Cover
Titel
The Lost German East. Forced Migration and the Politics of Memory, 1945–1970


Autor(en)
Demshuk, Andrew
Erschienen
Anzahl Seiten
XXII, 302 S.
Preis
$ 99.00 / £ 60.00 / € 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Scholz, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Vor Jahrzehnten schon gab es einen Witz, der von einem Ostpreußentreffen auf dem Marktplatz von Wanne-Eickel erzählte: Alle haben sich mal wieder gesehen und Geschichten aus der alten Heimat aufgefrischt. Der Versammlungsleiter geht auf die Bühne, greift das Megaphon und sagt: „Ja, mejne lieben Brrieder and Schwestan, lasst uns doch zum Schluss noch maa jemainsam singen ‚Nach die Heijmat will ich jehn’, eijns, zweij, drrreij…‘“ – Keiner singt. Der Versammlungsleiter wird etwas unruhig und wiederholt seine Aufforderung. Erneut herrscht totale Stille. Leise vernimmt man die Worte des Moderators: „Naja, wenn das so iss, dann bleijb ich auch hierr.“

Diese zum Witz verdichtete Anekdote umreißt den Untersuchungsgegenstand der Dissertation von Andrew Demshuk, mit der er 2010 an der University of Illinois promoviert wurde und die nun als Buch vorliegt. Ausgehend von der Beobachtung, dass die 1970 geschlossenen Ostverträge, die eine faktische Anerkennung der Grenze zu Polen implizierten, unter den deutschen Vertriebenen kaum Widerstand auslösten, fragt Demshuk danach, wie und warum es dazu kam, dass die Vertriebenen trotz der jahrzehntelangen Revisionspropaganda ihrer Verbände zu diesem Zeitpunkt in ihrer großen Mehrheit offenbar keine Rückkehrhoffnung mehr besaßen und sich mit der neuen Situation abgefunden hatten.

Das Jahr 1970 bildet somit den Ausgangs- und auch Endpunkt einer Untersuchung, die sich damit beschäftigt, wie die (west)deutschen Vertriebenen ihren Heimatverlust verarbeiteten. Davon ausgehend, dass der öffentlich dominierende Revisionsdiskurs vornehmlich eine Sache weniger Verbandsfunktionäre war, will Demshuk herausfinden, wie der mentale Prozess ablief, der bei den ‚normalen‘ Vertriebenen relativ früh in die Erkenntnis mündete, dass eine Rückkehr in die alte Heimat nicht mehr möglich sein werde. Demshuk konzentriert sich dabei – aus arbeitsökonomischen Gründen völlig legitim – auf die Teilgruppe der Schlesier. Zur Klärung seiner Ausgangsfrage zieht er eine beachtliche Menge oft schwer zugänglicher Quellen heran. Heimatbriefe, -chroniken und -zeitungen, Gemeinderundschreiben und weitere graue Literatur, die oftmals in kleiner Auflage erschienen ist und der Binnenkommunikation von Vertriebenen aus derselben Herkunftsregion diente, bilden hier ein Quellenkorpus, das nur schwer zu überschauen ist, das Demshuk aber souverän bearbeitet hat.

Der Autor interessiert sich besonders für die kulturellen und mentalen Verarbeitungsstrategien der Vertriebenen jenseits der oftmals ins Feld geführten sozialen und wirtschaftlichen Integrationserfolge oder der außenpolitischen Entwicklungen, deren versöhnliche bzw. resignative Wirkungen er etwas zu niedrig veranschlagt und nicht weiter verfolgt. Seine Kernthese zielt stattdessen auf die Verarbeitung des Heimatverlustes durch die Konstruktion zweier divergierender und letztlich unvereinbarer Heimatbilder. Zum einen war dies das verklärte Bild der erinnerten Heimat, die nostalgisch idealisierte Imagination einer heilen, harmonischen und konfliktfreien Welt – eine geradezu märchenhafte Erscheinung, deren irrealer Charakter den Vertriebenen nach Demshuks Ansicht aber durchaus bewusst war. Zum anderen und im Kontrast dazu entwickelten die Vertriebenen das Bild einer transformierten Heimat der Gegenwart als Ort von Zerfall und Zerstörung, Unordnung und Unsicherheit, Kulturlosigkeit und Entfremdung. Beide Bilder basierten auf lange etablierten und weiter gepflegten Stereotypen ‚deutscher Ordnung‘ und ‚polnischer Wirtschaft‘. Beide Bilder verzerrten somit die Realität, führten laut Demshuk jedoch dazu, dass die Endgültigkeit des Heimatverlustes bereits relativ früh anerkannt wurde und die Rückkehrbereitschaft rasch abnahm.

Begonnen habe dies bereits in der Vertreibungserfahrung selbst bzw. in der Phase unmittelbar vor der Vertreibung oder späteren Aussiedlung: Noch in der alten Heimat sei deutlich erlebt worden, dass das Vertraute durch den Abzug der Deutschen und den Zuzug der Polen den heimatlichen Charakter zunehmend verlor und dagegen fremd und ‚unheimlich‘ wurde. Diese Entfremdungserlebnisse seien dann in Gesprächen auf Heimattreffen sowie schriftlich weiter verbreitet und so zum Allgemeingut der Vertriebenen geworden. Erhärtet worden seien die Erlebnisse durch weitere Berichte und erste Reisen, die ab Mitte der 1950er-Jahre in begrenzter Zahl möglich wurden und unter den Vertriebenen den Eindruck intensivierten, dass ihre alte Heimat unwiderruflich ein fremdes Land geworden sei.

