Titel
Lohn und Leistung. Lohnformen im Gewerbe 1450-1900


Autor(en)
Reith, Reinhold
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beihefte 151
Erschienen
Stuttgart 1999: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
476 S.
Preis
€ 92,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Gorissen, Fakultaet fuer Geschichtswissenschaften, Universitaet Bielefeld

Die wirtschafts- und sozialhistorische Forschung in der Bundesrepublik ist in den letzten drei Jahrzehnten durch wachsende Spezialisierung gekennzeichnet. Dissertationen und Habilitationsschriften behandeln - wie ein Blick auf die Titel der einschlägigen Schriftenreihen eindringlich vor Augen führt - meist einen räumlich und thematisch engen Gegenstand für einen überschaubaren Zeitraum, selten mehr als ein Jahrhundert. Die einerseits noch weithin ungebrochen akzeptierte klassische Epochengliederung unterstreicht diese Entwickung ebenso wie auf der anderen Seite aktuelle historiographische Trends, die unter dem Etikett der "Mikrogeschichte" firmieren.

Die hier anzuzeigende Arbeit von Reinhold Reith über Lohnformen in der gewerblichen Produktion zwischen spätem Mittelalter und ausgehendem 19. Jahrhundert, eine 1997 an der Technischen Universität Berlin angenommene Habilitationsschrift, fällt in dieser Hinsicht in jeder Form aus dem Rahmen des üblichen. Zunächst ist der lange Zeitraum von mehr als einem halben Jahrtausend, das die Studie behandelt, bemerkens- und bewundernswert. Dann zeichnet sich die Arbeit außerdem durch eine außerordentliche thematische Breite aus: Reith behandelt Lohnformen "im Gewerbe" in einem wirklich umfassenden Sinn, er beschränkt sich nicht - wie sonst oft üblich - auf eine Branche, sondern mit allen Bereichen der Güterproduktion "mit Ausnahme der Land- und Forstwirtschaft, der Jagd und Fischerei sowie der nicht-landwirtschaftlichen Rohstoffproduktion (also besonders des Bergbaus)" (S. 19). Der Titel der Arbeit stellt also keine - wie sonst vielfach üblich - unzulässige Generalisierung einer spezialisierten, bestenfalls exemplarisch argumentierenden Studie dar, sondern beschreibt ganz nüchtern den außerordentlich breiten Themenhorizont des Buches.

Gegenstand von Reiths Studie sind nicht die Löhne gewerblicher Arbeit im Sinne der quantitativ orientierten Lohngeschichte, die sich für die schwankende Lohnhöhen, für Fragen der sich wandelnden Kaufkraft und des Lebensstandards interessiert, sondern die Formen, in denen abhängig Beschäftigte ihren Lohn erhielten. Hierbei unterscheidet der Autor in Anlehnung an Arbeiten der Historischen Schule der Nationalökonomie (vor allem Otto von Zwiedenick-Sündenhorst) eine Fülle von Lohnformen unter denen die Differenzierung zwischen Zeit- und Stücklohn auf der einen Seite sowie zwischen monetären und nicht-monetären Lohnformen auf der anderen Seite die bedeutendsten sind. Lehnt sich Reith einerseits hinsichtlich der Systematik der verschiedenen Lohnformen an die Arbeiten der Historischen Schule an, so kritisiert er andererseits überzeugend die Standortgebundenheit der Autoren des frühen 20. Jahrhunderts, die sich die Frage nach Lohnformen angesichts damals aktueller Debatten um den Akkordlohn stellten. Dies, so der zentrale Vorwurf Reiths an die Adresse von Bücher, Schmoller und Sombart, habe zu der unbegründeten Annahme geführt, leistungsgebundene Lohnformen, vor allem in der Form des Stücklohn, hätten in vorindustrieller Zeit keine nennenswerte Rolle gespielt.

