P. v.d. Osten: Jugend- und Gefährdetenfürsorge im Sozialstaat

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Titel
Jugend- und Gefährdetenfürsorge im Sozialstaat. Auf dem Weg zum Sozialdienst katholischer Frauen 1945-1968


Autor(en)
von der Osten, Petra
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte 93
Erschienen
Paderborn 2002: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
387 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Rudloff, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Der Staat tritt nicht nur in der Gestalt des Bildungsstaates als Erzieher auf, sondern mitunter auch als erziehender Sozialstaat. In den sozialstaatlichen Randregionen, besonders in der Jugend- und Gefährdetenfürsorge, vereint sich das Soziale mit dem Pädagogischen. Hier werden nicht so sehr Probleme der materiellen Existenzsicherung verhandelt, als vielmehr Fragen der normativen Integration. Seit Detlev Peukerts einflussreicher Studie über die „Grenzen der Sozialdisziplinierung“ 1 ist zunächst die Jugendfürsorge - und hier besonders die zwangsweise und anstaltsgebundene Fremderziehung - in das Gesichtsfeld der Historiker getreten. Nirgends sonst ist die Dialektik von sozialen Rechten und sozialen Pflichten, von Leistung und Eingriff, Hilfe und Kontrolle - der Generalnenner vieler Untersuchungen zur Geschichte und Gegenwart des Sozialwesens - so augenscheinlich wie hier. Als massiver Eingriff des Staates in die Rechte von Eltern, Kindern und Jugendlichen verstand sich die Fürsorgeerziehung in einer eigentümlichen Wendung ihrer Zweckbestimmung zugleich doch auch als Ausfluss eines besonderen Rechts dieser Kinder und Jugendlichen, des Rechtes auf Erziehung, wie es das Jugendfürsorgerecht seit 1924 programmatisch verhieß.

Die Jugendfürsorge ist nur der eine Ausschnitt aus Petra von der Ostens Untersuchung über die bundesdeutsche „Jugend- und Gefährdetenfürsorge im Sozialstaat“ von 1945 bis 1968, den anderen bildet die Gefährdetenfürsorge. In der Problemwahrnehmung wie auch in den Instrumenten waren beide verwandt. In mancherlei Hinsicht ließ sich die Gefährdetenfürsorge als Verlängerung der Jugendfürsorge in das Erwachsenenalter verstehen, auch wenn diese letztlich über ein breiteres Spektrum an Instrumenten verfügte als jene. Auch das geschlechtsspezifische Spektrum der „Gefährdungen“, das handlungsauslösend wurde, wies wie in der Jugendfürsorge ein spezifisches Bild auf: „Gefährdung“ bei Mädchen und Frauen war - ganz anders als bei Jungen und Männern - fast durchweg „sittliche Gefährdung“ (sprich: Prostitution bzw. „hwG“/„häufig wechselnder Geschlechtsverkehr“). Dem heutigen Sprachgebrauch der Sozialarbeit ist die Gefährdetenfürsorge kaum mehr vertraut. Ein Abschnitt des Bundessozialhilfegesetzes von 1961 trug jedoch noch bis zu seiner Revision 1974 den Titel „Hilfen für Gefährdete“, worunter Personen gemeint waren, die „aus Mangel an innerer Festigkeit ein geordnetes Leben in der Gemeinschaft nicht führen können“ (Alkoholiker, sonstige Süchtige, Nichtsesshafte, Obdachlose, Strafentlassene, Prostituierte, Verhaltensgestörte, so listeten die Gesetzeskommentare auf).

Die Handlungsfelder der Jugend- und Gefährdetenfürsorge, das machten so unterschiedlich argumentierende Arbeiten wie die von Marcus Gräser und Andreas Wollasch deutlich 2, gewann noch dadurch besondere Konturen, dass der Staat zwar als Auftraggeber, aber doch nur sehr eingeschränkt auch als Ausführender in Erscheinung trat. Sowohl die Infrastrukturen wie auch das Personal wurden in hohem Maße von den Trägern der privaten Fürsorge gestellt. Unter „privaten Trägern“ wiederum hat man ganz vornehmlich die konfessionelle Fürsorge zu verstehen. So ist es denn nur folgerichtig, wenn Petra von der Osten ihr Betrachtungsfeld durch die Untersuchung eines konfessionellen Trägers beleuchtet.

Ihre lesenswerte Dissertation über den Katholischen Fürsorgeverein (KFV) für Mädchen, Frauen und Kinder von 1945 bis 1968 schließt dabei nicht nur zeitlich, sondern auch konzeptionell an die eindringliche Untersuchung über den KFV an, die vor einigen Jahren Andreas Wollasch für die erste Hälfte des Jahrhunderts vorgelegt hat. 3 Der heute den Namen Sozialdienst Katholischer Frauen tragende Fachverband ist über Fachkreise hinaus im Zusammenhang mit dem Ausstieg der katholischen Träger aus der Konfliktberatung für Schwangere bekannt geworden.

