Cover
Titel
Cortison. Geschichte eines Hormons, 1900–1955


Autor(en)
Haller, Lea
Reihe
Interferenzen 18
Erschienen
Zürich 2012: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 31,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander von Schwerin, TU Braunschweig

Im September 1948 injizierte ein amerikanischer Arzt die Laborsubstanz „Compound E“ einer jungen Frau, die an schwerer rheumatischen Arthritis litt, bettlägerig war und sich kaum noch bewegen konnte. „Nach einer Woche Behandlung nahm sie ein Taxi, fuhr in die Stadt und machte drei Stunden lang Einkäufe“, wird berichtet (S. 191). Aus diesem Stoff sind Wunderdrogen gemacht, im doppelten Sinne: Der biochemische Stoff mit der Industriebezeichnung „Compound E“ machte nach diesem Ereignis am Krankenbett als „Cortison“ Furore. Dass sich seitdem um Cortison der Mythos einer Wunderdroge rankt, hat seinen Grund allerdings nicht nur in dessen Wirkung, sondern auch in der medialen Verarbeitung der Vorgänge am Krankenbett zu einem Vorgang der Wunderheilung. So findet sich Cortison im Pantheon der sogenannten therapeutischen Revolution wieder, neben Antibiotika oder Psychopharmaka, mithin Arzneistoffen, die der arzneimittel-basierten Medizin im 20. Jahrhunderts zum Durchbruch verhalfen. Und trotz der inzwischen bekannten massiven unerwünschten „Nebenwirkungen“ genießt Cortison auch heute noch einen Ruf als eine Art Allheilmittel, als ein effektiver, entzündungshemmender pharmazeutischer Wirkstoff, der unzählbare Kranke, die insbesondere unter rheumatischen Erkrankungen leiden, von starken Schmerzen zu befreien vermag und ihnen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erleichtert oder gar wieder ermöglicht.

Eine solche Erfolgsgeschichte wissenschaftlichen-medizinischen Fortschritts fordert heraus, genauer unter die Lupe genommen zu werden. Es handelt sich nicht zuletzt um Stoffe, die über die Medizin hinaus das gesellschaftliche Zusammenleben zu verändern in der Lage sind. In ihrem Buch „Cortison“ geht es der Autorin indes nicht um die Wirkungsgeschichte des Cortisons. Das Buch nimmt den Mythos des wissenschaftlich-technischen Fortschritts von einer anderen Seite in die Mangel, indem es die lange Vorgeschichte untersucht und zeigt, dass die Entwicklung des Arzneimittels Cortisons nicht einer linearen Entdeckungsgeschichte folgt, wie wir uns geplanten und heroischen medizinischen Fortschritt gerne vorstellen würden. Haller erzählt die Geschichte eines Medikaments, das „niemand geplant, ersehnt oder erfunden hat“ (S. 13), und das macht sie auf knappen 270 Seiten vorbildlich. „Cortison“, als Dissertation an der ETH Zürich entstanden, gehört zu den erfrischenden Highlights der deutschsprachigen Wissenschaftsgeschichte der letzten Jahre: tiefgründig und zugleich spannend geschrieben.

Die Autorin hinterfragt die übliche Erfolgsgeschichte von der sogenannten therapeutischen bzw. pharmazeutischen Revolution. Dazu legt sie die Schichten historischer Kontingenz und struktureller Voraussetzungen frei, um zu verdeutlichen, dass Cortison nicht das Ergebnis planenden Handelns – weder der beteiligten Forscher, staatlicher Forschungslenker noch von Industriemanagern. Es war aber auch nicht einfach ein glücklicher Zufall. Solche Erzählungen unerklärlicher Glücksmomente, die gerade unter Wissenschaftlern beliebt sind, lösen die Geschehnisse im Labor von ihrem gesellschaftlichen Kontext und entziehen sie damit der Reflexion. Es stimmt zwar, dass verschiedene Faktoren glücklich zusammenkamen, aber diese Konstellation war doch nicht zufällig, sondern ein Resultat der gesellschaftlichen Verstrickung der Forschung.

Zeitlich ausholend und auf verschiedenen Ebenen setzt das Buch Schritt für Schritt das Bild der heterogenen Wissenskonstellation zusammen, die die „Entdeckung“ des Cortisons und seiner Wirkung ermöglichte. Weil diese Ermöglichungsbedingungen über die Wissenschaft hinausreichten, spricht Haller auch von einer „Wissensgeschichte“ des Cortisons (S. 16). Zwar konzentriert sich die Autorin in ihrer Darstellung im Wesentlichen auf die Vorgänge in der akademischen und industriellen Forschung, bringt diese aber immer wieder geschickt und überzeugend in Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung. Dabei bekommen wir es mit einer faszinierenden Dimension der Wissenschaft zu tun, nämlich ihren materiellen Voraussetzungen. Die lange Vorgeschichte des Arzneimittels wird so zu einer Geschichte, die von den engen Beziehungen von Wissenschaft, Technik, Industrie und gesellschaftlichen Anforderungen handelt.

