O. Figes: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne

Cover
Titel
Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne. Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors


Autor(en)
Figes, Orlando
Erschienen
Berlin 2012: Hanser Berlin
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Schnell, Osteuropäische Geschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Im Jahre 1935 treffen sich Swetlana, die Tochter einer Moskauer Intellektuellenfamilie und Lew, während der Revolution verwaister Spross einer Adelsfamilie, und verlieben sich ineinander. 1941 wird Lew zum Militärdienst eingezogen und gerät in den ersten Kriegswochen in Gefangenschaft. Sie führt ihn schließlich nach Buchenwald. In den letzten Kriegstagen kann er während eines der „Todesmärsche“ entkommen. Er trifft auf US-Amerikaner, die dem studierten Physiker anbieten, sein Leben in den Vereinigten Staaten fortzusetzen. Lew lehnt ab. Er will nach Hause, zu Swetlana. In der Sowjetunion wird Lew wie viele andere sowjetische Kriegsgefangene als vermeintlicher Verräter zu Zwangsarbeit verurteilt und nach Petschora geschafft, wo er bis 1954 inhaftiert bleibt. 1946 gibt Lew einer Verwandten ein Lebenszeichen und Swetlana nimmt Kontakt mit ihm auf. Sie unternimmt mehrere Reisen nach Petschora, und es gelingt ihr sogar mehrfach, Lew illegal im Lager zu besuchen. Vor allem aber: Sie schreiben sich in all den Jahren ihrer Trennung hunderte von Briefen, die kurz vor dem Tode der beiden der Menschenrechtsorganisation Memorial übergeben werden. Diese Briefe stellen eine einmalige Quelle dar – nicht nur wegen ihres „Echtzeit“-Charakters, ihrer Kontinuität und des Zeitraums, den sie umfassen, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sie an der Zensur vorbeigeschmuggelt wurden, so dass Lew relativ offen über sein Lagerleben berichten konnte. Diese Geschichte ist ebenso tragisch wie märchenhaft, da sie letztlich ein „happy end“ hatte. Nach seiner Entlassung lebten Lew und Swetlana miteinander, bis sie 2008 und 2010 starben. Das ist in gewisser Weise nicht weniger exzeptionell als der Briefwechsel selbst, denn in der Regel zerbrachen Beziehungen eher an der Gulagerfahrung. Die Rückkehrer taten sich schwer mit dem Leben in der sowjetischen Freiheit und die Gesellschaft machte es ihnen nicht leicht.

Orlando Figes hat sich des Briefwechsels von Lew und Swetlana angenommen und ein bewegendes Buch über das Leben zweier Menschen in Stalins Sowjetunion geschrieben. Seine Darstellung ist ganz auf die Protagonisten des Briefwechsels konzentriert und chronologisch aufgebaut. Sie beginnt mit der Schilderung des biographischen Hintergrundes der beiden Protagonisten und verdichtet sich mit dem Beginn des Briefwechsels im Jahre 1946. Im Grunde sind es allein die Briefe, die das Buch strukturieren und die der Autor oft und ausgiebig zitiert. So ergibt sich ein Hybrid aus kommentierter Edition und Briefroman. Die Sowjetunion und der Gulag sind nur Hintergrund und Figes sagt dazu nur so viel, wie für das Verständnis der Briefinhalte und Situationen, in denen sich Lew und Swetlana jeweils befinden, notwendig ist. Im Vordergrund stehen ganz die Gefühle der Briefschreiber, die Art und Weise, wie sie ihnen Ausdruck verliehen, aufeinander reagierten und sich ihre Beziehung entwickelte. Dass diese Beziehung auch stilisiert und konstruiert wurde, dass dies – wie Jörg Baberowski einmal gesprächsweise bemerkte – ganz im klassischen Leidensstile der russischen Intelligenz geschah und die Frage der emotionalen Authentizität des Materials erst einmal aufgeworfen werden müsste, kümmert Figes nicht. Er lässt Lew und Swetlana einfach sprechen und begleitet sie als kundige Stimme aus dem „Off“.

Man kann es auch positiv fassen: Figes treibt eine Darstellungsform auf die Spitze, die er auch schon in den „Flüsterern“ angewandt hatte und die schon in früheren Werken, wie der „Tragödie eines Volkes“, ein wichtiges Element waren: Geschichte anhand oder durch Biographien und Erfahrungen einzelner Menschen sichtbar und fassbar zu machen, das Große im Kleinen zu zeigen.