Nach einem einleitenden Kapitel zur Wiederaufnahme der Arbeit in der Nachkriegszeit widmet sich von der Osten in einem ersten größeren Themenblock der Jugendfürsorge. Hier rückt nun ganz der Gesetzgebungsprozess und damit die verbandliche Lobbytätigkeit des KFV in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Generalsekretärin und seit 1944 auch langjährige Vorsitzende des Vereins, Elisabeth Zillken, erlangte weit über den Rahmen des Vereins hinaus eine zentrale Stellung im verbandspolitischen Netzwerk der Jugend- und Gefährdetenfürsorge. Ihr kam dabei nicht nur zugute, dass sie aufgrund ihres Renommees als ausgewiesene Sachverständige einflussreiche Positionen an den fachpolitischen Schaltstellen einnehmen konnte.

Entscheidender noch war der Umstand, dass sich der zuständige Referent im Bundesinnen- und dann Bundesfamilienministerium, Friedrich Rothe, dem Verein aufs engste verbunden fühlte. Zillken und Rothe arbeiteten Hand in Hand, wenn es im legislativen Prozess darum ging, den Interessen und Vorstellungen des KFV zum Durchbruch zu verhelfen. Das galt etwa für den Versuch, den Einfluss der freien Träger auf die mit Argwohn bedachten öffentlichen Jugendämter zu sichern, indem ihnen eine bedeutsame Stellung in den dortigen Kollektivorganen (den Jugendamtsausschüssen) zugestanden wurde. Ähnlich waren auch die Bemühungen des KFV von Erfolg gekrönt, in der Jugendhilfenovelle von 1961 die eigene Lesart des Subsidiaritätsgrundsatzes zu verankern. Im vorparlamentarischen Raum erwies sich der KFV somit als eine feste Größe und als durchaus einflussreicher Akteur.

Der zweite Hauptteil widmet sich der Gefährdetenfürsorge. Im Mittelpunkt steht hier die Auseinandersetzung um ein „Bewahrungsgesetz“, das es ermöglichen sollte, „Gefährdete“ zum Zwecke der erzieherischen Beeinflussung zwangsweise in Anstalten einzuweisen. Einem solchen Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte gesetzgeberisch den Weg zu ebnen war nun keineswegs ein neues Unterfangen, sondern ein Anliegen, das bereits seit den zwanziger Jahren von verschiedener Seite betrieben worden war. Gleich nach dem Ende des Weltkrieges regten sich in der Fürsorgefachwelt Bestrebungen, für eine gesetzliche Handhabe zu sorgen, um „arbeitsscheue“ Jugendliche und junge Frauen mit unsittlichem Lebenswandel zwangsweise der „Arbeitserziehung“ unterwerfen zu können. Daraus wurde zunächst nichts, wie auch den Bemühungen, zu einem weniger polizeilichen und dafür mehr fürsorgerischen Zwecken dienenden „Bewahrungsgesetz“ zu gelangen, zunächst kein Erfolg beschieden war.

Was so als Einzelgesetz scheiterte, wurde dann, erstaunlich genug, als Bestandteil des Bundessozialhilfegesetzes 1961 doch noch Realität, und man kann dies als einen bemerkenswerten Erfolg des KFV verstehen, der auch bei diesem Gesetzgebungsvorhaben seiner Linie weitgehend zum Durchbruch verhalf. Von der Osten legt freilich nahe, dass es sich dabei um einen Pyrrhussieg handelte. Denn der Rückgriff auf tradierte inhaltliche Positionen ließ hier - wie in der Gefährdetenfürsorge ganz allgemein - „die Kluft zu gesellschaftlichen Grundüberzeugungen über die Jahre hinweg immer größer werden“. Dass 1967 das Bundesverfassungsgericht die Zwangseinweisung von Gefährdeten nach dem BSHG für grundrechtswidrig erklärte, war hierfür ein deutliches Zeichen. Die traditionellen, patriarchalischen Fürsorgemodelle trugen nicht mehr. Der Verein sah sich zunehmend gezwungen, Methoden, Selbstverständnis und Leitgedanken einer Revision zu unterziehen.

Die Ansatzpunkte hierzu nimmt ein letzter Themenblock in den Blick, der sich mit den Eigenarten des Vereins als institutioneller Trägerstruktur des katholischen Milieus befasst. Zunächst eine „religiöse Bewegung“ mit „integralistischem“ Selbstverständnis, dabei lange Zeit eingeigelt in eine ausgeprägte Defensivposition gegen die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse, sah sich der Verein immer mehr gezwungen, die Grundlagen seiner Arbeit zu überdenken. Die Ausrichtung auf das religiöse Seelenheil konnte nicht mehr mit der gleichen Unbedingtheit in den Mittelpunkt des pädagogischen Wirkens gestellt werden wie noch in den fünfziger Jahren. Maßgeblich beeinflusst durch das Zweite Vatikanische Konzil begann sich der Verein, so von der Osten, allmählich für ein pluralistischeres Welt- und Menschenbild zu öffnen. Wenn das Personal sich statt aus dem bisherigen Stammreservoire der Ordensgemeinschaften zunehmend aus weltlichen Berufskräften rekrutierte, so war die absehbare Folge ebenfalls, dass der katholische Wertehorizont nicht mehr so selbstverständlich wie bisher als „einheitsstiftender Bezugsrahmen“ vorausgesetzt werden konnte. Fachlichkeit gewann als Kriterium der Vereinsarbeit wachsendes Gewicht. Mit am längsten freilich, so ein weiterer Befund, hielt der Verein an einem überkommenen Frauenbild fest, einem Frauenbild, das zur Berufstätigkeit der Frau Distanz hielt und sich eine solche nur als aufopfernden Dienst am Gemeinwohl vorstellen konnte.