Die Frage nach der Bedeutung des Leistungslohns und damit die Analyse der historischen Formen der Beziehung zwischen Lohn und Leistung besitzt, so der Autor, weitreichende Relevanz, läßt sie sich doch "als heuristisches Instrument in bezug auf die Wirtschaftsmentalität(en) benutzen." (48) Den hier angesprochenen Zusammenhang zwischen der Mentalität der Wirtschaftssubjekte und den jeweils historisch vorfindlichen Lohnformen entfalteten wiederum zuerst die Autoren der Historischen Schule der Nationalökonomie. Für Schmoller herrschten bis ins 19. Jahrhundert hinein unter den Erwerbstätigen Bedürfnislosigkeit und ein System des Herkommens, den "Erwerbstrieb" sah er dagegen als Phänomen, das sich erst mit der Industrialisierung entwickelt habe. Ganz ähnlich ging auch Sombart von der Dominanz der "Idee der Nahrung" in vorindustriellen Gesellschaften aus, die durch einen Mangel an "kalkulatorischem Sinn" sowie durch Faulheit, Trägheit und Indolenz gekennzeichnet gewesen sei. Die Erweckung des "Erwerbssinns" sei dann erst im 19. Jahrhundert vor allem durch lohnpolitische Massnahmen gelungen, unter denen die konsequente Entlohnung der Arbeit im Verhältnis zu genau bemessenen Leistungen, also im Akkord-, Prämien- oder Stücklohn, die entscheidende Rolle gespielt habe.

Diese Vorstellung einer grundsätzlich anders gearteten vorindustriellen Wirtschaftsmentalität und die konsequente Historisierung des modernen Wirtschaftsgebarens, wie sie von Vertretern der Historischen Schule der Nationalökonome vorgetragen wurde, übernahm die moderne sozialgeschichtliche Forschung im wesentlichen unhinterfragt. Noch die Protoindustrialisierungsforschung geht von der Wirkungsmächtigkeit des "Nahrungsprinzips" sowohl im städtisch-zünftischen Gewerbe als auch in der ländlichen Hausindustrie aus. Dies sei jedoch - so Reith - insofern nicht gerechtfertigt, als eine systematische Analyse der empirisch vorfindlichen Lohnformen bislang noch nicht Angriff genommen worden sei, mithin auch die Berechtigung der Dichotomie "Nahrungsprinzip" versus "Erwerbstrieb" noch keineswegs hinreichend gesichert sei. Damit kehrt Reith das Argument Schmollers und Sombarts um und erweitert es unter der Hand nicht unbeträchtlich: Die Bezahlung im Leistungslohn wird jetzt nicht mehr als Mittel zur Durchsetzung des "Erwerbstriebs" interpretiert, vielmehr sieht Reith umgekehrt dort keine Berechtigung für die Annahme einer nahrungsorientierten Wirtschaftsmentalität, wo leistungsorientierte Lohnformen vorkommen.

Die Frage nach der historischen Verbreitung verschiedener Lohnformen und ihrer jeweiligen gewerbe- und arbeitsmarktspezifischer Begründung ist das zentrale Thema der beiden Hauptabschnitte des Buches. Der vom Umfang her stärkste Abschnitt des Buches stellt nacheinander zehn Gewerbegruppen unter der Leitfrage der jeweils vorkommenden Lohnformen vor. Reith beginnt die Abschnitte zu den einzelnen Gewerbegruppen jeweils mit einem knappen Überblick über Arbeitsprozesse, Technologie, Arbeitskräfte und regionale Schwerpunkte, bevor er Belege für die verschiedenen zur Anwendung gelangten Lohnformen präsentiert. Offensichtlich hat der Autor gar nicht erst damit gerechnet, daß es Leser gibt, die diesen knapp 200 Seiten starken Abschnitt von vorne nach hinten durchlesen, sonst hätte er vermutlich mehr Vorkehrungen gegen die sich schnell einstellende Langeweile getroffen. Die Lektüre ist mühsam, da dem Text jeglicher Spannungsbogen fehlt. Vielleicht möchte der Autor, daß dieser Abschnitt, der maßgeblich, aber nicht ausschließlich auf einer Vielzahl gewerbegeschichtlicher Untersuchungen zu einzelnen Regionen und Gewerbezweigen beruht, eher wie ein Nachschlagewerk benutzt wird, indem nur einzelne Abschnitte bei Bedarf rezipiert werden. Hierzu fehlt jedoch die nötige enzyklopädische Vollständigkeit: Der Autor konzentriert sich nahezu ausschliesslich auf das städtisch-zünftische Gewerbe und hat hier wiederum klare Vorlieben für bestimmte, in der Literatur gut aufgearbeitete Orte, vor allem Nürnberg und Augsburg. Die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts so wichtigen ländlichen Gewerbe werden allzu randständig behandelt. Hätte der Autor diesen protoindustriellen Exportgewerben den gleichen Stellenwert eingeräumt wie dem städtischen Handwerk, wäre sein Fazit weitaus schärfer - übrigens ganz im Sinne seiner zentralen These von der hohen Bedeutung des Stücklohns bereits in vorindustriellen Zeiten - ausgefallen.

