A. Etges u.a. (Hrsg.): American Dream?

Titel
American Dream?. Eine Weltmacht in der Krise


Herausgeber
Etges, Andreas; Fluck, Winfried
Reihe
Nordamerikastudien, Bd. 30
Erschienen
Frankfurt/Main 2011: Campus Verlag
Anzahl Seiten
290 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Schild, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

In seinem Eingangsstatement bei der ersten Wahlkampfdebatte mit Präsident Barack Obama berichtete der Republikanische Herausforderer Mitt Romney von einem Ereignis, das seine Frau tags zuvor erlebt hatte: Bei einer Wahlveranstaltung sei eine Frau mit einem Baby im Arm zu ihr gekommen und habe gesagt, dass ihr Mann in drei Jahren vier Halbtagsjobs gehabt habe. Die letzte Anstellung habe er gerade verloren; auch das Haus habe die Familie aufgeben müssen. Könne der Kandidat Romney helfen?

Die mit acht Prozent recht hohe Arbeitslosenquote spielte im Herbst 2012 im amerikanischen Wahlkampf eine große Rolle. Romney warf Präsident Obama vor, dass dessen verfehlte Steuer-, Sozial- und Wirtschaftspolitik für eine nationale Krise verantwortlich sei. Die Vorstellung, dass Amerika eine „Weltmacht in der Krise“ sei, ist auch der rote Faden, der die dreizehn Aufsätze des Buches „American Dream?“ zusammen hält. Die Beiträge, die auf eine akademische Ringvorlesung an der Freien Universität Berlin zurückgehen, behandeln eine Reihe unterschiedlicher Krisensymptome der derzeitigen amerikanischen Wirtschaft, Politik, Medienwelt und Gesellschaft.

Der Begriff „Krise“ wird in den Beiträgen nicht einheitlich verwendet. Manche Autoren wie Lore Anne Viola analysieren langfristige krisenhafte Entwicklungen der Außen- und Sicherheitspolitik, während andere wie Margit Mayer und Thomas Greven die aktuellen Phänomene der Finanzmarktkrise und des Aufkommens der „Tea Party“ thematisieren.

Mayer erläutert, wie der Versuch, Wohneigentum für weitere gesellschaftliche Gruppen erschwinglich zu machen, zum Auslöser der Finanzkrise wurde. Unter der Annahme, dass der Wert einer Wohnimmobilie immer nur steigen könne, beantragten (und erhielten) viele Personen, die nur über wenig Eigenkapital verfügten, Immobilienkredite. Die Banken bündelten diese Kredite und verkauften sie weiter. In dem Moment, da Amerika in eine Rezession glitt, die Arbeitslosigkeit stieg und die Häuserpreise sanken sahen sich die Hausbesitzer mit dem Problem konfrontiert, ihren Gläubigern mehr Geld zu schulden, als das Haus auf dem Markt wert war. Mayer schätzt, dass dies bei einem Viertel aller Schuldner der Fall war. Von Arbeitslosigkeit betroffene Schuldner konnten zunehmend ihre Kredite nicht bedienen; Banken in Amerika und im Ausland, die die gebündelten Kredite in ihrem Bestand hatten, mussten Abschreibungen vornehmen. Die Obama-Administration und der Kongress reagierten darauf mit einer Finanzspritze in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar. In Not geratene Familien sollten ihre Häuser nicht wegen vorübergehend ausbleibender Kreditzahlungen verlieren. Eine Familie, der es gelingt das Haus in der Finanzmarktkrise zu halten, wird sich in den nächsten Jahren an voraussichtlich wieder steigenden Immobilienpreisen erfreuen können.

Im Beitrag von Thomas Greven über die „Tea Party-Bewegung“ tauchen einige der von Mayer geschilderten Probleme in einer für einen europäischen Leser überraschenden Art wieder auf. Greven sieht die „Tea Party“ sehr kritisch. Sie ist in seinen Augen nicht einfach nur eine konservative „grassroots“-Bewegung. Er positioniert sie „in der Nähe des politischen Extremismus oder des Verfolgungswahns.“ Die „Tea Party“ besitze Berührungspunkte mit rassistischen Organisationen. Für das Funktionieren der amerikanischen demokratischen Institutionen sei ebenso bedenklich, dass sich der „Tea Party“ zugehörig fühlende Kongressabgeordnete und Senatoren politischen Kompromisslösungen gewöhnlich verschließen. Zu einer der grundlegenden Forderungen der „Tea Party“ gehört auch, dass der Staat in Not geratenen Hausbesitzern, die ihre Immobilie zu verlieren drohten, nicht helfen dürfe. Greven erklärt diese Position damit, dass es sich bei den bedrohten Schuldnern zumeist um Schwarze und Latinos handele, für die die weißen, besser situierten „Tea Party“ Anhänger kein Mitgefühl besitzen.

