W. Plumpe u.a. (Hrsg.): Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft

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Titel
Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik


Herausgeber
Plumpe, Werner; Scholtyseck, Joachim
Reihe
Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus Wissenschaftliche Reihe 11
Erschienen
Stuttgart 2012: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
231 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Roesler, Leibniz-Sozietät Berlin

Nach 1990 verlor die Wirtschaftsgeschichte als Wissenschaftszweig an Bedeutung. Die größte wirtschaftshistorische Forschungsinstitution in Deutschland, das von Jürgen Kuczynski gegründete Institut für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR in Ostberlin, wurde abgewickelt, die Lehrstühle an den ostdeutschen Universitäten wurden auf ein Minimum reduziert. Widerspruch seitens der Wirtschaftshistoriker im Westen Deutschlands regte sich kaum. Ein wesentlicher Grund lag im Siegeszug des Neoliberalismus an den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der deutschen Hochschulen. Mit dem Zusammenbruch der osteuropäischen Planwirtschaften und den folgenden knapp zwei Jahrzehnten beachtlichen wirtschaftlichen Wachstums in den westlichen Industrieländern bei reduzierter Staatseinmischung glaubten viele, es bedürfe keiner weiteren Diskussionen mehr darüber, wie die „richtige“ Ordnungspolitik auszusehen habe.

Mit der 2008 einsetzenden und bis heute andauernden wirtschaftlichen Krise hat sich die Situation geändert. Die Diskussion drüber, welche wirtschaftlichen Entscheidungen und sozialen Entwicklungen man unbesehen „den Märkten“ anvertrauen könne und welche man besser dem Staat überlässt, setzte wieder ein – damit auch der Streit um die Rolle des Staates für die Ordnung der Wirtschaft. Die Frage: „Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?“ wird wieder gestellt. Der Rückgriff auf in der Vergangenheit gemachten Lenkungserfahrungen mit unterschiedlichen Mustern von Staatsintervention und Marktfreiheit ist wieder opportun, die Wirtschaftsgeschichte damit wieder gefragt.

Der von Werner Plumpe und Joachim Scholtyseck herausgegebene Konferenzband entspricht also einem aktuellen Bedürfnis. Das Buch, das die Erträge eines Kolloquiums zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft enthält, das im Oktober 2010 stattfand, wird schon wegen des Themas seine Leser finden. Und die werden nicht enttäuscht sein, denn es war den Veranstaltern gelungen, durchweg Referenten zu gewinnen, die sich auf dem Forschungsfeld, für das sie vortrugen, bereits einen Namen gemacht haben. Die Reihe der neun chronologisch geordneten Beiträge eröffnet Werner Plumpe mit der Darstellung des Spannungsverhältnisses von Ordnungspolitik, Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik im deutschen Kaiserreich. Der Gründerkrach, die größte Deutschland im 19. Jahrhundert treffende Wirtschaftskrise, ließ an den Selbstheilungskräften des Marktes zweifeln. Der Staat griff stützend ein. Parallel dazu wurde die Vorherrschaft der wirtschaftsliberalen Lehre durch die Dominanz des „Kathedersozialismus“ abgelöst. Roman Köster weist nach, dass mit dem Untergang des Kaiserreichs dieser den Staatsinterventionismus gutheißende ordnungspolitische Rahmen bröckelte. Neue Leitbilder wurden entwickelt, darunter auch das einer sozialen Marktwirtschaft. Sie konkurrierten in der Weimarer Republik miteinander, ohne dass jedoch eines der neuen Modelle dominant wurde.

1933 setzte sich unter den politischen Bewegungen der Weimarer Republik der Nationalsozialismus durch. Jochen Streb fragt, ob es sich bei dem nach der „Machtergreifung“ installierten Wirtschaftslenkungssystem um ein staatswirtschaftliches, ein indirekt sozialistisches ordnungspolitisches System gehandelt habe. Er verneint dies und vertritt die Auffassung, dass in der Wirtschaft des „Dritten Reiches“ „wesentliche Kernelemente einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung“ überlebt hätten (S. 83). Ludwig Erhards „soziale Marktwirtschaft“, der sich Joachim Scholtyseck widmet, war deshalb auch keine so radikale Ordnungsinnovation, wie es Erhard seinerzeit behauptete und wie es seine Erben heute darzustellen versuchen. Das bezieht sich sowohl auf die in Erhards Programm dominierenden marktwirtschaftlichen Elemente, die den Unternehmern zwischen 1933 und 1945 nicht fremd geworden waren, als auch auf die staatsinterventionistischen, an die sich die Unternehmer im „Dritten Reich“ gewöhnt hatten.