Schwerer wiegt jedoch ein grundsätzliches Unbehagen bei der Art der Belegführung für die Existenz verschiedener Lohnformen. Der Autor verfährt in einem schon ärgerlichen Maß eklektizistisch. Belege für die Anwendung einer bestimmten Lohnform in einem Gewerbezweig werden wahllos hintereinandergereiht, ohne daß auch nur der Versuch unternommen wird, einen systematischen Überblick über den Wandel der Lohnformen im Spiegel der gewerblichen Entwicklung zu bieten. Dabei werden aus dem langen Untersuchungszeitraum beliebige Perioden und Orte herausgepickt, die dann z.T. sehr ausführlich vorgestellt werden, bis hin zur Nachzeichnung von einzelnen Prozessen und Streitigkeiten. So bietet Reith etwa, um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen, bei der Vorstellung der Lohnformen im Messergewerbe insgesamt ein gutes Dutzend Belege für die Anwendung des Stücklohns in Steyr und Nürnberg zwischen 1439 und 1609, jedoch kein Wort etwa zu den bedeutenden Solinger Messergewerben im 18. Jahrhundert, über die eine Fülle von Informationen vorliegen. Wer von Reiths Studie einen systematischen Überblick über die verschiedenen Lohnformen in Langzeitperspektive, ihren Wandel und die jeweiligen Rahmenbedingungen und Gründe erwartet, der wird bitter enttäuscht. Dem Autor geht es hauptsächlich um den Nachweis, daß in jedem Gewerbe zwischen Spätmittelalter und frühem 19. Jahrhundert irgendwann einmal die Arbeitskräfte in einer zeit- oder leistungsbezogenen Form entlohnt wurden. Und dies - wer hätte das gedacht - gelingt dem Autor tatsächlich.

Darüber hinaus diskutiert Reith für die verschiedenen Gewerbe die Lohnformen auch im Hinblick auf Bedeutung monetärer und nichtmonetärer Lohnelemente sowie im Hinblick auf die Bedeutung verschiedener in den Arbeitsprozeß integrierter Bevölkerungsgruppen und deren Entlohnung. Aber auch zu diesen Fragen gibt es keinen systemtischen Überblick, noch nicht einmal einige vorsichtige Thesen. Einige Hinweise darauf, daß sich irgendwann irgendwo das ein oder andere nachweisen läßt, genügen dem Autor.

