B. Pekesen: Nationalismus, Türkisierung

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Titel
Nationalismus, Türkisierung und das Ende der jüdischen Gemeinden in Thrakien. 1918–1942


Autor(en)
Pekesen, Berna
Reihe
Südosteuropäische Arbeiten 145
Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
334 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Corry Guttstadt, Berlin

Im Sommer 1934 ereigneten sich in Türkisch Thrakien sowie einigen Ortschaften an den Dardanellen pogromartige Gewaltakte gegen die jüdische Bevölkerung. Diese reichten von Drohbriefen über Boykottaktionen bis zu physischen Angriffen. Die staatlichen Sicherheitskräfte duldeten die Aktionen weitgehend, an einigen Orten forderten sie die Juden zum Verlassen der Stadt auf. In Kırklareli kam es zu einem regelrechten Pogrom. Panikartig verließ die Mehrheit der Juden die Region. Erst als die Ereignisse in der internationalen Presse publik wurden, reagierte die türkische Regierung, verurteilte die Gewaltakte und rief die Juden auf, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Doch unter dem Eindruck der Gewalt hatten viele Juden ihren Besitz zu lächerlichen Preisen veräußert und dadurch ihre Existenz verloren. Trotz Versprechungen stellte die Regierung den Juden keine Mittel zur Rückkehr zur Verfügung. So kehrte ein Großteil der Juden nicht nach Thrakien zurück. Damit leiteten die Ereignisse das Ende der jahrhundertealten Existenz dieser jüdischen Gemeinden ein.

Laut Berna Pekesen, die die Ausschreitungen in Thrakien in ihrer Dissertationsschrift analysiert, stehen diese im Widerspruch zum verbreiteten Bild einer „friedlichen türkisch-jüdischen Symbiose“, die die Historiographie in- aber auch außerhalb der Türkei lange geprägt habe (S. 29). Sie formuliert Fragen nach dem Stellenwert von Rassismus und Antisemitismus als Handlungsmotive der Gewaltakteure und nach dem Zusammenhang zur staatlichen Minderheitenpolitik (S. 30). Allerdings weist die Autorin bereits in der Einleitung auf ein entscheidendes Manko ihrer Untersuchung hin: die Quellenlage. Über die Ereignisse selbst liegen zahlreiche, zum Teil detaillierte Berichte vor. Hierzu gehören Aufzeichnungen ausländischer Konsuln und Diplomaten, Schilderungen jüdischer Zeitzeugen sowie eine Vielzahl ausländischer und jüdischer Presseberichte der Zeit.

Um genauere Informationen über die Täter und ihre Handlungsmotive zu erhalten, wie Pekesen es als eine zentrale Fragestellung formuliert, kämen als Quellen die Vernehmungsprotokolle der im Zusammenhang mit den Ereignissen Verhafteten oder Gerichtsakten in Betracht. Zu diesen erlangte die Autorin jedoch keinen Zugang. Die Archive des Innenministeriums oder der Polizei in der Türkei sind verschlossen. Über mögliche Versuche, lokale Gerichts- oder Verwaltungsakten aufzufinden, berichtet Pekesen nicht.

So stützt sich das erste Kapitel ihrer Arbeit, in welchem sie versucht, den Ablauf der Geschehnisse zu rekonstruieren, neben bereits veröffentlichter Literatur in erster Linie auf Konsulatsberichte. Es ist Pekesens Verdienst, hier als neue Quellen französische Primärquellen (Konsulatsberichte) einzubeziehen. Was die Gesamtschau betrifft, bietet ihre Arbeit indes wenig Neues. Sowohl Rıfat Bali als auch Hatice Bayraktar, die 2008 bzw. 2010 Monographien zum gleichen Thema vorlegten1, liefern deutlich mehr Details.