Tatsache ist, dass man eine ganze Menge über die Sowjetunion, den Gulag, das stalinistische Herrschaftssystem und die sowjetische Gesellschaft erfährt, obwohl die entsprechenden Informationen nur sporadisch eingestreut werden. Für die Forschung am interessantesten ist zweifellos, was Lew aus Häftlingsperspektive über das Leben im Gulag berichtet. Nun ist gerade dieser Bereich im Briefwechsel nicht gerade überrepräsentiert. Schließlich schrieb Lew an eine Person, auf die er in einer zwangsweise normalisierten Ausnahmesituation all seine Gefühle konzentrierte und mit der er die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit verband – nicht für kommende Historikergenerationen. Und aus Lews Briefen, zumindest soweit Figes sie uns zugänglich macht, erfährt man kaum etwas, das man nicht schon wüsste. Dennoch verdient das eine oder andere hervorgehoben zu werden.

Da sind zunächst einmal die „Nischen“ des Gulag, privilegierte Positionen innerhalb des Lagerlebens, auf denen man nicht nur von schwerer Arbeit verschont blieb, sondern auch andere Vorteile erlangen konnte. Nun weiß man schon länger, dass es nicht nur Kriminelle waren, die sich die Positionen sicherten, denn die Lagerverwaltungen waren bis zu einem gewissen Grade auf die Fertigkeiten und Kenntnisse von Experten angewiesen. Als Physiker konnte sich Lew im Lager nützlich machen – beinahe unentbehrlich machte sich der Naturwissenschaftler Strelkow, wenn er für die Lagerverwaltung Techniken zur Holztrocknung und andere Verfahren entwickelte. Dessen Labor und seine Mitarbeiter waren fast so etwas wie eine andere Welt innerhalb des Lagers, von der Lew in hohem Maße profitierte.
Ein anderer interessanter Aspekt ist die Entgrenzung des Gulags. Ehemalige Häftlinge, die ihren Verbannungsort nicht verlassen durften und außerhalb des Lagers weder Arbeit noch Unterkunft fanden, lebten und arbeiteten dort oft einfach weiter, zum großen Teil sogar in der „Zone“ selbst. Weil „freie“ Arbeiter im Lager und umgekehrt Häftlinge außerhalb des Lagers arbeiteten, wurde der Stacheldraht im höheren Sinne zur Makulatur – die Grenzen von Lager und Umwelt verschwammen bis zur Unkenntlichkeit. Eben dies ermöglichte den Briefschmuggel und die Besuche Swetlanas im Lager. Vielleicht sollte man besser sagen: der Gulag schwappte über seine symbolischen Grenzen und „gulagisierte“ seine Umgebung. Was die Häftlinge am Ort hielt, war weniger der Zaun als vielmehr die Entfernung von geeigneten Fluchtorten.

Auch hinsichtlich der Wachmannschaften werden wir mit einem schillernden Bild konfrontiert. Auf der einen Seite lesen wir von Alkoholexzessen und willkürlicher Gewalt gegen Häftlinge, die ausgeplündert und kostbarer Postsendungen beraubt wurden. Auf der anderen Seite aber gab es auch viele Möglichkeiten, Wachleute zu bestechen und Ausnahmen vom Lagerregime zu arrangieren. Schließlich war mancher Wachmann bereit, in bestimmten Situationen einfach beide Augen zu schließen und es beispielsweise mit der offiziellen Besuchszeit nicht so genau zu nehmen.

Ganz nebenbei erfahren wir an Swetlanas Beispiel darüber hinaus, was einerseits außerhalb der Lager alles getan werden musste, um den Alltag zu bewältigen, und andererseits was alles getan werden konnte und wie weit Stalins Sowjetunion von totaler Kontrolle entfernt war.

Um es noch einmal zu sagen: all das ist nicht neu, aber gerade die knappe Beiläufigkeit, mit der es angedeutet wird, verfehlt ihre Wirkung nicht und gibt dem Buch über die märchenhafte Liebesgeschichte hinaus einen gewissen Mehrwert.

Sicher, man hätte dieses Buch anders schreiben und von dem Quellenmaterial vielleicht anderen, systematischeren Gebrauch machen können. Aber das mögen andere Historiker tun, die weniger als Orlando Figes zum Erzählen geboren sind.

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