T. Frank u.a. (Hrsg.): Nikolaus von Kues als Reformer

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Titel
Renovatio et unitas – Nikolaus von Kues als Reformer. Theorie und Praxis der reformatio im 15. Jahrhundert


Herausgeber
Frank, Thomas; Winkler, Norbert
Reihe
Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 13
Erschienen
Göttingen 2012: V&R unipress
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Udo Reinhold Jeck, Institut für Philosophie, Ruhr-Universität Bochum

Zahlreiche Philosophen der Vergangenheit leben im allgemeinen Bewusstsein nur durch signifikante Leitbegriffe ihrer Konzeptionen fort: Platon erscheint dabei als Denker der Idee, Hegel setzte auf die Dialektik, Heidegger durchdachte das Sein. Der Kardinal Nikolaus von Kues (1401–1464) hat eine derartige Popularität eigentlich nie erreicht, aber wer seine Philosophie kurz und treffend charakterisieren wollte, könnte an die Formel coincidentia oppositorum denken. Dass jedoch auch Termini wie renovatio, unitas und reformatio das Gedankengebäude des Cusanus grundlegend bestimmten, zeigt überzeugend der oben genannte Sammelband mit Beiträgen ausgewiesener Spezialisten, der aus einem Workshop im Februar 2011 an der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Thomas Frank und Norbert Winkler hervorging.

Die dort diskutierten Abhandlungen beweisen eindeutig, dass Nikolaus von Kues als Theoretiker und Praktiker am Gedanken der reformatio festhielt und niemals auf Revolution oder gar voreilig auf Umsturz setzte, sondern selbst scheinbar unüberwindbare, auf die Spitze getriebene Gegensätze durch Ausgleich versöhnen wollte: Obwohl ihn und sein Werk mehr als ein halbes Jahrtausend von der Gegenwart trennt, enthält es dennoch wertvolle Denkanstöße zur Lösung einiger zentraler Probleme der Moderne. Cusanus erarbeitete nämlich Strategien, die jenseits voreiliger Aktualisierungen in einer von ihren inneren Widersprüchen zerrissenen Welt Beachtung verdienen. Sie bergen sogar große Potentialitäten zur Konfliktlösung, denn die Botschaft, die von seinem Werk ausgeht, lässt keinerlei Missverständnisse zu: Die Einheit steht höher als die Differenz, Erneuerung und Reformation bewirken mehr als Destruktion oder Konfrontation. Derartige Einsichten erlangte Nikolaus von Kues allerdings nicht durch unrealistische theoretische Entwürfe, sondern eher durch ihre Anwendung auf und durch Erprobung in der Praxis. Dabei agierte er erfolgreich auf mehreren Ebenen.

Durch das gegenwärtige Erstarken des Islam gewinnen vor allem die intensiven Bemühungen des Kardinals um eine Verständigung mit jener Religion höchste Aktualität, die im 15. Jahrhundert ihren Anspruch auf die Weltherrschaft eindrucksvoll und mit Gewalt unterstrich. Die Eroberung von Konstantinopel (1453) durch den islamischen Orient erschütterte damals die Grundfesten des christlichen Okzidents. Indem die Stadt Konstantins des Großen, der einst das Christentum im römischen Reich durchsetzte, in die Hände der Türken fiel, erlebten die Christen eine symbolträchtige Niederlage von historischer Tragweite: Als hochgestellter klerikaler Würdenträger griff Nikolaus von Kues in die Auseinandersetzung mit dem Islam ein. Er erwies sich insofern als außerordentlich weitsichtig und gehört zu jenen großen Denkern, die in verschiedenen Epochen auf je eigene Weise für religiöse Toleranz eintraten. Dabei ließ sich der Kardinal auch durch originelle Ideen anderer Intellektueller seiner Zeit inspirieren (Florian Hamann, Wie man Muslime vom Christentum überzeugt – Der mögliche Einfluss Georgs von Trapezunt auf Nikolaus von Kues und Enea Silvio, S. 205–237). Allerdings bleibt „die Darstellung der intellektuellen Konfrontation mit dem Islam im 15. Jahrhundert immer noch ein Forschungs-Desiderat“ (S. 237).