Zur theoretischen Einordnung der Ereignisse diskutiert Pekesen in ihrem ausführlichen zweiten Kapitel den Zusammenhang von Nation, Modernisierung und Gewalt. Beeindruckend ist die Menge der vorgestellten Literatur, darunter zahlreiche neuere Arbeiten zur kollektiven Gewalt im Zusammenhang mit dem Zerfall multiethnischer Großreiche in Ost- und Südosteuropa und dem Prozess des Nation Building.

Als wichtiges gewaltförderndes Element stellt sie die Ungleichzeitigkeit von Staatsbildung und Nationsbildung heraus. Diese Ungleichzeitigkeit ist ein charakteristisches Merkmal der Entstehung des türkischen Nationalstaates. Als weiteres Strukturmerkmal von Massengewalt nennt sie das mit der Nationalstaatsbildung häufig verbundene Projekt der Modernisierung, wie es sowohl von den Jungtürken als auch von ihren politischen Nachfolgern, der kemalistischen Bewegung, verfochten wurde. Leider setzt die Autorin die im „Theorieteil“ diskutierten Thesen in den nachfolgenden Kapiteln kaum zu den dort referierten Fakten in Bezug. So verweist sie zum Beispiel auf Dominik Schaller und Christian Gerlach, die betonen, dass ein zentrales Handlungsmotiv der Täter bei Massengewalt wie Genozid oder Vertreibung häufig im Raub des Eigentums der Vertriebenen liegt (S. 93). In ihrer Darstellung der „Befreiungsbewegung“ lässt sie jedoch unerwähnt, dass die „Verteidigung“ des von den vertriebenen Christen geraubten Besitzes ein zentrales Motiv vieler Muslime war, sich der Nationalbewegung anzuschließen. Die Frage, ob auch die Gewaltakte gegen die thrakischen Juden durch die Aussicht auf „Übernahme“ ihres Besitzes motiviert war, wirft sie auf, verfolgt diese Spur jedoch nicht weiter.

In den folgenden Kapiteln behandelt sie die Geschichte der Juden im Osmanischen Reich (Kapitel 3), die Entstehung der türkischen Republik durch den „Befreiungskrieg“ (Kapitel 4), die Türkisierungspolitik der Republik (Kapitel 5), und schließlich die Siedlungs- und Bevölkerungspolitik (Kapitel 6.)

Als verdienstvoll sind hier zwei Unterkapitel vorzustellen, die zu zwei kontrovers diskutierten Fragen neue Erkenntnisse liefern: In Kapitel 5.6 geht es um die Rolle Cevat Rıfat Atilhans und um die Bedeutung Nazideutschlands für die antisemitischen Ereignisse. Atilhan ist eine der zentralen Figuren des türkischen Antisemitismus. Wenige Wochen vor den Ereignissen in Thrakien hatte er begonnen, eine antisemitischen Zeitschrift namens Millî İnkilâp (Nationale Revolution) herauszugeben. Diese ähnelte nicht nur in Stil und Aufmachung dem Stürmer, sondern übernahm mehrere Artikel und Karikaturen direkt aus dem Naziblatt. Atilhan prahlte mehrfach, er habe in Deutschland hohe Nazigrößen getroffen und von diesen große Geldsummen erhalten. Diese Aussagen wurden in Untersuchungen zum Thema unhinterfragt aufgegriffen und hielten sich hartnäckig in der Historiographie. Mehrere Autoren hatten Atilhans behauptete Finanzierung aus Deutschland als Beleg dafür angeführt, die Gewalttaten seien dem „Einfluss Nazideutschlands“ zuzuschreiben. Diese Sichtweise folgt der „offiziellen“ türkischen Argumentation, die die eigenständige Existenz von Antisemitismus in der Türkei bestreitet. Auf Grundlage einer Auswertung von Akten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes kann Pekesen nachweisen, dass eine Finanzierung durch das deutsche Konsulat bzw. die deutsche Botschaft nicht erfolgte (S. 201f.). Wie Hatice Bayraktars akribische Recherchen belegen, entsprangen auch Atilhans Kontakte zu einflussreichen Nazipolitkern seiner Fantasie.