Die wirtschaftlichen Probleme führen langfristig auch zu einem internationalen Einflussverlust der Vereinigten Staaten. Dies wird im Beitrag von Lora Anne Viola über das Ende des „American Century“ untersucht. Amerikas außenpolitische Führungsrolle habe seit 1945 auf einem Übereinkommen zwischen Washington und den Hauptstädten der Verbündeten beruht, dass Amerika die Hauptlast der Verteidigung trage und im Gegenzug politische Führungsaufgaben übernehme. Die Verfasserin konstatiert zwei Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die diesen „grand bargain“ in Frage stellen: einen Niedergang der US-amerikanischen Wirtschaftsleistung und das Aufkommen neuer Mächte, die mit Amerika befreundet sind wie Japan und Deutschland sowie den Aufstieg des potentiellen Rivalen China. Im Verhältnis zu Asien erscheint Amerika in den Augen der Verfasserin heute bereits als Bittsteller. Obamas „wirtschaftlich motivierte Asienreise im November 2010 verdeutlicht die Grenzen amerikanischer Einflussnahme“ (S. 164). Ob Amerikas relativer Abstieg umkehrbar ist, könne einstweilen noch nicht beantwortet werden. Die Verfasserin will dies nicht ausschließen, sie hält es aber für wenig wahrscheinlich. Die Immobilienkrise und die Debatte um das Gesundheitssystem „lassen den American Dream immer mehr wie eine Illusion erscheinen und stellen so auch die Überzeugungskraft der USA in Frage“. (S. 164) Eine der zentralen internationalen Herausforderungen wird sein, wie ein weniger dominantes Amerika in Zukunft seine Interessen und Vorstellungen im Bereich der Ressourcensicherung und im Umweltschutz durchzusetzen versuchen wird.

Der Historiker sieht manches, was dem Zeitgenossen als unlösbares Problem erscheint, mit einer gewissen Gelassenheit, weil alles schon einmal dagewesen ist. In diesem Sinn stellt der Beitrag des Herausgebers Andreas Etges ein Gegengewicht zu den zahlreichen Krisenszenarien dar, die der Band vereint. „Der lange historische Blick mag manche Krisenerscheinung ein wenig relativieren und entdramatisieren“ (S. 68), so Etges. Die Finanzmarktkrise wird eines Tages überwunden sein; keiner der Anhänger der Tea Party hat sich 2012 als Republikanischer Präsidentschaftskandidat durchsetzen können.

Während jeder einzelne Beitrag des Bandes einen interessanten und wichtigen Baustein zur Beschreibung der gegenwärtigen Lage Amerikas darstellt, überzeichnet der Band in seiner Gesamtheit doch die Situation in den USA, weil bewusst nur die Schattenseiten beschrieben werden. Aber kein Land besteht nur aus Schatten. Es fehlen Hinweise auf die Dynamik und Wandelbarkeit des Landes sowie auf die Attraktivität Amerikas für kreative Köpfe. Hätte man einen ähnlichen Band vor vierzig Jahren herausgegeben, wäre das zentrale Element der Krisendiagnostik die Spaltung der Gesellschaft über die Politik Präsident Richard Nixons und den Vietnamkrieg gewesen. Heute ist eine solch grundlegende Spaltung, die den inneren Zusammenhalt des Landes gefährden könnte, nicht zu erkennen. Damit erscheint die Zukunft der Vereinigten Staaten weit weniger bedroht als die der Europäischen Union. Dass Amerika auch weiterhin zukunftsfähig ist, hat nicht zuletzt die Verleihung der natur- und wirtschaftswissenschaftlichen Nobelpreise 2012 erneut vornehmlich an US-Forscher eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Der Republikanische Präsidentschaftskandidat Romney betonte im Wahlkampf wiederholt, dass der amerikanische Traum für ihn noch nicht vorüber sei. Der Frau mit dem Baby im Arm konnte er zurufen: „And the answer is yes, we can help.” In dieser optimistischen Auffassung unterscheidet er sich nicht vom Amtsinhaber Barack Obama.

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