All diese Befunde und Entwicklungslinien werden quellennah, einfühlsam und plausibel nachgezeichnet. Von der Osten ordnet den Verein erhellend in das Kräftefeld von Kirche, Caritas und öffentlicher Fürsorge ein, wobei immer wieder auch deutlich wird, wie sehr der Verein darauf bedacht war, seine Selbstständigkeit zu wahren. Gerade im Bereich der Gefährdetenfürsorge betritt die Untersuchung historiographisches Neuland.

Gleichwohl bleiben doch auch einige Fragezeichen. Zunächst könnte man fragen, ob nicht gerade die vorzügliche Quellenbasis zur Vereinsgeschichte paradoxerweise dazu geführt hat, den Blick zu verengen, denn von der Osten verlässt sich ganz auf die vereinseigene Überlieferung und zwar auch dort, wo den Vereinshorizont übersteigende Fragen zur Debatte stehen. So werden die Gesetzgebungsprozesse, der rote Faden, an dem sich die Studie über weite Strecken orientiert, lediglich auf der Basis der Vereinsquellen rekonstruiert, was angesichts des intensiven Materialaustauschs mit den Ministerien noch angehen mag, aber nicht ganz ohne Risiko ist. Wichtiger ist, dass bei einer solchen Akzentuierung der Binnensicht der einordnende Blick auf das Gesamtpanorama der Akteure etwas leiden muss. Das Ideen- und Kräftefeld der Jugend- und Gefährdetenfürsorge erschließt sich mitunter nur bruchstückhaft, und ähnliches gilt auch für die großen Linien der sozialpädagogischen Debatten.

Ins Gewicht fällt weiterhin, dass die Praxis der Fürsorgearbeit nur sehr am Rande behandelt wird. Über die Klientel des KFV, deren Zusammensetzung sich, wie man annehmen muss, nicht unerheblich gewandelt haben dürfte, wird wenig berichtet, und auch über die Veränderungen der konkreten Problemsicht und sozialpädagogischen Methodik praktischer Fürsorgearbeit erfährt man nicht allzu viel. Weitgehend offen bleibt, welche Hilfeformen zum Tätigkeitsfeld des Vereins - und in welcher Gewichtung - gehörten (in der Jugendfürsorge z.B.: Schutzaufsicht/Erziehungsbeistandschaft, Vormundschaft, Heimerziehung, Erziehungsberatung). Wie sah ganz allgemein das Verhältnis zwischen offener und geschlossener Hilfe aus, wie wurden diese beiden Hilfeformen diskutiert, welche Verschiebungen ergaben sich zwischen ihnen? Welche sozialpädagogischen Konzepte kamen in den Heimen zum Tragen, wie ordnen sich diese in den Horizont der zeitgenössischen Sozialpädagogik ein? Wurden darüber Auseinandersetzungen geführt? Welche Berufsausbildung genossen die Jugendlichen, wie wurden die erwachsenen Gefährdeten therapeutisch betreut? Zu all diesen Fragen erhält man von der Verfasserin nur sehr eingeschränkt Auskunft. So weiß, wer den Verein und seinen Wirkungskreis nicht schon vorher etwas kennt, auch nach der Lektüre des in vielem so aufschlussreichen Bandes noch immer nicht recht, wie dessen praktisches Aktionsfeld nun eigentlich aussah.

Nicht wie der Verein handelte, sondern wie er verhandelte, arbeitet von der Osten mit viel Spürsinn heraus. Hierin, in dem Porträt eines erfolgreichen Akteurs im vorparlamentarischen Raum der Sozialgesetzgebung und zugleich auch in der erhellenden Analyse der milieugebundenen Leitbilder, liegt der eigentliche Gewinn der unterm Strich sehr gelungenen Untersuchung.

Anmerkungen:
1 Peukert, D.J.K., Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Köln 1986.
2 Gräser, M., Der blockierte Wohlfahrtsstaat. Unterschichtjugend und Jugendfürsorge in der Weimarer Republik, Göttingen 1995; Wollasch, A., Der Katholische Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder (1899-1945). Ein Beitrag zur Geschichte der Jugend- und Gefährdetenfürsorge in Deutschland, Freiburg im Breisgau 1991.
3 Wollasch, A., Der katholische Fürsorgeverein; vgl. auch als Festschrift ders., Von der Fürsorge „für die Verstoßenen des weiblichen Geschlechts“ zur anwaltschaftlichen Hilfe. 100 Jahre Sozialdienst katholischer Frauen (1899-1999), Olsberg 1999.

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