Titel
The Hour of Europe. Western Powers and the Breakup of Yugoslavia


Autor(en)
Glaurdić, Josip
Erschienen
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
$ 55.00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Holm Sundhaussen, Osteuropa-Institut, Freie Universität Berlin (emer.)

Über die Politik westlicher Staaten angesichts von Krise, Zerfall und Krieg im ehemaligen Jugoslawien ist bereits viel – meist höchst kontrovers – geschrieben worden. Die vorliegende Arbeit zeigt, wie spannend das Thema nach wie vor sein kann. Glaurdić, Leverhulme Early Career Fellow am Clare College der Universität Cambridge, präsentiert eine furiose Abrechnung mit der „Realpolitik“ der westlichen Staaten und mit ideologischen Verschwörungstheorien. Auf gut 300 Seiten behandelt der Verfasser die Zeit von Mitte der 1980er-Jahre bis zu den Anfängen des Bosnienkriegs 1992. Im Zentrum stehen die Wahrnehmungen und Reaktionen der politischen Entscheidungsträger Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, der Europäischen Gemeinschaft, der USA und der Vereinten Nationen auf die Ereignisse in Jugoslawien und deren Einbettung in die Koordinaten der internationalen Politik am Ende des Kalten Krieges. Im Frühsommer 1991 erklärte der damalige Präsident des Rats der Europäischen Gemeinschaft, der luxemburgische Außenminister Jacques Poos, die Krisenbewältigung in Jugoslawien zur „hour of Europe“. Glaurdić analysiert das Scheitern dieses Anspruchs und geht dessen Gründen nach. Wurden die westlichen Staaten von den Ereignissen in Jugoslawien „überrascht“? Fehlte der politische Wille zum Handeln (war es jener „Triumph of the Lack of Will“, den James Gow bereits 1997 gegeißelt hat)? Oder war es der „Alleingang“ des vereinten Deutschland, der die Krise zum Krieg eskalieren ließ? Oder etwas Anderes?

Der Autor stützt seine Untersuchung auf die mittlerweile deklassifizierten amerikanischen und britischen Dokumente aus den Jahren 1987–1992, auf die Materialien des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, auf die von verschiedenen Geheimdiensten angefertigten Transkripte von Telefongesprächen zwischen Milošević und seinen engsten Gefolgsleuten aus der Zeit zwischen Mai 1991 und Mai 1992, auf die Sammlung von Interviews zu dem BBC-Dokumentarfilm „The Death of Yugoslavia“ von 1995, die im Liddell Hart Centre for Military Archives in London aufbewahrt werden, auf mehr als 40 Interviews mit ehemaligen Akteuren, die vom Autor selbst durchgeführt wurden, sowie auf veröffentlichte Quellen, zeitgenössische Medienberichte, Autobiographien der politischen Protagonisten und die umfangreiche Fachliteratur. Selbstbewusst behauptet der Verfasser: „Without a doubt, this book is empirically thus far the most complete account not only of the responses of the Western foreign policy makers to Yugoslavia’s breakup, but also of the impact they had on the decisions of the principal Yugoslav actors.“ (S. 8)

Der auf die Einleitung folgende Hauptteil der Darstellung ist in acht Kapitel gegliedert: Taming the Balkan Gorbachev, 1987–1989 (S. 11–45), Yugoslavia’s Cold War, 1988–1989 (S. 46–74), Challenges of Democracy, 1990 (S. 75–118), To the Brink and Back, October 1990–April 1991 (S. 119–147), Descent to Dissolution, March–June 1991 (S. 148–172), Summer of Violence and Divisions, June–September 1991 (S. 173–214), Diplomacy on the Edge, September–November 1991 (S. 215–248) und The End and the Beginning, November 1991–April 1992 (S. 249–302). Eine Zusammenfassung (S. 303–309), der Anmerkungsapparat (S. 311–405) und das Register schließen den Band ab.

