Cover
Titel
Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven


Herausgeber
Lepper, Marcel; Raulff, Ulrich
Erschienen
Stuttgart 2016: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
X, 294 S.
Preis
€ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sina Steglich, Historisches Institut, Universität Mannheim

Gemeinsam mit dem „Handbuch Bibliothek“ (2012) und dem „Handbuch Museum“ (2016) bildet das nun im J.B. Metzler Verlag veröffentlichte „Handbuch Archiv“ eine Trias zu zentralen Speicher- und Distributionseinrichtungen von Wissen. Kein Archivführer, aber auch keine reine Archivkunde oder gar archivwissenschaftliches Lehrbuch möchte es sein. Vielmehr soll das Archiv „nach Idee und Institution, Theorie und Praxis, Begriff und Metapher perspektiviert werden“ (S. VIII). Nicht das Archiv aus der Sicht der Archivare allein steht damit im Fokus des Interesses, sondern das Archiv in einem vielfältigen Referenzsystem, das von ideellen Konzeptualisierungen über historische Entwürfe bis hin zu politischen Grundsätzen und juristischen Bestimmungen reicht. Ein entsprechender Ansatz ist nicht ohne Vorbild, wenngleich bisher Theorie, Praxis und Geschichte des Archivs nur selten in einem Band zusammengeführt wurden.1 Dass die damit einhergehende Ausweitung des Archivverständnisses Spannungen enthält, ist den Herausgebern durchaus bewusst, wenn sie eigens betonen, dass zwischen „der Theoriekarriere der Rede vom ‚Archiv’ und der institutionellen Praxis der Archive“ nicht weniger als „ein Graben wechselseitiger Missverständnisse“ liege (S. VIII). Um diesen Graben zu überbrücken, ist der Band in einer Doppelstruktur aus historischem und systematischem Zugriff konzipiert. Die Herausgeber, Marcel Lepper als Leiter des Forschungsreferats des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Ulrich Raulff als dessen Direktor, streben damit einen historisch informierten, theoretisch reflektierten Zugriff auf das Archiv an, der integrierenden Anspruch erhebt.

Das erste, der „Erfindung des Archivs“ gewidmete Kapitel dient heuristisch der Themenbestimmung. Am Anfang steht der Befund, dass gerade die Arbeit in und mit Archiven, „die über Jahrzehnte als staubig, reflexionsarm […], spröde positivistisch“ gegolten habe, inzwischen geradezu als „detektivisch aufregend“ (S. 4) empfunden werde. Dieser dergestalt auratisch aufgeladene Forschungsgegenstand wird zunächst durch einen differenzierten Zugang geerdet: Das Archiv wird als Institution, mit seinen praktischen Problemen, und schließlich als kulturwissenschaftlich konfigurierte Metapher erörtert. Davon ausgehend stellen die Beiträge in Kapitel II die historische Wandelbarkeit des Archivs dar. Stefan Rebenich führt durch die antiken Vorformen des Archivs und problematisiert dabei allzu schnelle Festlegungen auf vermeintliche Wurzeln archivischer Praktiken. Das Mittelalter und die Frühe Neuzeit werden von Martial Staub als bedeutende Phase der Konstituierung von Archiven erläutert – bedauerlicherweise aber sehr knapp (auf nur drei Seiten) und damit aus eher kursorischer, der archivhistorischen Relevanz dieser Epochen etwas zuwiderlaufender Vogelperspektive.2 Das sich nicht nur infrastrukturell ausdehnende, sondern sich auch zunehmend professionalisierende Archivwesen seit der Aufklärung, behandelt Anett Lütteken und zeichnet dabei den grundlegenden Wandel des Archivs von der herrschaftssichernden Speicherinstitution zum Ort wissenschaftlicher Praxis nach. Dass Archiv immer auch Zerstörung heißt – teils unfallbedingt, teils programmatisch – und sich die Frage nach zu Bewahrendem und zu Vernichtendem sowie der Deutungshoheit stets von Neuem stellt, arbeitet Nicolas Berg am Beispiel des 20. Jahrhunderts besonders überzeugend heraus.

