Schweizerische Kirchenordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts

Campi, Emidio; Wälchli, Philipp (Hrsg.): Zürcher Kirchenordnungen 1520-1675. . Zürich 2011 : Theologischer Verlag Zürich, ISBN 978-3-290-17598-6 1388 S., 1 CD-ROM € 250,00

Campi, Emidio; Wälchli, Philippe (Hrsg.): Basler Kirchenordnungen 1528-1675. . Zürich 2012 : Theologischer Verlag Zürich, ISBN 978-3-290-17629-7 602 S., 1 CD-ROM € 100,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Arend, Forschungsstelle Evangelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Heidelberger Akademie der Wissenschaften

Das Forschungsinteresse an evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts hat in den letzten Jahren stark zugenommen.1 Ein Grund hierfür ist sicher, dass die von Emil Sehling 1902 begründete Edition dieser Quellen, die nach wechselvoller Geschichte über Jahrzehnte hinweg zahlreiche Lücken aufwies, bis 2016 an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften komplettiert werden wird.2 Es ist daher äußerst erfreulich, dass am Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte in Zürich eine Edition Zürcher und Basler Kirchenordnungen erarbeitet wurde, zumal beide Städte wichtige Zentren der frühen Reformation und der reformierten Theologie darstellen.

In dem beachtlich kurzen Zeitraum von 2006 bis 2012 haben die Herausgeber eine Sammlung von 400 Zürcher und 112 Basler Quellentexten in drei Bänden zusammengestellt, die sich gegenüber der Sehlingschen Edition durch zwei Erweiterungen auszeichnen: Zum einen nehmen die Herausgeber nicht nur Texte des 16. Jahrhunderts auf, sondern setzen den zeitlichen Rahmen von den Anfängen der Reformation beider Städte in den 1520er-Jahren bis ins späte 17. Jahrhundert, genauer bis ins Jahr 1675, das mit der Formula Consensus den Schluss der Zürcher und Basler Reformationsgeschichte bildet. Zum anderen umfassen die Bände Texte, deren Inhalt weit über die durch den Titel suggerierte Dokumentation des reformatorischen Umbruchs hinausgeht und ein Themenspektrum bietet, das mit dem Begriff der Policeyordnung möglicherweise treffender beschrieben wäre.

Diese Begrifflichkeiten hintangestellt, bietet die Edition ein reiches Corpus von Quellen zur Geschichte beider Städte vor dem Hintergrund der Konfessionalisierung im 16. und 17. Jahrhundert. Sämtliche edierten Stücke sind als obrigkeitliche Erlasse einzustufen. Dabei wurden nur Texte mit anweisendem, ordnendem Charakter aufgenommen, jedoch keine Einzelfallregelungen, es sei denn, dass diese zu einem späteren Zeitpunkt allgemeine Gültigkeit erlangten. Die Ordnungen befassen sich vorwiegend mit Fragen des Armenwesens, der Luxusverbote und des sittlichen Verhaltens der Bevölkerung. Hier zeigen sich viele Facetten des städtischen Zusammenlebens, vor allem aber der obrigkeitlichen Disziplinierungsversuche. Der Leser erhält lebendige Einblicke in Bräuche an Fastnacht, bei Tauffeiern, Hochzeiten und Begräbnissen. Ferner werden Kleidermoden sowie ausschweifendes Spielen und Tanzen reglementiert, die Anzahl der Wirtshäuser wird beschränkt, und es werden Regelungen für das Almosen- und Bettlerwesen sowie Maßnahmen gegen Wahrsager und Zauberer getroffen.

Daneben präsentieren die Bände einzelne Regelungen, die sich mit Gottesdienst, Liturgie, Sakramentenverwaltung und anderen Amtstätigkeiten der evangelischen Geistlichen befassen. Aus Zürich zählen hierzu ein Mandat gegen Heiligenbilder (Nr. 13), mehrere Mandate zur Kindertaufe (Nr. 15, 16, 34), das Verbot für die Gläubigen, die Messen zu besuchen (Nr. 35), die Mahnung zum Besuch der Gottesdienste und der Predigten (Nr. 47, 53, 70, 82, 92), ein Mandat zum Katechismusunterricht (Nr. 184) sowie eine Pfarr- und Synodenordnung (Nr. 59). Im Basler Band befassen sich die ersten drei Mandate der Jahre 1528 und 1529 mit Täufern und evangelischen Gottesdiensten. Die Anzahl der in beiden Bänden enthaltenen Ordnungen, die Gottesdienst, Liturgie und kirchliche Lehre behandeln, ist jedoch gemessen an den Texten „policeylichen“ Inhalts gering; zudem sind die Texte mit innerkirchlicher Thematik nur aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts überliefert. Ebenso wie in anderen Städten und Territorien, in denen die Reformation eingeführt worden war, gab es zwar auch in Zürich und Basel solche Regelungen, sie wurden jedoch in den vorliegenden Bänden nicht berücksichtigt.

Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem der Edition, das die Auswahl der Quellen betrifft. Die Zusammenstellung der Texte erfolgte nämlich nicht anhand einer übergeordneten Fragestellung, sondern war von äußeren Faktoren bestimmt: Die im Zürcher Band abgedruckten Texte bilden einen Bestand des Zürcher Staatsarchivs ab. Im Einzelnen handelt es sich um fünf Bände mit gedruckten sowie sechs Bände mit handschriftlichen Ordnungen und Mandaten (Zürich, Bd. 1, S. XXIVf.). Das weitgehend vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Editionsprojekt, dessen Laufzeit auf fünf Jahre begrenzt war, verlangte – wie die Herausgeber betonen (Zürich, Bd. 1, S. XXV; Basel, S. XVII) – ohne Frage eine klare Abgrenzung der aufzunehmenden Quellen. Diese an rein formalen Kriterien wie denen eines Archivbestands auszurichten, erscheint jedoch auch hinsichtlich der späteren Auswertungsmöglichkeiten als nicht sinnvoll, da unklar bleibt, welchen Stellenwert der Bestand innerhalb der Zürcher und Basler Überlieferung des 16. Jahrhunderts besitzt. Besonders deutlich wird dies im Zürcher Band an den rund 60 Mandaten, mit denen zwischen 1620 und 1675 nahezu jährlich Bettage anberaumt wurden. Diese Mandate gehen zwar auf verschiedene Anlässe zurück, doch gleichen sie sich in ihrem Inhalt so sehr, dass sich – namentlich vor dem Hintergrund der knappen finanziellen Mittel und der zeitlichen Beschränkung – die Frage stellt, warum es nötig war, so viele gleichartige Stücke abzudrucken. Gerade unter den engen Rahmenbedingen des Projekts wäre eine an inhaltlichen Kriterien orientierte und womöglich kleinere Auswahl zweckmäßiger gewesen als die Unterordnung unter ein formales Diktat und der sklavische Abdruck sämtlicher Stücke eines als „Corpus“ definierten Archivbestands. Das Auswahlkriterium einer Archivalieneinheit wurde auch im Band mit den Basler Kirchenordnungen angewendet. Hier hat man sogar – „mangels Ressourcen“ – vollständig auf handschriftliche Quellen verzichtet. Angesichts der inzwischen an zahlreichen Bibliotheken und Archiven durchgeführten Digitalisierung historischer Drucke wurde hier die Möglichkeit verschenkt, handschriftliche und damit einzigartige Texte bekannt zu machen.

Die mit der Corpus-Bildung zusammenhängende Problematik wird in der Einleitung des Bandes mit den Zürcher Texten im Falle der Schulordnungen zwar angesprochen, man nimmt sie jedoch billigend in Kauf: „Schulordnungen existieren allerdings mehrere ausserhalb des hier bearbeiteten Text-Corpus in handschriftlicher Form, die Verzerrung der Auswahl [an Quellen] kommt durch die Begrenzung des Corpus zustande“ (Zürich, Bd. 1, S. XXXIV). Die Einleitungen der Bände informieren ferner über Wesen und Bedeutung von Kirchenordnungen als Quellengattung und geben jeweils einen knappen „Überblick über Inhalt und Entwicklung“ der Texte, in dem die verschiedenen Arten von Ordnungen und Mandaten vorgestellt werden. Zu allgemeinen historischen Rahmenbedingungen bzw. zur Reformationsgeschichte in Zürich und Basel erfährt der Leser leider sehr wenig und erhält auch kaum weiterführende Literatur an die Hand.

Die Editionsrichtlinien sind detailliert beschrieben, die kritisch edierten Texte sollen auch der „deutschen Sprachgeschichte“ zur Auswertung dienen (Zürich, Bd. 1, S. XVIII; Basel, S. X). In diesem Zusammenhang fällt jedoch der Umgang mit grammatikalischen Eigenarten des Frühneuhochdeutschen negativ auf: Zu den Charakteristika der Quellensprache des 16. Jahrhunderts gehört ein Satzbau, dessen Wortfolge von der heute üblichen abweicht. Umso erstaunlicher ist, dass nahezu in jedem Stück auf diesen Sachverhalt hingewiesen wird. Ein extremes Beispiel findet sich unter den Zürcher Ordnungen: Im Mandat zum Verbot von Schwüren (Zürich, Bd. 1, Nr. 3, S. 4) wurden in den ersten sechs Zeilen der Edition sechs textkritische Anmerkungen gemacht, in denen unter stetem Verweis auf die „fehlende Inversion im Nebensatz“ jeweils die entsprechende neuhochdeutsche Syntax erläutert wird.

