Titel
Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung


Autor(en)
Beck, Stefan; Niewöhner, Jörg; Sørensen, Estrid
Reihe
Verkörperungen / MatterRealities. Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung 17
Anzahl Seiten
355 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Josefine Raasch, Mercator Research Group „Spaces of Anthropological Knowledge“, Ruhr-Universität Bochum

In den letzten Jahren lässt sich in den sozial-, geistes- und lebenswissenschaftlichen Disziplinen eine zunehmende Anzahl von Forschungsarbeiten beobachten, die sich mit epistemologischen und ontologischen Fragestellungen auseinandersetzen. In der Beantwortung der Fragen, was wir wissen können und was existiert, wird dabei oft durch ethnografische bzw. praxeografische Methoden erhobenes Datenmaterial mit materiell-semiotischen, relational-empirischen und/oder anderen nicht-repräsentativen Ansätzen analysiert. Viele dieser theoretischen/methodologischen Zugänge entstanden in den Science und Technology Studies, kurz STS. International sind die STS längst etabliert, in Deutschland sind sie dagegen bisher nur wenig institutionalisiert.

In dieser Situation veröffentlichten Forschende und Lehrende am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin die erste deutschsprachige, sozialanthropologisch ausgerichtete Einführung in die Science and Technology Studies. Mit dem Ziel Studierende, Lehrende und Forschende anzusprechen (S. 42f.) beschreiben die Autorinnen und Autoren in über 13 Kapiteln Themen, Zugänge und Problemstellungen im Schnittfeld der beiden Disziplinen. Thematisch orientieren sie sich an den Forschungsinteressen und -gebieten, denen im „Labor: Sozialanthropologische Wissenschafts- und Technikforschung“ des Berliner Instituts nachgegangen wird. Diese Schwerpunktsetzung, so die Herausgeberin und Herausgeber, sei keine Priorisierung einiger über andere Themen, sondern folge allein den Forschungsinteressen der Autorinnen und Autoren (S. 10).

Nach einem Vorwort beginnt mit der Einleitung das erste von 13 Kapiteln. Drei thematisch organisierte Teile strukturieren dann das Buch: Der erste Teil beschreibt „Wissenschaftsphilosophische und -soziologische Grundlegungen“ (S. 47–100). Im zweiten Teil werden ausgewählte „Forschungsansätze der Science and Technology Studies“ vorgestellt (S. 101–188), auf die sich auch im dritten Teil zu „sozialanthropologischen Perspektiven auf STS“ wieder bezogen wird (S. 189–345).

Allen Kapiteln ist gemein, dass sie sozialanthropologische Fragen und Themenfelder berühren und den Fokus der Lesenden auf Materialität und Praxis, Wissen und Technologien lenken. Insbesondere wird herausgearbeitet, wie sozialanthropologische Fragen mit Zugängen der STS beantwortet werden können. Beispielsweise werden Wissen und Technologien als Ergebnisse sozialer Prozesse verstanden und beschrieben, welche Möglichkeiten sich durch Zugänge der STS für die Analyse der Konstruktionsleistungen in diesen Prozessen eröffnen (S. 24). Indem dann gefragt wird, wie dieses Wissen als Praxis im Alltag zu gesellschaftlichen Ordnungsprozessen beiträgt, werden die Forschungszugänge der STS an die genuin sozialanthropologischen Forschungsfelder zurückgebunden.

Jedes dieser Kapitel ist eine knapp gehaltene einführende Erklärung vorangestellt, die der Orientierung dienen soll. Diese Erläuterung fasst zentrale Aussagen des Beitrags zu einer Take-Home-Message zusammen, die durch Angaben und Erklärungen zu weiterführenden Texten ergänzt wird (S. 44). Das Buch endet mit Informationen zu den Autorinnen und Autoren und einem Personen- und Sachindex.

In der Einleitung der Herausgeberin und der Herausgeber werden Fragestellungen und Methoden der Science and Technology Studies genannt und gemeinsame Forschungsfelder aufgezeigt, wie „Rationalität und westliche Moderne“, „materielle Kultur und Körperlichkeit“, „Praxis und Praxistheorie“ sowie „Wissen und Technologie als Praxis“.

Im ersten Teil, „Wissenschaftsphilosophische und -soziologische Grundlegung“, führt Jörg Niewöhner in institutionen- und ideengeschichtliche Wurzeln der Science and Technology Studies ein. Niewöhner beschreibt wissenschaftstheoretische Entwicklungen aus der Sicht der heutigen Sozial- und Kulturanthropologie, wobei er Schnittstellen und Anschlussfähigkeiten von Wissenschaftstheorie und anthropologischen Zugänge von Wissen als Praxis hervorhebt (S. 51). Entlang der Diskurse des frühen 20. Jahrhunderts beschreibt er also, wie Wissensproduktion und Erkenntnis empirisch erforschbare Phänomene wurden.