In seiner politikgeschichtlichen Analyse verknüpft Glaurdić die innerjugoslawische mit der internationalen Ebene und rekonstruiert detailliert die Wechselwirkungen zwischen beiden Ebenen: Wie reagierte der Westen auf die Ereignisse in Jugoslawien und wie reagierten die jugoslawischen Akteure auf die Reaktion des Westens? Die Geschehnisse in Jugoslawien werden ebenso eingehend untersucht wie deren Einschätzung durch die westlichen Staaten und die Schlussfolgerungen, die diese daraus zogen, sowie die Rückwirkungen, die die westliche (Un)Politik auf den weiteren Verlauf der Ereignisse in Jugoslawien hatte. Dieses komplizierte Wechselspiel mit allen seinen Verästelungen und Veränderungen kann im Rahmen einer Rezension nicht sinnvoll zusammengefasst werden, ohne in Schieflage zu geraten. Im Folgenden beschränke ich mich daher im Wesentlichen auf die Politik des Westens, wie sie vom Autor dargestellt wird.

Die westlichen Regierungen waren über ihre diplomatischen Vertretungen und ihre Geheimdienste gut über die Krise in Jugoslawien, den politischen Aufstieg Slobodan Miloševićs, die Instrumentalisierung des Nationalismus und die daraus resultierenden Gefahren unterrichtet. Dennoch sahen führende US-Politiker in Milošević „even a potential Balkan Gorbachev“ (S. 23), der Jugoslawien reformieren und zur Demokratie führen könne, und legten die Warnungen der CIA ad acta. Auch die Staaten der EG übersahen die Gefahren und konnten sich zu keinem nachhaltigen Hilfsprogramm entschließen, obwohl Kommissionspräsident Jacques Delors und Außenminister Genscher im Frühjahr 1988 vor einem ökonomischen Kollaps Jugoslawiens und dessen möglicher politischer Desintegration warnten (S. 25). Selbst die „antibürokratische Revolution“ Miloševićs und die Änderung der serbischen Verfassung im Frühjahr 1989, mit der die innere Machtbalance Jugoslawiens aus den Angeln gehoben wurde, änderte an der westlichen Passivität nichts.

Nach wie vor wurde Milošević, insbesondere vom Weißen Haus und vom State Department (aber im Unterschied zu Teilen des US-Kongresses), als Reformer betrachtet, der den Nationalismus nur benutzte, um den jugoslawischen Staat zu reformieren bzw. zu zentralisieren sowie das Land auf Marktwirtschaft und Demokratie vorzubereiten. Und da mit dem nahenden Ende des Kalten Krieges Jugoslawien auch seine bisherige militärstrategische Bedeutung verlor, bestand kein Grund zum Handeln, umso weniger als führende Politiker des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (mit Ausnahme der slowenischen Vertreter) ihrerseits keine Anstalten machten, Milošević zu bremsen. Der nun folgende „Kalte Krieg“ innerhalb Jugoslawiens, der vornehmlich zwischen Slowenien und dem Milošević-Lager ausgetragen wurde, blockierte auch die Reformen des jugoslawischen Ministerpräsidenten Ante Marković, während sich der Westen nach wie vor mit einer Zuschauerrolle begnügte.

