Semelin, Jacques; Andrieu, Claire; Gensburger, Sarah (Hrsg.): Resisting Genocide. The Multiple Forms of Rescue. New York 2011 : Columbia University Press, ISBN 978-0-231-70172-3 550 S. $ 50.00

Jones, Adam (Hrsg.): New Directions in Genocide Research. . London 2011 : Routledge, ISBN 978-0-415-49597-4 282 S. $ 47,95

Crowe, David M. (Hrsg.): Crimes of State Past and Present. Government-Sponsored Atrocities and International Legal Responses. London 2010 : Routledge, ISBN 978-0-415-57788-5 211 S. £ 24,95

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Jonas Kreienbaum, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die vergleichende Genozidforschung ist vor allem im angelsächsischen Sprachraum ein in den letzten Jahren und Jahrzehnten ungemein schnell wachsendes Forschungsfeld. Die drei hier besprochenen Sammelbände, die alle in den letzten zwei Jahren erschienen sind, bestätigen dabei eindrucksvoll sowohl die Vitalität als auch interdisziplinären Anspruch und Vielfältigkeit der Genocide Studies. Dabei verfolgen die drei Bände weitgehend unterschiedliche Ansätze. Während sich „Resisting Genocide“ einem klar umrissenen Thema widmet, versucht „New Directions in Genocide Research“ das gesamte Panorama der Genozidforschung thematisch wie methodisch auszuleuchten. „Crimes of State Past and Present“ erweitert den Blick dann noch einmal auf das gesamte Feld der Staatsverbrechen, ohne dabei aber eine ähnliche methodische Vielfalt anzustreben.

Wie weit sich die Genozidforschung im Zuge der Expansion der Disziplin mitunter von ihrem Ausgangspunkt – den Holocaust Studies – entfernt hat, zeigt am klarsten der von Adam Jones herausgegebene Band „New Directions in Genocide Research“, der ursprünglich auf eine Seminarreihe des Yale Genocide Studies Program aus den Jahren 2006 und 2007 zurückgeht. Der Holocaust steht in keinem der 14 Aufsätze, die in drei Teilen zu Theorien, Themen und Fällen angeordnet sind, im Vordergrund. Parallel zur Orientierung weg von der Shoah und der zunehmenden Öffnung hin zu neuen Fallbeispielen, lässt sich eine konzeptionelle Öffnung des Genozidbegriffs feststellen. Dieser von Adam Jones im Vorwort als „among the most exciting current trends in genocide studies“ bezeichnete „return to Lemkin“ (S. XX), meint vor allem die Inklusion des Konzepts des kulturellen Genozids, also der Zerstörung der kulturellen und sozialen Identität einer Gruppe, in die Genozid-Definition.1 Nur durch die konzeptionelle Öffnung lassen sich etwa Donna-Lee Friezes Untersuchung zur Zerstörung der Vijećnica Bibliothek in Sarajevo oder Benita Sumitas Aufsatz „Sri Lanka and Genocidal Violence“ unter dem Begriff Völkermord verhandeln. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass durch die Überdehnung des Begriffs jede analytische Brauchbarkeit verlorengeht, und die Genozidforschung beim Vergleich weitestgehend disparater Ereignisse und Prozesse keinen Erkenntnisgewinn mehr produziert.2

Neben der Bandbreite an Fallbeispielen – von der Vernichtung der Tolowa Indianer der amerikanischen Westküste Mitte des 19. Jahrhunderts (Benjamin Madley), dem „Congolese genocide“ seit 1998 (Paula Drumond) bis ins heutige Dafur (Carol Jean Gallo) – fällt der Band vor allem durch seine methodische Vielfalt auf. Neben den historischen Untersuchungen im dritten Teil des Bandes, finden sich in den ersten beiden Abschnitten des Buches beispielweise Christopher J. Powells soziologische Theorie zu „Genocidal Moralities“, die es Individuen als moralische Pflicht erscheinen lassen, genozidale Handlungen zu praktizieren (S. 38). Ernesto Verdeja entwirft eine neue „normative theory of bystanders“ (S. 153), die ein ganzes Kontinuum von möglichen Bystander-Positionen von „near-direct complicity“ bis „oppositional behavior“ identifiziert (S. 162f). Die Beiträge von Elisa von Joeden-Forgey und Paula Drumond spüren dem Zusammenhang von Gender und genozidaler Gewalt nach. Am außergewöhnlichsten ist sicherlich der Ansatz von Russell F. Schirmer, der mit der Auswertung von Satellitenbildern zur Erforschung von Völkermorden experimentiert. Ob dieser Ansatz allerdings tatsächlich zur erhofften Früherkennung von Massengewalt beitragen kann (S. 128), muss abgewartet werden. Warum einige dieser Beiträge unter der Rubrik „Theory“, andere unter „Themes“ verortet sind, bleibt unklar. Die Trennung wirkt artifiziell und wird in dem als Einleitung fungierenden „Editor’s preface“ nicht erklärt.