Erhard – über ein Jahrzehnt Bundeswirtschaftsminister und danach Bundeskanzler – wurde gestürzt, als das von ihm geprägte dominant marktwirtschaftliche Regulierungssystem in der (leichten) Wirtschaftskrise von 1966 versagte. Unter den ihm nachfolgenden Kanzlern Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt und Helmut Schmidt öffnete sich Deutschland dem Keynesianismus, auf dessen ordnungspolitischer Grundlage Rezepte zur staatlichen Krisenbekämpfung entwickelt und (zunächst erfolgreich) erprobt wurden. Alexander Nützenadel analysiert das „Keynesianische Experiment“ der Bundesrepublik, das Anfang der 1980er-Jahre abgebrochen wurde, nachdem seit den beginnenden 1970er-Jahren, besonders aber nach der ersten die Bundesrepublik empfindlichen treffenden Nachkriegskrise von 1974/75 die zur „Stagflation“, das heißt einer Kombination von Inflation und geringem Wirtschaftswachstum, führende Steuerungsschwäche des Staates zunahm.

Nunmehr hatte Helmut Kohl leichtes Spiel, als er sich 1982, nach dem erneuten Einsetzen einer Wirtschaftskrise und nach dem dadurch verursachten Sturz von Kanzler Schmidt, zur Wahl stellte und eine ordnungspolitische Wende versprach. Andreas Wirsching stellt fest, dass sich die programmatisch auf Modernisierung, Liberalisierung und Strukturwandel festgelegte Wirtschaftspolitik des Kanzlers in verhältnismäßig engen Grenzen bewegte. Sich auf Wirtschafts- und Sozialstatistiken stützend, die er akribisch ausgewertet hat und die er übersichtlich dem Leser präsentiert, schätzt Wirsching ein, dass Kohls Wirtschaftspolitik keine liberalen Konzepte zugrunde lagen, „sondern eher bürokratisch-autoritäre Lösungen, häufig freilich im Mantel neoliberaler Markt- und Effizienztheoretik“ (S. 150). Wie es in den 1990er- und 2000er-Jahren ordnungspolitisch weiterging, dazu äußert sich Karl-Heinz Paqué. Vorrangig die Wirtschaftsentwicklung in den „neuen Bundesländern“ analysierend, stellt er fest, dass bestimmte Merkmale der neoliberalen Wirtschaftsordnung wie etwa die Auflösung des Flächentarifvertrages erst mit den Hartz-Reformen des Kohl-Nachfolgers Gerhard Schröder voll wirksam wurden, wobei die zur „verlängerten Werkbank“ des Westens gewendete Industrie im Osten auf diesem Weg voranging.

Die Wiedervereinigung hatte mit der Währungsunion ordnungspolitisch die Übernahme des Kohlschen Konzeptes für den Osten bedeutet, als die DDR 1990 ihre Staatlichkeit verlor. Mit deren Wirtschaftssystem befasst sich André Steiner. Er analysiert die Planwirtschaft unter dem Aspekt eines ordnungspolitischen Konkurrenzunternehmens zur bundesdeutschen Marktwirtschaft. Steiner konstatiert, dass der wirtschaftliche Rückstand zur Bundesrepublik von einem Drittel Anfang der 1950er-Jahre auf zwei Drittel 1989 wuchs. Die Vergrößerung des Abstandes, so Steiner, „war in erster Linie dem Wirtschaftssystem zuzuschreiben“ (S. 175). Zuviel Staatseinmischung auf der einen, ausreichend Unternehmensfreiheit auf der anderen Seite. Es wäre angebracht gewesen, noch auf einige andere, die DDR im Konkurrenzkampf mit der BRD benachteiligende Faktoren von Gewicht einzugehen: Die (pro Kopf) vielfach größeren Reparationslasten der DDR, die ostdeutschen Wanderungsverluste an qualifiziertem Personal (bis 1961), die gleichzeitig westdeutsche Wanderungsgewinne waren, der Ausschluss der DDR aus Hightech-Importen (vor allem im Bereich der Mikroelektronik) durch die amerikanische Embargopolitik.1

Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft? Dieser Frage hatte sich jeder Autor bei seinen historischen Untersuchungen zu stellen. Karen Horn widmet sich dem Problem im abschließenden Beitrag explizit. Bezogen auf den Staat des beginnenden, durch die neoliberale Lehre geprägten 21. Jahrhunderts stellt sie fest, dass der moderne Staat offensichtlich seine Aufgabe darin sieht, die Wirtschaft alles machen zu lassen, was nicht ausdrücklich verboten ist – auch wenn dies auf Kosten der Bürger geschieht.

Anmerkung:
1 Rainer Karlsch, Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945–1953, Berlin 1993, S. 234; Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn 2004, S. 286f.; Jörg Roesler, Einholen wollen und Aufholen müssen, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 263–285.

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