Glaurdić lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Gründe für das Scheitern Jugoslawiens innerhalb des Landes zu suchen sind, wobei er Milošević und dessen Gefolgsleuten die Hauptschuld zuweist. Nicht minder energisch insistiert er darauf, dass der Westen eine Mitverantwortung für den Staatszerfall trug. In Umkehrung der Verschwörungstheorien, denen zufolge der Westen die Auflösung des jugoslawischen Staats gewünscht und betrieben habe, macht der Verfasser deutlich, dass die USA und die EG bis Mitte 1991geschlossen auf den Erhalt des jugoslawischen Gesamtstaats setzten und den Umbau Jugoslawiens in einen Staatenbund, wie er von Slowenien und Kroatien nach den Wahlen von 1990 favorisiert wurde, oder gar eine Aufsplitterung des Landes strikt zurückwiesen. Jugoslawien galt nach wie vor als wichtiger Faktor der Stabilität in Südosteuropa bzw. im Balkanraum. Die Angst vor Instabilität und Unsicherheit in einer unübersichtlich gewordenen Welt war allseits präsent. Und unter keinen Umständen durfte Jugoslawien ein Präzedenzfall für die Destabilisierung der Sowjetunion werden. Wieder und wieder signalisierten die westlichen Regierungen daher, dass sie die Verselbständigungsbestrebungen in Slowenien und Kroatien missbilligten und dass sie ungeachtet aller sonstigen Bedenken die Rezentralisierungsforderungen Miloševićs guthießen. Glaurdić führt zahlreiche Belege an, die seine These stützen sollen, dass sich Milošević und sein engster Vertrauter Borisav Jović durch die Signale des Westens ermutigt fühlten, ihren Kurs der Stärkung Serbiens und der Rezentralisierung Jugoslawiens gegen alle Widerstände und mit allen Mitteln fortzusetzen. Und zumindest indirekt wurden sie darin vom Westen bestärkt: von den USA ebenso wie von den zwölf Mitgliedstaaten der EG und von den Vereinten Nationen.

Erst Genschers Besuch in Belgrad und seine Gespräche mit Milošević am 1. Juli 1991 – während des Zehntagekriegs in Slowenien – leitete eine Wende ein. In der Folgezeit schälten sich innerhalb der EG die beiden unterschiedlichen Lager heraus, die eine gemeinsame Politik – über das Niveau von Formelkompromissen hinaus – unmöglich machten: Auf der einen Seite die Verfechter der territorialen Integrität Jugoslawiens, auf der anderen Seite die Verfechter des Selbstbestimmungsrechts, beide mit unterschiedlichen Visionen von der Zukunft Europas.

Angesichts des Kriegsverlaufs in Kroatien in der zweiten Hälfte 1991, der Zerstörung Vukovars, der Beschießung Dubrovniks und der serbischen Vorbereitungen für einen Krieg in Bosnien auf der einen, des gescheiterten Putschs in Moskau, der gewaltfreien Auflösung der Sowjetunion und der lange vergeblichen internationalen Vermittlungsversuche in Jugoslawien auf der anderen Seite drängte die deutsche Bundesregierung gegen Ende des Jahres immer entschiedener auf eine Anerkennung Sloweniens und Kroatiens bzw. auf eine Internationalisierung des Konflikts. Seit Ende November kündigten Deutschland und mehrere andere EG-Staaten an, dass sie Slowenien und Kroatien noch vor Jahresende anerkennen würden, sofern die von der Badinter-Schiedskommission aufgestellten Bedingungen erfüllt würden. Und am 23. Dezember sprach Deutschland die Anerkennung aus: gegen den Willen Großbritanniens, Frankreichs, einiger anderer EG-Staaten und der USA. Die Anerkennungsgegner, die den Maastricht-Vertrag nicht in Gefahr bringen wollten, folgten dann dem deutschen Schritt mehr nolens als volens am 15. Januar 1992. Mit seinem „Alleingang“ (der genau genommen kein Alleingang war) hatte sich Deutschland von seinen wichtigsten westlichen Verbündeten isoliert und sah sich scharfer Kritik ausgesetzt. Dass die von Deutschland vorangetriebene Anerkennung Sloweniens und Kroatiens den Zerfall Jugoslawiens ausgelöst oder beschleunigt habe, wie nicht nur serbische, sondern auch eine Reihe auswärtiger Autoren immer wieder behaupteten, wird von Glaurdić strikt zurückgewiesen. Tatsache ist, dass die Kriegshandlungen in Kroatien (und Slowenien) nicht durch die Anerkennung ausgelöst worden waren, sondern umgekehrt: dass die praktizierte Gewalt die Anerkennungspolitik beschleunigt hatte. Dass damit die Weichen für den Krieg in Bosnien-Herzegowina gestellt wurden, ist weder beweisbar noch widerlegbar, aber sehr unwahrscheinlich. Denn die serbischen Vorbereitungen für einen Krieg in Bosnien hatten bereits lange vor der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens begonnen. Schon Ende März 1990, als von irgendeiner Anerkennung noch keine Rede sein konnte, hatte Milošević in kleiner Runde erklärt, dass Bosnien-Herzegowina als Staat nicht überleben könne und dass ein Krieg unvermeidbar sei, weil der Kampf um ein Territorium nicht ohne Blutvergießen geführt werden könne. Hatte die Kritik am deutschen „Alleingang“ somit andere Gründe?