Unabhängig von der Rolle Atilhans und seiner Kontakte nach Deutschland zeugen die Gewaltakte davon, dass es in Teilen der Bevölkerung antisemitische Einstellungen gab, die sich nicht einfach „importieren“ lassen. Eine Analyse antisemitischer Inhalte in türkischen Publikationen jener Zeit wäre ein lohnendes Projekt gewesen. Leider stützt sich Pekesen in ihrem Unterkapitel „Judenfeindliche Strömungen in der Zwischenkriegszeit“ fast ausschließlich auf Sekundärliteratur bzw. Konsulatsakten. Hier besteht weiterhin ein wichtiges Forschungsdesiderat.

Positiv hervorzuheben ist auch das Kapitel 4.2 über İbrahim Tali [Öngören]. Tali war wenige Wochen vor dem Pogrom zum Generalinspektor der Region Thrakien und Çanakkale ernannt worden und hatte eine mehrwöchige Inspektionsreise durch die Region unternommen. Sein im Anschluss verfasster Bericht ist geradezu gespickt von antisemitischen Stereotypen. Dieser von Pekesen aufgefundene Bericht ist von zentraler Bedeutung.2 Er widerlegt nicht nur die Behauptung der damaligen türkischen Regierung, es gäbe keinen Antisemitismus in der Türkei, sondern ist als wichtiges Indiz für eine staatliche Verantwortung an der Vertreibung der Juden zu werten. Tali war der ranghöchste Beamte der Republik in diesem Gebiet und besaß weitgehende politische und militärische Vollmachten.

Insgesamt ist Pekesens Arbeit jedoch in weiten Teilen enttäuschend. Zahlreiche handwerkliche Fehler, Anachronismen und Ungereimtheiten schmälern den Wert ihrer Arbeit erheblich. In den Kapiteln 3 und 5 referiert sie Daten und Fakten aus der Sekundärliteratur, die teilweise in eklatantem Widerspruch zueinander stehen, offenbar ohne dass sie sich dessen bewusst wird, da sie diese Widersprüche nicht erwähnt und auch nicht auf mögliche Forschungskontroversen hinweist. Viele der Zahlen, die sie in ihrem Kapitel über die Siedlungs- und Bevölkerungspolitik zitiert, sind schlicht absurd: Auf S. 203 berichtet sie unter Verweis auf McCarthy, Anatolien habe infolge des Krieges von 1912–1922 zwanzig Prozent seiner christlichen Bevölkerung verloren. Eine Seite weiter schreibt sie, dass laut Çağlar Keyder Nicht-Muslime bis zum Ersten Weltkrieg zwanzig Prozent der anatolischen Bevölkerung stellten, deren Anteil nach dem Krieg auf 2,5 Prozent (folglich um über 85 Prozent!) sank. Die grundlegende Problematik, dass die Angaben der von verschiedenen Seiten durchgeführten Zählungen im Osmanischen Reich stark voneinander abweichen, da sie in direktem Zusammenhang zur Debatte um die Situation der Minderheiten standen und häufig politisch motiviert waren, thematisiert sie nicht.

Auch Pekesens Umgang mit Sprache und Begrifflichkeiten zeugt von mangelnder Reflexion. Obwohl die ausgrenzende Politik der türkischen Republik gegenüber der jüdischen Minderheit Gegenstand ihrer Arbeit ist, benutzt sie selbst häufig Begriffe, die diese Exklusion sprachlich vollzogen: So nennt sie die im Lausanner Vertrag garantierten Minderheitenrechte „Privilegien“ (S. 271) und Angehörige der Minderheiten nicht-türkischer Muttersprache „fremdsprachige Bürger der Türkei“ (S. 16, Fußnote 1, S. 42).