Insgesamt führt die thematische und methodische Offenheit des Bandes zu einem wenig kohärenten Ganzen. Es fehlt die analytische und/oder thematische Klammer, die die Aufsätze zusammenhalten könnte. Der Begriff ‚Genozid’ allein ist zumindest in seiner weiten Auslegung nicht dazu in der Lage. Das Buch versammelt zwar eine Reihe durchaus spannender Ansätze und interessanter, hochwertiger Artikel, wird aber in seiner Fragmentiertheit wohl nicht zu einem Klassiker der Genocide Studies werden.

Anders steht es in dieser Hinsicht um den von Jacques Semelin, Claire Andrieu und Sarah Gensburger zusammengestellten Band „Resisting Genocide“. Der hochkarätig besetzte Sammelband geht auf die 2006er Konferenz „Rescue Practices Facing Genocides. Comparative Perspectives“ am Science Po in Paris zurück und ist die englische Version des bereits 2008 erschienen französischsprachigen Originals. In zwei wichtigen Punkten stellt „Resisting Genocide“ einen klaren Kontrapunkt zum soeben besprochenen Band von Adam Jones dar. Erstens, ist das Thema eng begrenzt: Es geht nicht um Völkermord, Massengewalt oder kulturelle Unterdrückung im Allgemeinen, sondern ausschließlich um „acts of rescue in genocidal situations“ durch „ordinary people“ (S. 1f), wie es Semelin in seiner Einleitung formuliert. Dabei sind die analysierten genozidalen Situationen, zweitens, auf den absoluten Kanon der Genozidforschung beschränkt: Empirische Grundlage des Bandes bilden der Völkermord an den Armeniern, der Holocaust und der 1994er Genozid in Ruanda.3 Diese Fokussierung auf die ‚klassischen’ Fallbeispiele tut dem Band gut, denn nur da in allen Fällen tatsächlich die Intention zur (vollständigen) physischen Vernichtung der Opfergruppe bestand, wird ein Vergleich, der sich für die Akte der Lebensrettung interessiert, überhaupt sinnvoll.

Die Aufsatzsammlung gliedert sich in drei Teile. Die erste Sektion, überschrieben mit „Between history and memory: the notion of rescue“, widmet sich vor allem konzeptionellen Fragen. Die neun Aufsätze dieses Abschnitts diskutieren mögliche Analysekategorien von „Righteous among the Nations“ über „rescuer“, „help“ und „rescue“. Eine gemeinsame Frage zieht sich dabei durch alle Kapitel der Sektion: „How can we ‚interpret’ rescue acts, the ‚motivations’ of the ‚rescuers’ and more fundamentally, the correspondence noted between the context of aid and the survival of people threatened by genocide?“ (S. 15f) Die vielleicht zentrale Botschaft dieses ersten Teils ist, dass der Blick sich primär auf den Akt der ‚Rettung’ – oder genauer die Kette an Handlungen, die zur Rettung führen – und nicht so sehr auf den ‚Retter’ oder die ‚Retterin’ richten sollte. Besonders deutlich wird dies in Lee Ann Fujiis Beitrag zu „Rescuers and Killer-Rescuers During the Rwanda Genocide“, der gleichzeitig die Unterteilung in Täter, Opfer, Bystander und Retter hinterfragt (S. 145) und damit in eine ähnliche Richtung wie Ernesto Verdejas Beitrag in „New Directions in Genocide Research“ argumentiert.