Als weitere zentrale Konfliktherde des 15. Jahrhunderts erscheinen die internen Spaltungstendenzen des Christentums. Auch diese Epoche litt – wie die Moderne – einerseits an der Unbeweglichkeit und Erstarrung der großen religiösen Institutionen, andererseits aber auch an Extremismus und fundamentalistischer Radikalität separatistischer Gruppen, die damals wie heute zu Hass, Zwietracht und Krieg führten. Zwar hat Cusanus das reformatorische Zeitalter eines Luther oder Calvin nicht mehr erlebt, aber nach dem gewaltsamen Tod des Jan Hus 1415 während des Konzils zu Konstanz blieb die Auseinandersetzung mit den Hussiten in Böhmen ein empfindliches Problem mit großem Störpotential. Nikolaus von Kues beteiligte sich konstruktiv und mit neuen Ideen an dieser Kontroverse (Gerhard Senger, Renovatio und unitas als cusanische Leitideen in der literarischen Auseinandersetzung mit den hussitischen Böhmen, S. 19–36). Auch hier beharrte er auf der Einheit der Kirche, gestand aber dennoch den Hussiten eine gewisse Eigenständigkeit im Ritus zu. Sein Credo formuliert er klar und deutlich: „Niemand zweifelt ja daran, dass unter Wahrung der Einheit in ebendieser Kirche ein abweichender Ritus ohne Gefährdung [der Einheit] existieren kann“ (S. 35).

Weitere reformatorische Reaktionen des Nikolaus von Kues auf die Missstände der durch vielfachen Niedergang schwer gezeichneten Kirche betreffen interne Auflösungs- und Verfallserscheinungen ihrer Basis. Cusanus setzte dabei ebenfalls auf reformatio: Dieser Leitbegriff bedeutete für ihn eben nicht nur spektakuläre Aktivitäten in den klerikalen Makrostrukturen, sondern vielmehr auch ein Wirken im vielfach und labyrinthisch verzweigten Mikrokosmos der kirchlichen Institutionen, das heißt, der mutige Kardinal setzte das Werkzeug der reformatio eher in membris als in capite ein (Jürgen Dendorfer, Die Reformatio generalis des Nikolaus von Kues zwischen den konziliaren Traditionen zur Reform in capite und den Neuansätzen unter Papst Pius II. [1458–1464], S. 137–155). Als vorsichtiger Reformer und Kenner menschlicher Verfehlungen ahnte Cusanus nämlich, dass Erneuerung auch ein Umdenken von unten erforderte. Daran orientierte er sein Wirken und bewies dabei einen langen Atem: „Ziel des Cusanus ist somit nicht primär die Wiederherstellung eines maßvoll neujustierten, in Reformdekreten vorgeprägten institutionellen Aufbaus der Kirche, sondern die Erinnerung Einzelner an die Verpflichtung, die sie einst mit ihrem Gelübde übernommen hatten“ (S. 155).

Dass eine Detailanalyse jener komplexen Prozesse, die Nikolaus von Kues in Gang setzte, überraschende Erkenntnisse zu seiner Strategie zutage fördert, beweisen drei weitere wichtige Untersuchungen dieses Sammelbandes: Der Kardinal nutzte das Amt des Predigers zur Verbreitung seiner reformatorischen Gedanken (Thomas M. Izbicki, Cusanus Preaches Reform. The Visitation of St. Simeon, Trier, 1443, and the Legations Topos in His Sermons, S. 105–116), kümmerte sich sogar um eine Reform mehr lokaler Institutionen (Thomas Frank, Cusanus und die Reform der Hospitäler von Orvieto [1463], S. 157–176) und trieb auch die Erneuerung wichtiger Ordensverbände voran (Thomas Woelki, Kirchenrecht als Mittel der Reform. Nikolaus von Kues und die Seelsorgeprivilegien der Mendikantenorden, S. 117–135).