Glaurdić vertritt die These, dass es neben der unterschiedlichen Wahrnehmung und Bewertung von Staatszerfall und Krieg in Jugoslawien vor allem und letztlich die unterschiedlichen Europakonzepte und die Gestaltung des europäisch-amerikanischen Verhältnisses waren, die zur Spaltung der EG führten.

Ich habe Glaurdićs Arbeit erst in die Hand bekommen, nachdem mein Buch über Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011 bereits fertig war. In vielen Punkten stimme ich mit Glaurdić überein. Dass Milošević mit seinem Politikstil, seinen Staatsstreichplänen, die er zusammen mit Jović und der Armeeführung ausheckte, sowie mit seiner skrupellosen Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt einen maßgeblichen Anteil an der Zerstörung Jugoslawiens hatte, lässt sich mit den mittlerweile bekannten Dokumenten nicht bestreiten. Richtig ist auch, dass Miloševićs Vorstellungen von einem künftigen „Jugoslawien“ nichts mehr mit den Bedingungen gemein hatten, unter denen der zweite jugoslawische Staat gegründet worden war. Und dass die Jugoslawienpolitik der internationalen Gemeinschaft, des Westens und insbesondere der EG ein Musterbeispiel für Versagen darstellt, ist ebenso unbestreitbar. Auf der anderen Seite: Glaurdić besitzt offenbar ein starkes Selbstbewusstsein, das ihn daran hindert, seine Argumentation und die ihr zugrunde liegenden Prämissen zu hinterfragen. Dass er (im Unterschied zu vielen westlichen Regierungen) die Selbstbestimmung höher gewichtet als die territoriale Integrität eines Staates, ist nachvollziehbar, denn Staaten sind kein Selbstzweck. Das gilt aber nicht nur für Jugoslawien – es gilt auch für die einzelnen Republiken. Die Frage, warum auf Republikebene nicht gelten soll, was für den ehemaligen Gesamtstaat gilt (wofür es triftige Gründe geben mag, die unter anderem von der Badinter-Kommission formuliert wurden) stellt er jedoch gar nicht erst, so dass seine Argumentation an Überzeugungskraft einbüßt. Auch der ausufernde Nationalismus war kein Alleinstellungsmerkmal serbischer Politiker und Intellektueller. Zwar kritisiert Glaurdić die Bosnienpolitik Tudjmans und die kroatischen „hardliner“ in Bosnien um Mate Boban, aber seine Kritik fällt vergleichsweise zahm aus. Wie Tudjmans Politik ausgesehen hätte, wenn er über ähnliche Machtressourcen verfügt hätte wie Milošević, gehört zwar in den Bereich der virtuellen Geschichte. Gleichwohl kann es sinnvoll sein, eine solche Frage zu stellen. Der Wille zur Zerstörung des realexistierenden Jugoslawien und zur Vergrößerung des eigenen Staats war jedenfalls in Kroatien nicht weniger virulent als im Milošević-Lager. Und dass die Umdeutung des Ustaša-Staats aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs bei den Serben in Kroatien Ängste auslöste, bleibt auch dann verständlich, wenn diese Ängste von serbischen Nationalisten zusätzlich geschürt und politisch instrumentalisiert wurden. Glaurdić klammert diese (und einige andere Aspekte, zum Beispiel alle völkerrechtlichen Fragen) jedoch einfach aus, sodass seine lesenswerte Darstellung streckenweise ziemlich einseitig ausfällt.

Dass Autor (oder Verlag) auf ein Quellen- und Literaturverzeichnis verzichtet haben, ist außerordentlich bedauerlich, da dadurch den Lesern viel Sucharbeit im umfangreichen Anmerkungsteil zugemutet wird.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/