch Exkurse zum Einfluss des Kasseler Religionsgesprächs 1661 und der irenischen Verteidigungsschriften der lutherischen theologischen Fakultät der Universität Rinteln sowie der Kontakte nach Wittenberg zu Abraham Calov auf den Verlauf des Berlin-Cöllner Religionsgesprächs und die theologische Meinungsbildung.

Im Zentrum der Betrachtung steht dennoch der titelgebende Protagonist: Immer wieder konzentriert Ruschke sich auf Paul Gerhardts Voten und Argumentation. Gerhardt erscheint als in den lutherischen Bekenntnisschriften fest verwurzelt und irenischen Tendenzen von Anbeginn an vollkommen fernstehend. Insbesondere auf Basis der Konkordienformel gilt ihm die irenische Theologie als Bedrohung des lutherischen Glaubens, so dass er die kurfürstliche Forderung nach mutua tolerantia somit aus Gewissensgründen ablehnen muss. Zwar zeichnet Ruschke ein umfangreiches und scharfes Bild von Gerhardts theologischen Positionen, kann dabei aber der bisherigen Gerhardtforschung keine grundlegenden neuen Aspekte hinzufügen.

Ruschke erhebt den Anspruch, einen Beitrag zur Erforschung der frühneuzeitlichen Toleranzbemühungen zu leisten (S. V). Dazu setzt er sich mit dem Toleranzverständnis bei Kurfürst Friedrich Wilhelm auseinander, dessen Forderung nach einer mutua tolerantia das leitende Motiv für die Interpretation des Berliner Kirchenstreits wird. Zwar weist Ruschke darauf hin, dass „Friedrich Wilhelms Toleranzgedanken […] nicht zu verwechseln [sind] mit dem heutigen Verständnis von Toleranz“ (S. 103) und dass zwischen politischer und persönlicher Haltung zu unterscheiden sei, die theoretische Auseinandersetzung über Toleranz geht jedoch nicht über eine Fußnote (S. 103, Anm. 23) hinaus.

Kritisch anzumerken ist, dass Ruschke sein einflussreichstes Interpretament – die politisch-strategisch-ökonomische Toleranz des Großen Kurfürsten – ausschließlich aus der Literatur gewinnt.2 Dass die Tendenz auch der meisten modernen Historiker, eine friedlich-tolerante Einstellung des Kurfürsten gegenüber den Lutheranern anzunehmen, zweifelsohne durch Reduktionismus und Modernismus geprägt ist und dies in der jüngeren Forschung punktuell auch kritisiert wurde, nimmt er nicht zur Kenntnis.3 Die nahe liegende Alternative und Chance auf ein neues Interpretament, seine Thematik in die Konfessionalisierungsforschung einzureihen und die Kirchenpolitik und den Berliner Kirchenstreit als Ausdruck einer Absicht zu reformierter Konfessionalisierung zu untersuchen, wird nicht aufgegriffen. Von maßgeblicher Bedeutung wird dabei ein Fehler bei der Bewertung des Westfälischen Friedens: Zwar besaß Friedrich Wilhelm, wie Ruschke schreibt, auch nach 1648 das ius reformandi. Aber dass „eine Calvinisierung des Landes rechtens gewesen“ wäre (S. 104) trifft angesichts des Minderheitenschutzes aufgrund der Normaljahresregelung nicht zu. Durch diese Verallgemeinerung aber wird die Konfessionspolitik Friedrich Wilhelms zu einer „toleranten Kirchenpolitik“ (ebd.). Gleichzeitig wird der Eindruck erweckt, reichsrechtlich hätten dem Kurfürsten auch schärfere Methoden zugestanden, die er aber aufgrund seiner toleranten Einstellung nicht ausgenutzt habe.

Ruschke folgt dann der Forschungstendenz, die Konfessionspolitik in Kurbrandenburg subtil als Vorläufer der modernen Toleranz zu bewerten: „Da die religiöse Toleranz zur Zeit des Konfessionellen Zeitalters noch weitgehend unbekannt war, konnte Gerhardt nicht beurteilen – wie es aus heutiger Zeit rückblickend möglich ist –, inwiefern die Maßnahmen des Großen Kurfürsten nicht per se auf eine Schädigung des lutherischen Glaubens zielten, sondern den Beginn einer die gegensätzlichen konfessionellen Grundfesten auflockernden und somit tatsächlich toleranten Kirchenpolitik darstellten“ (S. 509f.). So verwundert es auch nicht, dass Ruschke trotz des Eingeständnisses – „Ziel seiner Kirchenpolitik war die Förderung seiner eigenen Konfession“ (S. 524) – Friedrich Wilhelm eine fortschrittliche Politik attestiert (S.525). Die konfessionspolitischen Maßnahmen seit 1653 gegenüber den Ständen, die Stellenbesetzung mit Reformierten, der gesamte Kirchenstreit und insbesondere die Edikte von 1662 und 1664 werden ausschließlich mit dem Interpretament der Toleranz analysiert. Ambivalenzen wie zum Beispiel die Reverse des Edikts von 1664 werden höchstens als disziplinierende Maßnahmen eingeschätzt (S. 356f.). Darüber hinaus findet eine der wichtigsten Quellen zum konfessionspolitischen Verständnis von Friedrich Wilhelm keinen Niederschlag: sein Politisches Testament von 1667.

Methodisch befremdet das Schlusskapitel, das mit „Würdigung“ überschrieben ist. An mehreren Stellen fällt Ruschke retrospektive Werturteile anstellen von historischer Schlussfolgerungen: „Es ist zu kritisieren, dass Gerhard neben der Berufung auf sein Gewissen andere Gründe angab, das Edikt nicht befolgen zu können.“ (S. 512); „Zu kritisieren ist an Friedrich Wilhelm, dass die verschiedenen Maßnahmen zur Durchsetzung seiner kirchenpolitischen Ziele zunächst scheiterten, weil sie an der Realität der konfessionellen Situation vorbei gingen.“ (S. 526; weitere auf S. 526f.)

Trotz dieser Kritikpunkte liegt eine Studie vor, die aufgrund ihrer Ausführlichkeit einen wichtigen Beitrag zur innerprotestantischen und brandenburgischen Kirchengeschichte des 17. Jahrhunderts leistet. Weniger für die Erforschung des frühneuzeitlichen Toleranzverständnisses als für Untersuchungen zur lutherischen Orthodoxie wird sie in Zukunft Beachtung finden.

Anmerkungen:
1 Die Vielschichtigkeit innerhalb der Orthodoxie verdeutlicht etwa Stefan Michel / Andres Straßberger (Hrsg.), Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzovs (1639–1699), Leipzig 2009.
2 Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang, 1600–1947, 6. Aufl. München 2007; Martin Lackner, Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten, Witten 1973; Wolfgang Ribbe, Brandenburg auf dem Weg zum polykonfessionellen Staatswesen (1620–1688), in: Gerd Heinrich (Hrsg.), Tausend Jahre Kirche in Berlin-Brandenburg, Berlin 1999, S. 267–292.
3 Jürgen Luh, Zur Konfessionspolitik der Kurfürsten von Brandenburg und Könige in Preußen 1640 bis 1740, in: Horst Lademacher / Renate Loos / Simon Groenveld (Hrsg.), Ablehnung – Duldung – Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich, Münster 2004, S. 306–332; Matthias Asche, Neusiedler im verheerten Land. Kriegsfolgenbewältigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts, Münster 2006, S. 9f.

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