Cusanus lenkte seinen Blick jedoch nicht nur einseitig auf kirchliche Missstände, sondern fasste – wie viele seiner Zeitgenossen – eine reformatorische Umgestaltung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ins Auge (Gisela Naegle, „Mortalis morbus imperium Germanicum invasit“ – Cusanus und seine Zeitgenossen als Reichsreformer, S. 177–203). Bei der Bedeutung der Kirche und ihrer hohen Funktionäre im 15. Jahrhundert ließen sich beide Problemfelder – kirchliche Reformbemühungen und Neugestaltung des Reichs – gar nicht voneinander trennen. Dabei setzte der Kardinal keineswegs auf Macht oder empfahl gewaltsame Lösungen; er blieb vielmehr dem Gedanken der ausgleichenden Einheit treu, indem er mit eigenständigen Reformvorschlägen der „Sehnsucht“ seiner Zeitgenossen „nach Frieden, Eintracht und Harmonie“ (S. 203) entgegen kam.

Dort und bei vergleichbaren Problemfeldern vergaß Nikolaus von Kues jedoch niemals, dass nachhaltig wirkende Reformen als festes Fundament eines theoretischen Konzepts bedürfen. Deshalb untermauerte er seine Reformbestrebungen philosophisch bzw. ließ sein philosophisches Denken in die Praxis der reformatio einfließen. Insofern widerlegte der Kardinal glänzend das Vorurteil jener, die Philosophen als weltfremde und von der Wirklichkeit abgeschottete Intellektuelle betrachten. Er erscheint in seinen reformatorischen Bemühungen eher als ein Intellektueller, der sich den Problemen der eigenen Zeit stellte und sein Leben nicht ausschließlich in der Abgeschiedenheit eines rein kontemplativen Gelehrtenlebens verwirklicht (Isabelle Mandrella, Reformhandeln und spekulatives Denken bei Nicolaus Cusanus. Eine Verhältnisbestimmung, S. 37–51, besonders S. 39–41). Nikolaus von Kues agierte nicht rein pragmatisch, sondern gemäß den Leitlinien eines sorgfältig begründeten und tief durchdachten philosophischen Gedankengebäudes.

Im Hinblick darauf hat Cusanus traditionelle philosophische Grundkonzeptionen in seinem Sinne umgearbeitet; wer will, kann auch das als Reformation bezeichnen (Thomas Leinkauf, Renovatio und unitas. Nicolaus Cusanus zwischen Tradition und Innovation – Die ‚Reformation‘ des Möglichkeitsbegriffs, S. 87–104). Dabei gewann der Begriff der Möglichkeit (posse) eine grundlegende Bedeutung, denn in der aktiven Umgestaltung des „mundus humanus […] zu einer eigenen Welt neben der göttlichen und der physischen Welt […] realisiert sich […] über unterschiedliche Vermögen […] das posse humanum […]“ (S. 103).

Dass Reformversuche und die Erkundung neuer Möglichkeiten oft an ihre Grenzen stoßen und generell Mut erfordern, zeigt das Scheitern Meister Eckharts, eines verfemten Denkers, den Cusanus keineswegs übersehen hat. Als eigenwilliger Philosoph strebte Eckhart einst eine tief greifende Veränderung der damaligen Kirche an, geriet aber mit dieser mächtigen Institution in Konflikt und litt unter ihrer intoleranten, dominanten und aggressiven Grundhaltung. Indem Nikolaus von Kues das Denken dieses umstrittenen Dominikaners vorsichtig modifizierte, passte er „die theologisch-metaphysischen Reformbemühungen Eckharts […] seinen sehr eigenen Intentionen“ (Norbert Winkler, Eine Reform der Reform – Cusanus’ renovatio der eckhartschen Denkungsart unter christologischem Vorbehalt, S. 53–86, hier S. 54–55) an. Damit vollzog er eine „Reform der Reform“ und bewies insofern höchstes strategisches Geschick.

Nicht nur dieser Beitrag, sondern ebenso alle anderen Abhandlungen dieses auch in seiner Ausstattung mit Registern exzellenten Sammelbandes zu Nikolaus von Kues gewähren tiefe Einblicke in das komplexe Lebenswerk eines ungewöhnlichen Denkers, der sich und sein Werk in den Dienst der Reform stellte. Darüber hinaus führt ihre Lektüre aber auch zu der Einsicht, dass Cusanus die Welt nicht nur in originellen Werken scharfsinnig interpretiert, sondern ebenso sehr auf der Grundlage seines eigenständigen Denkens nachhaltig verändert hat.