Der zweite Abschnitt „The state, its borders and the conditions of aid“ versammelt zwölf Beiträge, die die Bedingungen der Rettung vor dem Hintergrund der staatlichen Massenvernichtung untersuchen. Vor allem vier Faktoren, so lässt sich synthetisieren, beeinflussten die Akte der Rettung: Erstens richtete sich die „chronology of rescue“ nach der „chronology of mass murder“ (S. 159). Zweitens kam es vielfach zu Konflikten zwischen verschiedenen Ebenen der Verwaltung, die Einfluss auf die Bedingungen möglicher Rettungsaktionen hatten. Drittens bedingte das Strafmaß, mit dem potenzielle Retterinnen und Retter zu rechnen hatten, die Bereitschaft zur Hilfe. Und viertens spielte die Existenz neutraler Staaten jenseits der Grenzen des genozidalen Staates eine wichtige Rolle.

Die dritte Sektion „Networks, minorities and rescuing“ vereinigt schließlich acht Artikel, die sich der Rettung von möglichen Genozidopfern aus der Mikro-Perspektive nähern. Im Vordergrund stehen historische Beispiele verschiedener lokaler Hilfsnetzwerke, die sich sowohl in Städten als auch in ländlichen Gegenden bildeten. Den Hintergrund bildet die Frage, was zur Mobilisierung dieser konkreten Hilfe für verfolgte Individuen führte. Waren es religiöse Überzeugungen, alte Freundschaften oder andere soziale Beziehungen? Vor allem aber, so eine zentrale Erkenntnis dieser Sektion, gilt es, neben moralischen Motiven auch die materiellen Bedingungen in die Analyse mit einzubeziehen. Ohne entsprechende Mittel – auch finanzielle – war Hilfe und Rettung schlicht unmöglich. (S. 366)

Insgesamt handelt es sich bei „Resisting Genocide“ um einen exzellenten Sammelband, der nicht nur die „rescue research“ erneuern wird (S. 14), wie die Herausgeber hoffen, sondern damit auch einen zentralen Beitrag zur Schließung einer der Leerstellen der Genozidforschung leistet. „Resisting Genocide“ dürfte damit gelingen, was nicht vielen Tagungsbänden gelingt: ein Standardwerk zu werden und die Forschung entscheidend voran zu bringen.

Der dritte hier besprochene Sammelband schließlich, das von David M. Crowe herausgegebene „Crimes of State Past and Present“, geht in seiner Anlage über die eigentliche Genozidforschung hinaus. Die „government-sponsored atrocities“, die im Untertitel angekündigt werden, umfassen neben Genoziden auch Kriegsverbrechen und es geht nicht allein um die Verbrechen an sich, sondern ebenfalls um die juristischen Reaktionen, die sie nach sich zogen. Der Band beginnt nach einer sehr kurzen Einleitung – zwei Seiten – mit einem ausführlichen, 50-seitigen Abriss Crowes zu „War Crimes and Genocide in History, and the Evolution of Responsive International Law“ von der Antike bis heute, der den gesamten Globus umfasst. Auch wenn der Autor eine bemerkenswerte Kenntnis der menschlichen Gewaltgeschichte nachweist, sind einige seiner Zusammenfassungen verzerrend: vor allem die Charakterisierung des Genozids in Ruanda als „tribal violence […] spun out of control“ (S. 27f) ist klar zu kritisieren, unter anderem da sie die Konstruiertheit der ethnischen Zuweisungen ‚Hutu’ und ‚Tutsi’ kaschiert. Auch hätte dem stark deskriptiven Text ein wenig analytische Zuspitzung gut getan.