Die Quellen sind durch Bibelstellen-, Personen- und Ortsregister erschlossen. Zusätzlich ist beiden Bänden eine CD-ROM beigegeben, die das gesamte Typoskript noch einmal im PDF-Format enthält. Da keinerlei Kommentar für die spezifische Nutzung der digitalen Ausgaben hinzugefügt ist, bleibt offen, wie diese verwendet werden sollen. Naheliegend ist es jedoch, mittels Volltextsuche Sachbegriffe im Text auffindbar zu machen. Ein Sachregister zu erstellen, ist eine zeitraubende und mühsame Arbeit. Dieses Register durch eine PDF-Datei mit Volltextsuche zu ersetzen, erweist sich jedoch nur auf den ersten Blick als sinnvoller Ersatz, denn das Frühneuhochdeutsche kannte noch keine Sprachnormierung, so dass sich für einen Begriff aufgrund seiner zahlreichen Schreibvarianten zum einen nicht alle Belegstellen zuverlässig finden lassen, zum anderen mehr Treffer als beabsichtigt ausgeworfen werden: Gibt man etwa zu Basel den Suchbegriff „Taufe“ ein, erhält man das gesamte Spektrum verwandter Wörter, von „Johannes dem Täufer“ bis hin zu „Wiedertäufer“. Beim Suchbegriff „Messe“ erstreckt sich das Trefferspektrum sogar auf die Begriffe „gemessen“, „ermessen“, „vermessen“ sowie „Messerscheide“.

Die von den Herausgebern formulierte Hoffnung, dass die Edition „die Erforschung der Basler Reformations- bzw. Kirchengeschichte erleichtern und anhaltend fördern“ möge (Basel, S. IX), dürfte sich nur bedingt erfüllen, da die Quellen lediglich wenige spezifisch reformations- und kirchengeschichtliche Inhalte bieten und eine ungewisse Anzahl an Stücken möglicherweise einschlägigerer handschriftlicher Ordnungen nicht ediert worden ist, weil sie nicht zum ausgewählten Corpus gehören (vgl. Zürich, Bd. 1, S. XXVII). Ein direkter Vergleich der Zürcher und Basler Kirchenordnungen mit der Sehlingschen Edition etwa unter der Fragestellung, wie die von Zwingli geprägte Reformation und das kirchliche Ordnungswesen auf die süddeutschen Reichsstädte ausstrahlten und welche Beziehungen sich in den Maßnahmen bei Einführung der Reformation ergaben, ist somit aufgrund divergierender Inhalte nur eingeschränkt möglich.

Die Stärke der Editionsbände liegt jedoch in der eingangs bereits herausgestrichenen zeitlich und inhaltlich breit angelegten Zusammenstellung obrigkeitlicher Erlasse aus den frühneuzeitlichen Zentren Zürich und Basel. Die Bände stellen ein umfassendes Quellenwerk für die Alltags- und Sozialgeschichte beider Städte dar und lassen sich insbesondere mit dem Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit3 korrelieren. Es bleibt zu wünschen, dass die vorgelegten Editionen um weitere Bände ergänzt würden, in denen die handschriftliche Überlieferung berücksichtigt wird.

Anmerkungen:
1 Norbert Haag / Sabine Holtz / Sabine Arend (Hrsg.), Die württembergische Kirchenordnung von 1559 im Kontext, Stuttgart 2012 (im Druck).
Irene Dingel / Armin Kohnle (Hrsg.), Gute Ordnung. Ordnungsmodelle und Ordnungsvorstellungen im Zeitalter der Reformation, Leipzig 2013 (im Druck); Johannes Wischmeyer (Hrsg.), Zwischen Theologie und Administration. Modelle territorialer Kirchenleitung und Religionsverwaltung im Jahrhundert der europäischen Reformationen, Göttingen 2013 (im Druck).
2 Emil Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Bde. 1-5, Leipzig 1902–1913; Bde. 6-8, 11-15, Tübingen 1955–1980; Bde. 9, 10, 16-20, 24, Tübingen 2004–2012. Die Reihe wird bis 2016 abgeschlossen sein und dann insgesamt 24 Bände umfassen.
3 Karl Härter / Michael Stolleis (Hrsg.), Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, 10 Bde., Frankfurt 1998-2010. Die Reihe wird fortgesetzt.

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