In Ergänzung zu dieser diachronen Darstellung werden ab Kapitel III infrastrukturelle und systematische Aspekte in den Fokus gerückt. Andreas Pilger führt in die facettenreiche (deutsche) Archivlandschaft ein und berücksichtigt dabei neben staatlichen Archiven auch das weite Spektrum zwischen Adels- und Wirtschaftsarchiven sowie archivarische Ausbildungswege und Berufsperspektiven, bevor Hartmut Weber eine Tiefenbohrung am Beispiel der Staatsarchive und deren Funktion, Organisation und Aufgaben vornimmt. Gemeinsam mit den unter dem Titel „Archivpraktiken“ (Kapitel V) zusammengeführten Darlegungen zu „Bestandspolitik“, „Erschließung“ und „Bestandserhaltung“, die ihrerseits spezifisch in das Handwerkszeug der Archivare einführen, erinnern diese Beiträge am stärksten an einen Archivführer. Doch bereits Ulrich van Loyens Überlegungen zu Privat- und Alltagsarchiven (unter dem Neologismus „Archivproliferation“) sowie Heike Gfrereis’ historisch-theoretische Erörterung der wechselseitigen Relation zwischen Archiv und Ausstellung öffnen die Perspektive wieder, indem sie sich dem Archiv nicht vom Haupt, sondern von seinen Gliedern her nähern und dessen subversiv-performatives Potential verdeutlichen. Die mehrspurigen Wechselbeziehungen zwischen Archiv und Recht betrachtet Anna-Bettina Kaiser. Sie widmet sich dabei erfreulicherweise nicht nur dem Archivrecht selbst, sondern auch der grundsätzlicheren Frage nach dem Recht im und auf Archiv, womit sie bereits den Weg für die Problematisierung des Archivs im Umfeld zeitgeschichtlicher und erinnerungspolitischer Debatten bereitet, die Ulrich Raulff skizziert. Dass um archivische Erinnerung oftmals gerungen werden muss, gerade wenn sie mit der Anerkennung vergangenen Unrechts einhergeht, wird dabei auch über Europa hinausblickend etwa am Beispiel Algeriens, Koreas und Südafrikas herausgearbeitet.

Dass man vom Archiv nicht reden kann, ohne dabei dessen Materialien in den Blick zu nehmen, verdeutlicht Kapitel IV. Da Medien keineswegs als „neutrale Träger des in den Archiven gespeicherten Wissens“ zu begreifen sind (Knut Ebeling, S. 125), werden neben Akten auch Nachlässe und Sammlungen eigens vorgestellt und damit eben jene Dokumente, die allzu oft lediglich als „Schatten des ‚eigentlichen’ Archivs“ (Markus Friedrich, S. 152) eingestuft wurden. Mit den Beiträgen zu Pressearchiven, der Archivierung audiovisueller Medien in Deutschland und anderer digitaler Dokumente wird darüber hinaus einerseits die prinzipielle Vielfalt archivischer Materialität veranschaulicht, andererseits für die damit einhergehenden jeweiligen Herausforderungen sensibilisiert. Einige der detaillierten Ausführungen zu informationstechnischen Problemen bleiben gerade für den kulturwissenschaftlich informierten wie interessierten Leser leider etwas hermetisch. Dennoch wird gerade in diesen Beiträgen deutlich, dass im Archiv nicht per se das Bleibende ist, sondern es zuweilen – etwa durch Datenmigration oder Anpassung der Lesegeräte – verändert werden muss, um dauerhaft bewahrt werden zu können. Der Glaube, dass das Archiv für etwas Solides, Verbürgtes, Gesichertes stehe, wird spätestens hiermit als nostalgisch entlarvt und ersetzt durch ein wesentlich nuancierteres Verständnis des Archivs, in dem kaum etwas erstarrt, dafür umso mehr fluide und in Bewegung ist.