Die nächsten beiden Aufsätze widmen sich der Analyse von Massenmorden während des zweiten Weltkrieges. Michele Frucht Levy konzentriert sich auf den „Genocide against Serbs“ durch das kroatische Ustaša-Regime, der für die Machthaber Priorität gegenüber der Vernichtung von Juden und Roma hatte (S. 60), während sich Thomas Earl Porter dem Massensterben sowjetischer Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft zuwendet. Letzterer muss sich allerdings fragen lassen, warum er von einem „Forgotten Genocide“ (S. 85) spricht. Die Anwendung des Genozid-Begriffs auf Kriegsgefangene ist durchaus erklärungsbedürftig und vergessen ist dieser Massenmord spätestens seit der breiten Rezeption von Timothy Snyders „Bloodlands“ auch nicht mehr.4

Die finalen drei Texte des Bandes nehmen dann die juristische Aufarbeitung von Massenmorden und Kriegsverbrechen in den Blick. Michael Bryant vergleicht den bundesdeutschen Umgang mit nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen mit der Herangehensweise amerikanischer Juristen und kommt zu dem Schluss, dass sich die unterschiedlichen Strategien aus politischen Machtüberlegungen im Zuge des Ost-West-Konflikts erklären lassen (S. 126). Wolfgang Form erforscht die schwierige Geschichte des „Cambodian Special Tribunal of Crimes against Humanity by the Khmer Rouge“, der nach vielen Komplikationen erst etwa 30 Jahre nach den Massenmorden die Arbeit aufnahm. Und William C. Peters hebt schließlich Defizite bei der Ahndung von US-Kriegsverbrechen seit My Lai hervor.

Ähnlich wie der Sammlung von Adam Jones fehlt dem Band insgesamt die thematische oder analytische Klammer. So können zwar die qualitativ weitgehend ansprechenden Aufsätze einzeln überzeugen, als Gesamtpaket aber fehlt es „Crimes of State“ an einer gemeinsamen Idee.

Fragt man mit Blick auf die drei vorgestellten Sammelbände, was die „new directions of genocide research“ sein sollten, so bleibt zu konstatieren, dass die immer stärkere Ausdehnung des Genozidbegriffs und damit des Forschungsfeldes wenig wünschenswert ist. Eindeutig am überzeugendsten ist der Band „Resisting Genocide“, dessen analytische Stärke ganz wesentlich von der engen Genoziddefinition und der damit eingeschränkten Fallauswahl abhängt. Die rasende Expansion der vergleichenden Genozidforschung droht, die analytische Kraft des Grundbegriffs zunehmend zu verwässern. Weniger ist hier in Zukunft mehr.

Anmerkungen:
1 Die Hinwendung zum Konzept des ‚kulturellen Genozids’ vertraten zuletzt etwa A. Dirk Moses und Jürgen Zimmerer. A. Dirk Moses, Empire, Colony, Genocide: Keywords and the Philosophy of History, in: Ders. (Hrsg.), Empire, Colony, and Subaltern Resistance in World History, New York/Oxford 2008, S. 3-54. Jürgen Zimmerer, Nationalsozialismus postcolonial. Plädoyer zur Globalisierung der deutschen Gewaltgeschichte, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57(2009), S. 529-548.
2 Boris Barth etwa beklagt die „grenzenlose Beliebigkeit“ der Verwendung des Genozid-Begriffs als wenig sinnvoll. Boris Barth, Rezension zu: Donald Bloxham/A. Dirk Moses (Hrsg.): The Oxford Handbook of Genocide Studies. Oxford 2010, 07.10.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=15106> (19.11.2012); Birthe Kundrus und Henning Strotbek bezweifeln selbst für die ‚kanonischen’ Fälle von Genozid, dass die Gemeinsamkeiten die Unterschiede überwiegen. Birthe Kundrus/Henning Strotbek, „Genozid“. Grenzen und Möglichkeiten eines Forschungsbegriffs – ein Literaturüberblick, in: Neue Politische Literatur 51(2006), S. 397-423.
3 Barth versteht diese drei Fälle als einzige eindeutige Genozide, siehe Boris Barth, Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte – Theorien – Kontroversen, München 2006.; Adam Jones bezeichnet diese in seinem Vorwort zum oben besprochenen Band zusammen mit Kambodscha und Jugoslawien als „‘canonical’ cases“ (S. XIX).
4 Tymothy Snyder, Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Weitere Informationen
Resisting Genocide
Sprache der Publikation
New Directions in Genocide Research
Sprache der Publikation
Crimes of State Past and Present
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension