S. Kattago: Memory and Representation in Contemporary Europe

Cover
Titel
Memory and Representation in Contemporary Europe. The Persistence of the Past


Autor(en)
Kattago, Siobhan
Erschienen
Farnham 2012: Ashgate
Anzahl Seiten
141 S.
Preis
€ 67,46
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Arnd Bauerkämper, Freie Universität Berlin

Wie viel Erinnerung ist demokratischen Gesellschaften zuträglich? Wie können sich Europäer mit dem Erbe unterschiedlicher Diktaturen auseinandersetzen? Welches Verhältnis sollte dabei die Aufarbeitung des Holocaust und des GULag einnehmen? Auf diese Fragen, die vor allem seit 1990 nicht nur wissenschaftlich erforscht, sondern auch grenzüberschreitend öffentlich diskutiert worden sind, konzentriert sich Siobhan Kattagos anregendes Buch. Es enthält z. T. zwar Beiträge, die bereits zuvor veröffentlicht worden sind; die Kombination von theoretischen Überlegungen mit Befunden der neueren historischen Forschung zu Estland und Deutschland verleiht dem Buch aber durchaus Kohärenz. Dabei nimmt die Verfasserin, die an der Universität Tallinn (Estland) lehrt, vor allem sozial- und geschichtsphilosophische Überlegungen von Hannah Arendt, Isaiah Berlin, Zygmunt Bauman, Pierre Nora und Reinhart Koselleck auf.

In der Debatte über das „Gebot zu vergessen“ einerseits und die „Unabweisbarkeit des Erinnerns“1 andererseits nimmt Kattogo eine vermittelnde Position ein. Sie wendet sich gegen eine obsessive Fixierung auf die Vergangenheit, lehnt zugleich aber auch Geschichtsvergessenheit ab. Nur ein Gedächtnis mittlerer Reichweite – nach Timothy Garton Ash „Mesomnesie“2 – könne eine Sakralisierung und Trivialisierung der Vergangenheit vermeiden. Diese Erkenntnis leuchtet grundsätzlich durchaus ein; allerdings bleibt sie ebenso wie die weiterführenden Überlegungen zu den Gefahren von Mythen, eigendynamischen Erinnerungskonflikten, Unkenntnis und Fälschungen in vielen Kapiteln weitgehend einer theoretischen Ebene verhaftet.

Konkreter sind die Ausführungen zu den Narrativen, welche die Erinnerung der Europäer an die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet haben. Ebenso wie andere Wissenschaftler – so Stefan Troebst – unterscheidet Kattago typologisch drei Erinnerungszonen in Europa.3 Während in westeuropäischen Staaten seit den 1990er-Jahren der Holocaust die Erinnerungskulturen geprägt hat, sind die Verbrechen der nationalsozialistischen Okkupanten in Ostmitteleuropa durch die stalinistische Besatzungsherrschaft mit ihrer Repressions- und Vernichtungspolitik – besonders im GULag – überlagert worden. Hier haben sich zudem universalistische Erinnerungsnarrative, welche auf die Menschenrechte abheben, gegenüber dem lange unterdrückten Nationalismus nur begrenzt herausgebildet. Im postsowjetischen Russland ist der Stolz auf den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ weitgehend ungebrochen, mit dem die UdSSR ihre Hegemonie über Ostmitteleuropa etablierte. Demgegenüber führte der Sieg über das „Dritte Reich“ in Westeuropa die ersehnte Befreiung herbei. Auch in der Debatte über die Gewichtung der nationalsozialistischen und stalinistischen Verbrechen, der vor allem eine Aufsehen erregende Rede der lettischen Außenministerin Sandra Kalniete 2004, der Konflikt über die Siegesfeiern in Moskau 2005 und eine Resolution des Europäischen Parlaments 2009 Nahrung verliehen, argumentiert Kattaga differenzierend: „ […] one should preserve the historical specificity of the Holocaust while simultaneously recognizing the crimes of communism“ (S. 39).