Auch im zweiten Hauptabschnitt, der "technische, wirtschaftliche und soziale Aspekte der Lohnformen" behandelt, darf der Leser keine systematische Thesen zur Entwicklung der Lohnformen im Untersuchungszeitraum erwarten, es geht Reith lediglich um "Aspekte" und diese sind entweder banal oder weisen entweder keinerlei erkennbaren systematischen Zusammenhang zur Rekonstruktion der Logik der verschiedenen Lohnformen auf. Die "technischen Aspekte" beschränken sich auf die Überlegung, dass Stücklöhne nur da gezahlt werden können, wo die individuelle Arbeitsleistung gemessen oder gezählt werden kann - eine Erkenntnis, die so übrigens bereits in der Einleitung in Anlehnung an die Autoren der Historischen Schule der Nationalökonomie formuliert wurde. Die "wirtschaftlichen Aspekte" der Lohnformen diskutiert Reith im Hinblick auf die Frage, ob sich Lohnformen und Betriebssysteme - insbesondere das Verlagsystem - eineinander zuordnen lassen. Diese Frage kann Reith zufolge, der hier einige Belege für Stück- wie Zeitlöhne in verlagsmäßig organisierten Gewerben anführt, verneint werden. Dieses Problem, das wiederum von Überlegungen Büchers und Sombarts ausgeht, hätte eine vertiefende und systematische Erörterung verdient. Die übrigen Abschnitte behandeln die Frage der verschiedenen Arbeitskräfte und der ihnen zugemessenen Lohnformen, die Frage des Zusammenhangs zwischen Lohnformen und der Messung von Arbeitszeit, die Existenz monetärer und nichtmonetärer Formen der Lohnzahlung (vor allem Unterkunft und Kost für Gesellen im Haushalt der zünftischen Handwerksmeister) sowie das Auftreten von Lohnstreiks bei Entlohnung nach gemessener Leistung oder nach Arbeitszeit. Das Ergebnis dieses Abschnitts lautet, daß sich für jede nur denkbare Kombination dieser Faktoren irgendwo und irgendwann Belege finden lassen. Unter welchen Bedingungen welche Kombination Bedeutung erlangt, darüber erfährt der Leser leider nichts. Reith behält auch in diesem Abschnitt seine eklektizistische Belegführung bei, was den Leser sehr schnell ermüdet, zumal der Text durch eine Vielzahl von Wiederholungen (zum Teil fast wörtlichen) unnötig aufgebläht ist.

Hinsichtlich der eingangs gestellte Frage nach dem Wandel von Wirtschaftsmentalitäten im Spiegel der Lohnformen kommt Reith zu dem Ergebnis, daß die "Vorstellung von zwei polaren Wirtschaftsmentalitäten" sich nicht halten lasse. Vor allem für die im Stücklohn bezahlten Handwerker konstatiert der Autor auch im Hinblick auf die Versorgung mit Agrarprodukten eine "wesentlich stärkere Einbindung in Markt und Konjunktur" als dies der Vorstellung von einer auf dem Prinzip der Nahrung basierten Wirtschaft entspräche. Um diese These überzeugend belegen zu können, hätte der Autor jedoch auch die Frage der auch in städtischen Kontexten verbreiteten agrarischen Subsistenzwirtschaft diskutieren müssen. Dieses Problem bleibt jedoch unberücksichtigt.

Die Struktur des Textes ist sicherlich zu einem Grossteil Spiegel der von Reith hauptsächlich benutzten Quellen. Der Autor stützt sich vor allem auf normative Qüllen zum städtischen Handwerk, auf Zunftordnungen, Lohnsatzungen oder Verfügungen des Stadt- oder Landesherrn sowie auf die zahlreichen Einzelhinweise in der kaum zu überschaünden gewerbegeschichtlichen Literatur. Die interessantesten Passagen des Buches stützen sich auf obrigkeitliche Erhebungen des 18. und 19. Jahrhunderts zur Praxis der Entlohnung, vor allem die "Mainzer Punctation" zu den Lohnverhältnissen im Reich von 1770/71, erlauben für alleine jedoch noch keine über diese Momentaufnahme hinausreichenden Thesen.

Ein exemplarischer Zugriff auf ausgewählte Gewerbezweige und einzelne Orte, unter systematischer Einbeziehung nicht-normativer Quellen, etwa des von Reith in seiner Aussagekraft unterschätzten kaufmännischen Rechnungswesens, hätte nach Ansicht des Rezensenten genaueren Einblick in die Logik der Entlohnungspraxis versprochen. Aber das wäre dann ohne Zweifel auch wieder nur ein weiteres Stück exemplarisch argumentierender Spezialforschung geworden.

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