Gleichzeitig sei den intensiv kommunizierten Idealbildern der erinnerten Heimat eine kompensatorische Funktion zugekommen. Die Orte ihres Austausches seien dabei selbst zu „Heimat-Surrogaten“ geworden. Die Möglichkeit der Heimatpflege habe zur Bildung von Ersatzheimaten geführt, die eine tatsächliche Rückkehr weniger dringlich erscheinen ließen: „They [i.e. the expellees] choose to reside in memory.“ (S. 7) Insbesondere Heimattreffen hätten jenseits ihrer politischen Instrumentalisierung durch Verbandsfunktionäre oftmals eine gruppentherapeutische Wirkung entfaltet.

Diese zwei Komponenten eines erinnerungskulturellen Erklärungsmodells entfaltet Demshuk äußerst geradlinig und veranschaulicht sie plastisch an zahlreichen Beispielen aus seinem umfangreichen Quellenkorpus. Das Bild einer massenhaften, wenn auch stillen Graswurzelbewegung dissidenter Vertriebener, der eine kleine Kaste starrsinniger Funktionäre gegenüberstand, gerät dabei teilweise etwas zu holzschnittartig. Mitunter erscheinen schon bloße Bekundungen des Gewaltverzichts als Dokumente der Resistenz, wie etwa die offizielle „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ von 1950, in der die Spitzen der Verbände gleichzeitig das „Recht auf die Heimat“ als territorialen Anspruch festschrieben.

Indem Demshuk allein auf die abnehmende Rückkehrbereitschaft der Vertriebenen fokussiert, vernachlässigt er weitere geschichtspolitische Ziele nicht nur der Verbände, sondern auch der Politik, die wesentlich erfolgreicher verfolgt wurden. So konnte, wie auch aus Demshuks zitierten Quellen immer wieder ersichtlich wird, durch konsequente Ausblendung der deutschen Kriegspolitik als ursächlichem Kontext der Vertreibung einerseits und die Einschreibung eines überzeitlichen nationalen Narrativs vom ‚deutschen Osten‘ andererseits die Überzeugung breit und langfristig verankert werden, dass eine historische Berechtigung auf Rückkehr und Rückgliederung der Heimat bestehe, unabhängig von der Einschätzung ihrer tatsächlichen Realisierbarkeit. Im Bewusstsein blieb der Osten immer deutsch, auch wenn der Glauben verloren ging, dass er einmal wieder deutsch werden würde – so ließe sich diese Paradoxie zuspitzen.

Demshuks sehr quellennahe Darstellung geht manchmal etwas zu Lasten einer Anbindung an bereits vorhandene Forschungen, die seine Argumentation oftmals stützen, teilweise aber auch relativieren. Die Berücksichtigung der Literatur zur kirchlichen Vertriebenenseelsorge etwa hätte Demshuks vorschnelles und zu positives Urteil, das lediglich auf Gemeinderundbriefen der 1940er-Jahre basiert, korrigieren können: In den 1950er-Jahren förderten die Kirchen durchaus eine auf Rückkehr zielende „Heimatpolitik“.1

Abgesehen davon hat Demshuk eine sehr anregende, lesenswerte und gut lesbare Studie vorgelegt. Ihr besonderer Wert liegt darin, dass die Vertriebenen nicht (wie so oft) nur als passive Gefolgschaft der Vertriebenenverbände oder als anonymes Wählerpotenzial der Parteien vorkommen, sondern als eigenständig agierende Subjekte wahr- und ernstgenommen werden, deren persönliche Verarbeitungsstrategien es wert sind, rekonstruiert zu werden.

Anmerkung:
1 Vgl. Hartmut Rudolph, Evangelische Kirche und Vertriebene 1945 bis 1972, 2 Bde., Göttingen 1984/85; Robert Żurek, Zwischen Nationalismus und Versöhnung. Die Kirchen und die deutsch-polnischen Beziehungen 1945–1956, Köln 2005 (vgl. Sabine Voßkamp: Rezension zu: Zurek, Robert: Zwischen Nationalismus und Versöhnung. Die Kirchen und die deutsch-polnischen Beziehungen 1945-1956. Köln 2005, in: H-Soz-u-Kult, 15.08.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-113> [3.10.2012]); Sabine Voßkamp, Katholische Kirche und Vertriebene in Westdeutschland. Integration, Identität und ostpolitischer Diskurs 1945–1972, Stuttgart 2007 (vgl. Meryn McLaren: Rezension zu: Voßkamp, Sabine: Katholische Kirche und Vertriebene in Westdeutschland. Integration, Identität und ostpolitischer Diskurs 1945 bis 1972. Stuttgart 2007, in: H-Soz-u-Kult, 06.03.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-190> [3.10.2012]); Rainer Bendel (Hrsg.), Vertriebene finden Heimat in der Kirche. Integrationsprozesse im geteilten Deutschland nach 1945, Köln 2008 (vgl. Gregor Ploch: Rezension zu: Bendel, Rainer (Hrsg.): Vertriebene finden Heimat in der Kirche. Integrationsprozesse im geteilten Deutschland nach 1945. Köln 2008, in: H-Soz-u-Kult, 06.09.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-139> [3.10.2012]).