Das Buch ist übersichtlich in vier Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel „Fördern und hemmen: Visionen hormoneller Steuerung“ setzt im letzten Drittel des 19. Jahrhundert ein und macht den Leser und die Leserin mit den Anfängen der nur teilweise erforschten Hormonforschung bekannt. Voraussetzung dafür war die Einführung der experimentellen Methode in die Lebenswissenschaften. Darunter darf man nicht nur eine akademische Entwicklung verstehen. Gerade der Fall der Hormonforschung zeigt, dass die Experimentalisierung stark durch den medizinischen Anwendungsbezug vorangetrieben wurde. Ein Schauplatz dieser Entwicklung war die Endokrinologie, die in vielfach blutigen Tierversuchen nach den lebensbestimmenden Substanzen fahndete. Der Vorstellung, dass „biologische Wirkstoffe“ das Körpergeschehen regulierten, lag ein Körper- und Krankheitskonzept zugrunde, das im Widerspruch zu dem in der zeitgenössischen Forschung vorherrschenden Konzept des Nervenkörpers stand. Namhafte Vertreter der neuen Forschungsrichtung, wie der Engländer und Schöpfer des Terminus’ „Hormon“ Ernest Starling, benutzten das Konzept des Hormonkörpers, um daraus Visionen für eine neue, auf chemischer Regulierung basierenden Medizin abzuleiten. Diese Medizin sollte „neue technowissenschaftliche Lösungsmöglichkeiten für pathologische Probleme“ konzipieren, indem sie die Natur imitiert (S. 69).

In Hallers Argumentation kommt den mit der Hormonforschung einhergehenden Körper- und Krankheitskonzepten aufgrund ihrer vermittelnden Funktion zwischen der Arbeit im Labor und den Anwendungszielen, die sich im Laufe der Zeit immer wieder ändern sollten, eine zentrale Funktion zu. So stand die Vision der medizinischen-chemischen Regulierbarkeit des Organismus’ am Beginn einer biologischen Pharmazeutik mit all ihren Konsequenzen. Zudem bildete das chemisch-regulative Körperkonzept in der Folgezeit einen wichtigen Bezugs- und Ansatzpunkte für politische Bestrebungen, die auf die Kontrolle oder Manipulation der Körper der Staatsbürger abzielten.

Die folgenden Kapitel setzen den Gedankengang genau an dieser Stelle fort. Zum einen werden die wissenschaftlichen Bemühungen nachgezeichnet, die chemische Konstitution der Hormone, die lange nur als Extrakte im Labor zur Verfügung standen, aufzuklären. Zum anderen können die Leser und Leserinnen die beeindruckenden Veränderungen in den Körperkonzepten und Visionen nachvollziehen, die gleichermaßen die Laborexperimente anleiteten und von diesen inspiriert wurden. Das zweite Kapitel „Vom Extrakt zum organischen Molekül“ veranschaulicht, dass nicht nur die Inhalte der Forschung über die Anwendbarkeit wissenschaftlichen Wissens bestimmen, sondern die Anwendungsziele der biomedizinischen Forschung von Fall zu Fall auch zu einer „Revision der theoretischen Grundlagen“ führen können (S. 83). Im Mittelpunkt der Geschichte rücken damit Wissenschaftler in den USA und an der ETH Zürich und verschiedene Chemiebetriebe, an erster Stelle die Schweizer Pharmafirma Ciba in Basel. Die diversen Akteure fanden trotz unterschiedlicher Interessen zusammen und konnten, obwohl sich die Ziele der Kooperationen immer wieder änderten, in den folgenden Jahrzehnten so etwas wie Kontinuität in der Hormonforschung herstellen, die letztlich zu dem eingangs erwähnten Therapieerfolg führte. Der Autorin geht es dabei darum, eine Kontinuität zu beschreiben, die nicht als teleologisch bezeichnet werden kann. „Schaut man sich die einzelnen Schritte [...] im jeweiligen Kontext an, so waren sie keineswegs immer die logische Vorbereitung des nächsten Schrittes, sondern Verfahren, die unvorhergesehene Konsequenzen hatten ...“ (S. 75) Eine Voraussetzung für eine solche Kontinuität, die sich quasi stolpernd den Weg durch die Geschichte bahnt, waren zum Beispiel Anpassungsleistungen der Akteure: die Ausbildung einer bestimmten Kultur des Unternehmertums auf Seiten der Hochschulchemiker und eines bestimmten Begriffs von Wissenschaftlichkeit innerhalb der Industrie.