Ebenso ärgerlich ist es, wenn sie Angehörige oder Nachfahren der Dönme als Juden bezeichnet: Cevat Rıfat Atilhan wurde nicht „wegen seiner Verwicklung in die Ermordung eines Juden“ verhaftet (S. 195) sondern für seine Beteiligung am (missglückten) Mordanschlag auf Ahmet Yalman, einen bekannten Publizisten der Türkei. Dieser war nicht Jude, sondern stammte aus einer Dönme-Familie.3 Auch die Publizistin Sabiha Sertel (ebenfalls aus einer Dönme-Familie) bezeichnet Pekesen als Jüdin (S. 228, Fußnote 106). Für ein Werk zu dessen zentralen Themen das Aufkommen des Antisemitismus in der Republik Türkei gehört, ist dies keine Nebensächlichkeit. Mit Gründung der Republik und der Einbeziehung der Dönme in den türkisch-griechischen Bevölkerungsaustausch (S. 147) entwickelte sich ein spezifischer Antisemitismus, der die Dönme als „Kryptojuden“ bezeichnet, die die Türkei zu beherrschen trachten. Diese Sicht ist in der heutigen Türkei ein Massenphänomen!

Pekesens Buch sollte offenbar „der große Wurf“ sein. In befremdlicher Weise wertet sie alle bisherigen Arbeiten als „publizistisch“ ab oder ignoriert sie. Sie selbst erhebt den Anspruch, das Thema erstmals „im Rahmen der historischen Forschung“ zu behandeln (S. 267). Dem wird ihre Arbeit nicht gerecht.

Anmerkungen:
1 Rıfat N. Bali, 1934 Trakya Olayları, İstanbul 2008; Hatice Bayraktar, „Zweideutige Individuen in schlechter Absicht“. Die antisemitischen Ausschreitungen in Thrakien 1934 und ihre Hintergründe, Berlin 2011.
2 Cumhuriyet Başbakanlık Arşivi, Signatur: 490.01.643.30.1. Erstmals veröffentlicht von Hatice Bayraktar, The anti-Jewish pogrom in Eastern Thrace in 1934. New evidence for the responsibility of the Turkish government, in: Patterns of Prejudice 40 (2006) 2, S. 95–111.
3 Als Dönme (Konvertit, Renegat) werden in der Türkei die Angehörigen einer Religionsgemeinschaft bezeichnet, die auf Sabbatai Zvi zurückgeht, der sich im 17. Jahrhundert zum „jüdischen Messias“ erklärte und später zum Islam konvertierte; ausführlich: Marc Baer, Jewish Converts, Muslim Revolutionaries, and Secular Turks, Stanford 2009.

Kommentare

Von Pekesen, Berna26.03.2014

Das besprochene Buch nahm die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Ostthrakien und der Dardanellenregion im Jahr 1934 zum Anlass, nach den historischen Voraussetzungen und den Kontexten dieser Aktion zu suchen, die sich in der türkischen Minderheiten- und Siedlungspolitik der frühen Republik fanden. Es ist mehrfach sachlich und kritisch rezensiert worden. Daraus konnte man etwas lernen. Die Besprechung von Corry Guttstadt jedoch verkürzt, verzerrt und entstellt den Inhalt. Glücklicherweise sind alle ihre Kritikpunkte leicht zu widerlegen, und zwar mit den einschlägigen Passagen meines Buches selbst.

1. Wenn Guttstadt kritisiert, meine Rekonstruktion des Pogroms biete „wenig Neues“, so ist diese Einschätzung insofern polemisch, als ich explizit schreibe, dass es frische Untersuchungen gibt, welche die Ereignisse im Detail rekonstruieren. Dies erneut zu tun, war nicht meine Aufgabe (S. 22 f., S. 30). Mir ging es um die historische Herleitung und Erklärung des Pogroms, indem ich von dem Ereignis zurückschaue und frage, wie es dazu kommen konnte. Diesen Ansatz meines Buches hat die Rezensentin mit keinem Wort gewürdigt. Infolgedessen hat sie ihm nichts entgegen zu setzen.