Auch darüber hinaus tritt Siobhan Kattago für die Anerkennung unterschiedlicher Erinnerungen in Europa ein. Dabei sollten Konflikte nicht ausgeblendet oder unterdrückt, aber auf der Grundlage zivilgesellschaftlicher Normen ausgetragen werden. Wie die Verfasserin überzeugend argumentiert, sind dazu vor allem wechselseitige Toleranz und Empathie notwendig. Allerdings müssen auch präzise Kenntnisse über die differenten Zeitgeschichten in Europa erworben werden. Zu Recht verweist Kattago in geschichtstheoretischer Hinsicht aber auf die Erkenntnis, dass Erinnerungsnarrative (nach Paul Ricoeur) mit Imaginationen einhergehen, die „Erfahrungsräume“ und „Erwartungshorizonte“4 aufeinander beziehen. Vor allem gedächtnispolitische Interventionen sind in Europa seit 1945 nicht nur durchweg von den jeweils gegenwartsbezogenen Interessen der handelnden Akteure, sondern auch von ihren Zukunftsvorstellungen beeinflusst worden. Wissenschaftler bleiben damit aufgefordert, einer vordergründigen Funktionalisierung der Vergangenheit – z. B. durch die Sakralisierung des Traumas sowjetischer Fremdherrschaft in den baltischen Staaten oder des kollektiven Leidens in Russland – mit kritischer Reflexion zu begegnen.

Ebenso grundsätzlich wendet sich Siobhan Kattago gegen einen historiographischen Determinismus, der Kontingenz unterbelichtet. Wie er anhand der Implosion der kommunistischen Diktaturen demonstriert, eröffnen tiefgreifende Umbrüche neue Möglichkeitshorizonte, die menschlicher Spontaneität und Kreativität Auftrieb verleihen. Allerdings bleiben auch die Überlegungen zu den Bezügen und Ähnlichkeiten zwischen den Revolutionen, die sich 1989 in Ostmittel- und Osteuropa, 1917 in Russland, 1789 in Frankreich und 1776 in Amerika vollzogen, abstrakt und auf Arendts – unstreitig instruktive – theoretische Überlegungen zur Freiheit politischen Handelns bezogen.

Insgesamt enthält das Buch anregende geschichtsphilosophische Überlegungen zur Rolle kollektiver Erinnerungen und zum unterschiedlichen Stellenwert der Vergangenheit in den aktuellen geschichtspolitischen Diskursen in Europa. Auch ist Siobhan Kattagos Bekenntnis zu einer pluralistischen Erinnerungskultur ebenso zuzustimmen wie ihrer Forderung, auch konträre Erinnerungen zu achten: „Agreeing to disagree is neither a whitewashing of the past nor a grand narrative, but an acknowledgement of different conflicting memories of historical events“ (S. 43).

Jedoch basieren die durchaus weiterführenden Einsichten kaum auf eigenen empirischen Untersuchungen. Vielmehr synthetisiert Kattago Befunde anderer Studien, allerdings in überaus origineller Weise. Überdies plädiert die Autorin letztlich überzeugend für eine (selbst)reflexive Erinnerungskultur, die nach der Erfahrung der totalitären Diktaturen im 20. Jahrhundert von der Lernfähigkeit und -bereitschaft der Europäer ausgehen könne. Dabei verlangt sie grundsätzlich zu Recht auch die Anerkennung der Menschenwürde in offenen und demokratischen Gesellschaften. Allerdings hat die neuere Forschung gezeigt, dass sich die Aufnahme humanitärer Gesichtspunkte seit dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess (1945/46) und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) – entgegen der Annahme Kattagos (vgl. S. 31) – weder im Völkerrecht noch in der internationalen Politik geradlinig vollzogen hat.5 Insgesamt bleibt das Verhältnis zwischen normativen Postulaten und empirischen Befunden in dem Buch letztlich unterbelichtet. Gleichwohl bietet es besonders der Gedächtnisforschung weiterführende, originelle Überlegungen und Erkenntnisse.

Anmerkungen:
1 Christian Meier, Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010.
2 Timothy Garton Ash, Mesomnesie. Plädoyer für ein mittleres Erinnern, in: Transit, Winter 2001/02, S. 32-48.
3 Stefan Troebst, „1945“ als europäischer Erinnerungsort?, in: Katrin Hammerstein u.a. (Hrsg.), Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung?, Göttingen 2009, S. 223-232; ders., Jalta versus Stalingrad, GULag versus Holocaust. Konfligierende Erinnerungskulturen im größeren Europa, in: Bernd Faulenbach / Franz-Josef Jelich (Hg.), „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989, Essen 2006, S. 23-49.
4 Reinhart Koselleck, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 349-375. Dazu: Anders Schinkel, Imagination as a Category of History: An Essay concerning Koselleck’s Concepts of Erfahrungsraum and Erwartungshorizont, in: History and Theory 44 (2005), S. 42-54.
5 Vgl. z. B. Jan Eckel / Samuel Moyn (Hrsg.), Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, Göttingen 2012; Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010.

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