Im zweiten Teil, „Forschungsansätze der Science and Technology Studies“, werden ausgewählte theoretische und methodologische Forschungsansätze vorgestellt. Christoph Kehl und Tom Mathar beschreiben, wie sich in den 1970er-Jahren mit den Sociology of Scientific Knowledge (SSK) und dem Strong Programme neue Formen der Wissenschaftssoziologie herausbildeten. Estrid Sørsensen schließt an dieses Kapitel an, wenn sie die aus der SSK hervorgegangen und unter dem Namen Social Construction of Technology (SCOT) zusammengefassten Forschungsansätze erläutert. Katrin Amelang gibt einen Überblick über die Laborstudien, die seit den späten 1970er-Jahren einen weiteren Zugang zur sozialwissenschaftlichen Analyse von naturwissenschaftlichem Wissen bzw. Technik stellten. Mit einer Einführung in die zentrale Aspekte und Debatten um die Akteur-Netzwerk-Theorie rundet Tom Mathar diesen zweiten Teil des Buches ab.

Im dritten Teil, „Sozialanthropologische Perspektiven auf STS“, werden dann sozialanthropologische Forschungsgebiete mit Zugängen der Science and Technology Studies exemplarisch erörtert. Am Beispiel der Beziehung von Wissenschaft und Politik beschreibt Estrid Sørensen Möglichkeiten und Notwendigkeit für die Untersuchung ihrer gegenseitigen Bedingtheit. Stefan Beck stellt das Verhältnis von Rationalität, Wissenschaft und Technik als Gegenstand sozialanthropologischer Fragestellung dar. Er rückt entschieden die praxistheoretische Perspektive der STS in den Vordergrund und beschreibt, wie Rationalität in der Wissenschaft und im Umgang mit Technik nicht als normatives, sondern als empirisches Phänomen zu untersuchen sind. Michi Knecht spricht sich gegen eine Reduktion ethnografischer und praxeografischer Zugänge auf ihre methodologischen Aspekte aus. Stattdessen sollten auch die kollaborative und intervenierende Praxis der Feldforschung reflektiert werden. Knecht beschreibt theoretische/methodologische Grundlagen dafür und zeigt am Beispiel zweier empirischen Studien Möglichkeiten und Implikationen dieser Forschungsmethoden auf. Martina Klausner stellt Klassifikationen und ihre Rückkopplungseffekte als ein zentrales Forschungsthema in der wissensanthropologischen und der STS-Forschung dar. Sie führt in drei theoretische Positionen zu Klassifikationen ein: Ian Hackings, Mary Douglas und Susan L. Stars und Geoffrey C. Bowkers. Am Beispiel einer empirischen Untersuchung im Bereich der Medizinanthropologie fragt Stefan Beck dann, wie sich die Nutzung der Biomedizin aus der Perspektive der STS untersuchen lässt. Drei theoretischen Zugängen folgend, beschreibt er die Einbettung von Technik und Technologie in ein nur bedingt sichtbares Netzwerk, welches mehrere Wirklichkeitsbereiche miteinander verbindet. Estrid Sørensen schließt diesen dritten Teil des Sammelbandes mit einer Einführung in Entwicklungen in der Akteur-Netzwerk-Theorie ab, in dem sie darlegt, wie sich in den letzten dreißig Jahren die Post-ANT herausgebildet hat.

Als ich mich, für meine Dissertation empirisch forschend, in das Feld der STS einarbeitete, war dieses Buch eine bemerkenswerte Hilfe. Es ermöglichte mir, schnell einen Überblick über anschlussfähige, in den STS entstandene und diskutierte Theorien und Methodologien zu erwerben, Diskurse zu identifizieren und einzelne Studien einzuordnen. Dabei überzeugten mich die Vielzahl und die Unterschiedlichkeit der ausgewählten Zugänge genauso wie der umsichtig ausgeführte Aufbau des Buches.

Trotzdem hätte ich mir zum Einstieg noch eine konkretere Beschreibung der Anwendbarkeit der behandelten Ansätze gewünscht, Reflexionen dazu also, wie ich vorgehen kann, um eigenes Material zu bearbeiten und manchmal auch, welche besonderen Perspektiven jeweils eingenommen werden und was verborgen bleibt. Die Kapitel, in denen auf diese Fragen am Beispiel empirischer Studien eingegangen wird, bleiben vorwiegend abstrakt. Diese Aspekte hätten den theoretisch sehr umfassenden und vielseitigen Sammelband um eine studien-, lehr- und forschungspraktische Dimension ergänzt.

Nach meiner Promotion habe ich Erfahrungen mit ausgewählten Kapiteln in Lehrveranstaltungen gemacht. Die Studierenden haben durchweg positives Feedback zu den Texten gegeben. Die Klarheit der Argumente, die Struktur der Texte und die besprochenen Themen machten die Texte für Studierende gut zugänglich, während zugleich Komplexitäten offen gehalten werden und auch in fachübergreifende Entwicklungen eingeführt wird.

Damit eignet sich der Sammelband tatsächlich als Einführung in vielfältige theoretisch/methodologische Ansätze der STS für Studierende, Lehrende und Forschende. Der Sammelband erlaubt es, die Kapitel einzeln zu lesen; doch beschreiben die Querverweise zwischen den Kapiteln die wechselseitige Bedingtheit einiger der besprochenen Ansätze, stellen Bezüge her und geben damit Informationen, die über die in den Kapiteln transportierten hinausgehen. Das Buch ist seinen Anschaffungspreis auf jeden Fall wert.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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