2. Die Rezensentin bemängelt, dass ich über „mögliche Versuche, lokale Gerichts- oder Verwaltungsakten aufzufinden“, nicht berichte. Doch, darüber wird sehr wohl berichtet! In der Einleitung meines Buches wird explizit auf dieses Manko hingewiesen: Quellen „der Sicherheitsbehörden sowie lokale Verwaltungsakten konnten nicht eingesehen werden“ (S. 33), und zum Schluss greife ich diese Problematik der nicht zugänglichen Gerichts- und Polizeiakten nochmals auf (S. 263). Die gesamte Problematik der Quellen habe ich explizit und ausführlich thematisiert (S. 35-37).

3. Die Rezensentin kritisiert, dass ich „alle bisherigen Arbeiten als ‚publizistisch‘“ abwerte oder sie ignoriere. Dies ist definitiv falsch, da ich alle einschlägigen Arbeiten zum Thema, selbst unveröffentlichte Abschlussarbeiten, besprochen und kritisch gewürdigt habe. Mir ist nur eine 2011 erschienene Monographie bekannt, die ich in meinem Buch habe aus verlagstechnischen Gründen nicht berücksichtigen können. Die Arbeit von Hatice Bayraktar, ist nicht wie von Guttstadt angegeben im Jahr 2010, sondern 2011 erschienen. Bayraktars einschlägige Veröffentlichungen von 2004 und 2006 wurden jedoch zitiert. In meinem Fall war die Manuskriptfassung, wie im Vorwort angegeben, im Jahr 2010 abgeschlossen.

Kritisch kommentiert wurden von mir die Arbeiten von Avner Levi und Rifat Bali hinsichtlich der in der Geschichtswissenschaft üblichen konzeptionellen, methodischen und quellenkritischen Standards. Als „publizistisch“ wurden sie nicht bezeichnet, obwohl dies durchaus zutreffend wäre (S. 16-18). Im Übrigen wurden sie auch als „verdienstvoll“ bezeichnet, da sie die wissenschaftliche Forschung zu dem Thema wesentlich vorangetrieben haben (S. 17 f.). Nochmal: Das Anliegen meines Buches war nicht die von diesen Autoren vorgenommene möglichst lückenlose Wiedergabe der Ereignisse. So steht es ausführlich in der Einleitung.

4. Die Rezensentin bemängelt „zahlreiche handwerkliche Fehler, Anachronismen und Ungereimtheiten“. Der Vorwurf bleibt pauschal. Guttstadts einziges Beispiel: Meine Zahlen seien „absurd“ und sie nennt meine Zitate von McCarthy und Keyder hinsichtlich der nichtmuslimischen Bevölkerungsanteile. Ich weise an mehreren Stellen meiner Arbeit darauf hin, dass Bevölkerungsstatistiken und Volkszählungen im Osmanischen Reich bzw. in der Republik Türkei nicht zuverlässig sind und somit auch der quantitative Umfang der jüdischen Flüchtlings- und Migrationsströme seit den Balkankriegen nicht verlässlich zu ermitteln war (z.B. S. 131 f, S. 161 Fußnote 19, S. 190, S. 191 Fußnote 142, S. 231, S. 270). In diesem Zusammenhang wurden von mir McCarthy und Keyder zitiert. Der Unterschied in den Zahlenangaben beider Autoren und damit die „Absurdität“ meiner Zahlenangaben liegen darin, dass McCarthy und Keyder unterschiedliche Zeiträume berücksichtigten (S. 203 f.). Außerdem: Welches Methodenverständnis offenbart Guttstadt hier? Denn was soll daran absurd sein, wenn die Unzuverlässigkeit der offiziellen türkischen Quellen ausdrücklich benannt und sie daher mit komplementären statistischen Erhebungen (aus jüdischen Quellen, Gesandtschaftsberichten) ergänzt und mit den Zahlen aus der Sekundärliteratur abgeglichen werden?