Das dritte Kapitel verfolgt die Geschichte einige der verschiedenen Substanzen, von denen sich Unilabore und Industrie Erfolg erhofften. Ihre Geschichte ist nicht zu trennen von dem Diskurs über die Körperregulierung, der ab den dreißiger Jahren vor dem Hintergrund der tiefgreifenden politischen Umbrüche in Europa und dann des Zweiten Weltkriegs in verschiedene Richtungen hin aufgeladen wurde. Wissenschaftliche Erklärungen von Notstands- und Stressreaktionen des Organismus’ erhielten mit Blick auf die Leistungsfähigkeit von Piloten und Soldaten eine aktuelle politische Brisanz. Folglich werden wir in die Geschichte des „General Adaption Syndromes“ eingeführt und dessen Bedeutung für die staatliche Forschungsförderung. Mit Auftreten des Staates kumulierte die Nebennierenhormon-Forschung in einem massiven Interesse an „Biological Engineering“ (S. 169), das biopolitisch gesehen weit über medizinische Interventionsziele hinausging. Aber auch die Forschungslaboratorien der ETH und der Ciba befassten sich mit den Konzepten physiologischer Stressbewältigung und richteten sich damit letztlich sehr anpassungsfreudig auf neue Wege der „Pharmapolitik“ aus (S. 148). Statt mit den Hormonen aus dem Industrielabor weiterhin Arzneistoffe zur Behandlung von seltenen Mangelkrankheiten zur Verfügung stellen zu wollen, nahmen die akademisch-industriellen Kooperationen nun die Schockbehandlung ins Visier, die sie geradewegs und erstaunlich parallel zur staatsfinanzierten Forschung in England und den USA in die Kriegsforschung führte. Auch vor diesem Hintergrund physiologisch-pharmakologischer Forschung nannte man den Luftkrieg über Europa einen „physiologischen Krieg“ (S. 162). Zwischen Mangelkrankheiten, Stressreaktionen von Piloten, Extrembelastung und Körper-Enhancement verfolgt die Autorin zielstrebig den Faden bis zu jenem Moment im Jahr 1948, als eben nicht ganz zufällig Cortison „geboren“ wurde.

Das vierte Kapitel „Normalisierung und Kontrollverlust: Cortison als ambivalente Droge“ führt in die fünfziger und sechziger Jahre, in denen nicht mehr kriegsbedingte Extrembelastungen, sondern „Zivilisationskrankheiten“ mit allen ihren volkswirtschaftlichen Folgen zunehmend gesundheitspolitische Bedeutung erlangten. Es wird damit deutlich, wie sehr die verschlungene Vorgeschichte der physiologisch-chemisch-pharmazeutischen Forschung und die aktuelle gesellschaftliche Lage gemeinsam die Vorbedingung formten für den Erfolg des Cortisons. Eine weitere Vorbedingung bestand in der Beschaffung geeigneter Ausgangssubstanzen für die chemische Synthese und Großproduktion des Hormonderivats. Die Geschichte führt nun über Missionare und Hobbybotanikern nach Südamerika und ins koloniale Afrika und mündet in einen internationalen Wettlauf zwischen verschiedenen Firmen um die Suche und Isolierung einer möglichen Ausgangssubstanz in der lokalen Flora. Plastischer und eindringlicher kann die Ressourcenökonomie einer auf biologischen Substanzen und den mit diesen verbundenen Wirkversprechen setzendenden Pharmaindustrie nicht beschrieben werden. Am Ende stießen die Pharmaagenten auf Yams und Sisal. Die Cortison-Produktion wurde damit an die Sisal-Plantagenwirtschaft und den internationalen Rohstoffhandel mit allen seinen geopolitischen und ökonomischen Restriktionen angebunden.

Die Geschichte des Cortisons ist eine auch allgemeinhistorisch anregende und hochspannende Geschichte, da sie uns Interdependenzen zwischen Wissenschaft, Industrie und Gesellschaft vor Augen führt. Wissenschaftsgeschichte präsentiert sich hier nicht als ein abgetrenntes Interessengebiet innerhalb der Geschichtswissenschaften, sondern mit dem Potenzial, unser Verständnis von Geschichte zu bereichern. „Cortison“ ist zugleich eine höchst aktuelle Geschichte, da sie von biologischen Wirkstoffen – heute: „Biologics“ oder „Biologicals“ – handelt, jenen Substanzen und Stoffen, die im 20. Jahrhundert eine außergewöhnliche Karriere erlebt haben und im Zentrum des heutige biotechnologischen Zeitalters stehen. Leider wissen wir noch viel zu wenig von den Besonderheiten dieser Stoffe, den an sie gerichteten gesellschaftlichen Erwartungen, den von ihnen beförderten Körperpolitiken und den ökonomischen wie auch technisch-industriellen Bedingungen ihrer Verbreitung.