Der Anlage des Bandes entsprechend öffnet das abschließende Kapitel VI zur „Produktivität des Archivs“ noch einmal das Betrachtungsfeld und führt nach dem Weg ins Archiv – exemplarisch am Beispiel der stets kontingenten Nachlassüberlieferung dargelegt – schließlich aus ihm heraus in das Terrain seiner geschichtswissenschaftlichen wie philologischen Nutz- und Sichtbarmachung. Die Arbeit in und mit Archiven mag aus Perspektive der Historiker als „Initiationsritus“ gelten (Annika Wellmann-Stühring, S. 248), wohingegen sie aus der Perspektive der Philologie editionswissenschaftliche Problemstellungen aufwirft. Auch hierbei wird das Archiv in seiner prinzipiellen Unabgeschlossenheit und Deutungsoffenheit akzentuiert. Am Ende des Handbuchs ist man damit nicht etwa am Ende des Archivverstehens angelangt, sondern auf äußerst produktive Weise am Ende der Selbstverständlichkeit des Archivs.

Diese thematische Vielfalt, die sich in der disziplinübergreifenden Herkunft der Verfasser spiegelt, macht eines immer wieder deutlich: Das Pendel zwischen institutionell verstandenem und ideell oder materiell konfiguriertem Archiv schwingt fortwährend hin und her, ohne dass es am Ende auf einer Seite zum Stillstand und damit zur Eindeutigkeit käme. Wenn das „Handbuch Archiv“ eines lehrt, dann dies: Das Archiv ist gerade nicht selbstverständlich; es ließe sich daher nur auf Kosten seines besonderen Reizes endgültig definieren. Dass der Band diesen Preis nicht zahlt, sondern den Gegenstand in der ihm angemessenen Vielstimmigkeit sprechen lässt, ist das große Verdienst der Herausgeber. Die Tatsache, dass die Beiträge hinsichtlich ihres Umfanges wie auch der inhaltlichen Tiefe teils stark divergieren, sowie einzelne Redundanzen und orthographische Ungenauigkeiten fallen zwar ein wenig störend, aber nicht entscheidend ins Gewicht.

Für Leser/innen auf der Suche nach „dem“ Archiv mag die Lektüre mitunter ernüchternd sein, da ihnen ein pluralistisches Panorama des Gegenstandes präsentiert wird, sie jedoch gerade auf die Frage nach dem Archiv als solchem keine abschließende Antwort erhalten. Für alle anderen aber, die sich auf die Irritation und das Vergnügen archivischer Vielfalt einlassen, bietet dieses Handbuch nicht nur praktische Erläuterungen zur Geschichte und Gegenwart archivischen Denkens und Handelns, sondern vor allem diverse Anlässe, dieses reflektiert fortzuführen.

Anmerkungen:
1 Vgl. exemplarisch dazu: Dietmar Schenk, Kleine Theorie des Archivs, Stuttgart 2007, 2., überarb. Aufl. 2014 (rezensiert von Martin Dinges, in: H-Soz-Kult, 18.03.2009, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-12320> [25.05.2016]); sowie ders., „Aufheben, was nicht vergessen werden darf“. Archive vom alten Europa bis zur digitalen Welt, Stuttgart 2013 (rezensiert von Cornelia Wenzel und Jürgen Bacia, in: H-Soz-Kult, 04.03.2014, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21861> [25.05.2016]).
2 Das ist nicht zuletzt auch deshalb schade, da erst jüngst die Frühe Neuzeit überzeugend als archivhistorische Verdichtungsphase erläutert worden ist. Vgl. Markus Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013 (rezensiert von Rainer Hering, in: H-Soz-Kult, 10.06.2014, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21351> (25.06.2016)).