5. Die Rezensentin bemängelt, dass ich die türkischen Publikationen nicht nach ihrem antisemitischen Gehalt untersucht und mich bei der Darstellung allein mit der Sekundärliteratur und der diplomatischen Korrespondenz begnügt habe. Die Rezensentin weiß aber sehr genau, dass diese Forschung u. a. von Bali und Bayraktar geleistet wurde. Das hätte nur „wenig Neues“ (s. Punkt 1) ergeben.

6. Auch in ihren weiteren Kritikpunkten lässt die Rezensentin gründliche Lektüre und Fairness vermissen. Es reicht ihr nicht, wenn ich schreibe, dass in der kollektiv ausgeübten Gewalt das Raubmotiv möglicherweise eines der zentralen Handlungsmotive der Täter sei. Sie vermisst, dass ich dies nicht im Zusammenhang mit dem „Unabhängigkeitskrieg“ als Motiv der Muslime genannt habe. Außerdem würde ich die von mir selbst aufgeworfene Spur dann nicht weiter verfolgen. Hätte die Rezensentin meine Untersuchung etwas aufmerksamer gelesen, hätte sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass die wegen der schon genannten Quellenproblematik die Verifizierung dieser These nicht hat erfolgen können und damit auch nicht die expliziten „Raubabsichten“ der Täter in Thrakien. Wenn die Rezensentin einen Blick in die Kapitel 5 und 6 geworfen hätte, wäre ihr jedoch sicher nicht entgangen, dass ich das „Raubmotiv“ auf der Makroebene („Türkisierung der Wirtschaft“) implizit und explizit aufgegriffen habe. Zu diesem Einwand kann man also nur sagen, dass die Geschichtswissenschaft die Quellen als Grundlage nimmt. Wenn Guttstadt darüber hinausgehende Aussagen wünscht, so bleiben sie ohne Beleg.

7. Die Rezensentin stört sich an der Bezeichnung „fremdsprachig“ zur Charakterisierung von Bevölkerungsgruppen, die eine andere als die türkische Sprache sprechen. Im Buch werden auch Angehörige anderer Staaten, wie Engländer, Franzosen, Malteser, Russen usw. im Zusammenhang der chauvinistischen „Bürger-Sprich-Türkisch!“-Kampagnen als „fremdsprachig“ bzw. „anderssprachig“ bezeichnet. Das Gleiche betrifft auch den Ausdruck „Privilegien“, den ich im Zusammenhang der im Lausanner Vertrag gewährten Minderheitenrechte benutze. Minderheitenrechte sind Sonderrechte. Das ist in der Geschichtswissenschaft wertfrei gemeint. Die darin enthaltene Insinuation, die Wortwahl sei diskriminierend (gemeint), geht an der Sache vorbei.

8. Nur in einem Punkt hat Guttstadt recht: dass Cevat Rifat Atilhan an dem missglückten Mordkomplott an Ahmet Emin Yalman (einem dönme) verwickelt war. Aus meinen Quellen gingen keine Namen hervor. Deswegen habe ich statt dönme Jude geschrieben. Auch Sabiha Sertel habe ich als Jüdin statt dönme bezeichnet. Zugestanden, das war unkorrekt. Andererseits: Was bedeutet die Korrektur Guttstadts? Wenn ein türkischer Antisemit einen dönme ermordet, dann tötete er ihn als „Juden“, und sei es als „Kryptojuden“, wie Guttstadt selbst schreibt.

Mein Buch sollte „der große Wurf“ sein, schreibt Guttstadt. Wo steht das? Welche Aussage kann sie dafür anführen? Handelt es sich um einen erneut haltlosen polemischen Einwurf? Guttstadt arbeitet seit Jahren über Juden in der Türkei und hat 2008 ihre Dissertation auf diesem zuvor allzu lange vernachlässigten Gebiet vorgelegt. Im deutschsprachigen Raum sind es nur wenige, die das Feld beackern. Sollte nicht Platz für drei auf diesem Felde sein.


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